Parallelwelten – Occupy Hamburg

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http://www.hafentext.de/administrator/index.php?option=com_media&folder=stories/DemoNennen wir ihn Ulf. Ulf trägt rosa Leggins und einen Damenslip. Ulf ist heute oder in den letzten Tagen dreißig geworden. Die Sonne scheint vom knackblauen Hamburger Himmel. Eine hartnäckige Tradition aus dem norddeutschen Umland hat es in den letzten Jahren zu einer zweifelhaften Beliebtheit gebracht. Eine Tradition die vorsieht, dass Männer und Frauen, die mit Dreißig noch nicht verheiratet sind, fegen müssen. Und das in zumeist lächerlicher Aufmachung. Vor dem Rathaus. Das Hamburger Rathaus ist natürlich am spektakulärsten. Ulf ist konsequent und fegt von seinen Lieben immer wieder ausgeschüttete Sägespäne. Seine Lieben stehen an einem provisorischen Stromkasten und trinken Korn. Mitten auf dem Rathauspatz. Ulf ist nicht alleine. Heute hat er hat Pech. Er wird umringt von Tausenden Hamburgern und Hamburgerinnen, die sich zur Solidaritätsveranstaltungder „Occupy Wallstreet“-Bewegung zusammen gefunden haben. Bürger die wütend sind. Ulf mutiert schnell zu einer Nebenrolle.

Über dreißig und freiwillig sind wir um 13:50 gespannt, was uns erwartet. Wir haben keine Ahnung. Das Thema ist abstrakt und schwer in Worte zu fassen. Für echte Demokratie, gegen eine Regierung, die sich für die Finanzwelt prostituiert. Klar. Wie viel anderen geht es genauso? Keine Ahnung. Wir erwarten zwischen 100 und 10.000 Demonstranten.Auf dem Weg zur Kundgebung kommt uns mit überhöhter Geschwindigkeit ein Porsche Cayenne mit Züricher Kennzeichen entgegen, der scheinbar noch schnell das Weite sucht. Passt irgendwie.

Irgendwo läuten Glocken, es ist zwei. Der Rathausmarkt ist bereits zu einem Drittel gefüllt. Circa zweitausend Demonstranten sollten es sein. Auf der einen Hälfte des Platzes haben Parteien die Gunst der Stunde genutzt und ihre Ständchen aufgebaut: Die Piraten,Die Linke, die Marxistisch Leninistische Partei Deutschlands. Die Grünen fehlen. Dafür sind Gewerkschaften wie Verdi und IG Metall vertreten.

Die andere Hälfte des Platzes füllt sich minütlich merkbar. Ich höre eine Frau jubeln, dass laut Polizei-Angaben jetzt 6.000 Demonstranten erreicht wurden. Nachdem der Mit-Veranstalter Attac dazu aufgerufen hat, Politische Abzeichen oder Partei-Werbung wieder einzurollen, eröffnet ein Vetreter der spanischen Bewegung mit einer leidenschaftlichen Botschaft an die Hamburgerinnen und Hamburger sowie an alle Occupy-Veranstaltungen weltweit. Die Rede wird ins Deutsche übersetzt. Es folgt das „offene Mikro“. Demonstrantinnen und Demonstranten haben die Möglichkeit, ihre persönliche Botschaft an die Menge loszuwerden, was der Kundgebung eine schöne individuelle Note gibt. Kämpferische Aufrufe lösen nüchterne Statements ab. Es sprechen Menschen. Spontan. Menschen, die 50 Jahre gearbeitet haben. Menschen aus Ägypten, die einen Bogen zum arabischen Frühling spannen. Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Beweggründen hier sind. Die Lautsprecher scheppern. Macht nix.

Die Akustik wird jedoch von drei Gestalten gestört, die mit lauten Boxen an der Rathauswand lehnen und die Demonstranten sowie Redner mit Musik beschallen. Auch wenn ich noch so stark nachdenke, ich kann keine Botschaft erkennen. Auf Hipster getrimmte FDP-Mitglieder?

Das Schöne an dieser Veranstaltung ist, dass nicht nur den Rednern gelauscht wird, oder dass stumpf Parolen gerufen werden. Es wird spontan diskutiert. Zufällig vorbei gekommene Wochenend-Shopper mit Karstadt –Tüten diskutieren mit Attac-Aktivisten. Auch die Kreativität kommt nicht zu kurz.Erwähnenswert ist die Initiative „Rent a Protest“ : Protest-Schilder zum Ausleihen und selber bemalen. Auch die VEB, die „Vereinigung Europäischer Bankiersgattinen“, hübsch zurechtgemacht, verdient Beachtung.

Die heutige Veranstaltung in Hamburg ist ein Anfang und macht Mut. Das ist positiv gemeint. Zwischen 4.000 und 6.000 Demonstranten waren heute dabei. Die Springer-Presse hat sich auf 2.000 geeinigt. Nun gut.

Es gibt jedoch noch einiges zu tun. Der Rand der Veranstaltung dient indes als gute Sozialstudie. Dort, wo Demonstranten gegen Neoliberalismus auf gut betuchte Konsumenten treffen, die sich im „Neuen Wall“ gerade neu eingekleidet haben. Ich positioniere mich vor der hiesigen „Cartier“-Filiale, von wo aus man einen freien Blick auf den Rathausmarkt und somit auf die Demonstration hat.Eine Sonnenbrille auf zwei Beinen, bepackt mit zwei cremefarbenden Luxus-Papiertütchen, die mit apricot-farbigen Schleifchen garniert sind:

„Oh nee, ne? Da steht ja alles voll! Was ist das denn?!“Ihr Begleiter: „Wahrscheinlich irgendetwas mit Atomkraft!“ Sie:“Ist das ein schlechtes Omen? Dann lass mal lieber in die Colonaden (wahrscheinlich zum weitershoppen) gehen.“

Eine Piloten-Jacke mit zerschlissener Designer-Jeans: „Ich demonstrier auch für mehr Geld. Hua, Hua, Hua.“

Solange seine Massimo Dutti Tütchen noch voll sind, ist ja alles gut.

Wie gesagt, es gibt einiges zu tun...

Gegen fünf Uhr leert sich der Rathausmarkt. Eine notwendige Veranstaltung. Hoffentlich nicht das letzte Mal. Es bleibt ein gutes Gefühl, ein paar Sägespäne und eine leere Kornflasche auf dem Stromkasten.

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