Pommes der Beständigkeit

Kindheit Doris Brandt lebt jetzt wieder in der Stadt ihrer Kindheit und erlebt einen Flashback nach dem anderen. Vom Nach-Hause-Kommen

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"Später gab es Pommes, schließlich war Montag"
"Später gab es Pommes, schließlich war Montag"

Matt Cardy/Gettyimages

Es gibt Erinnerungen, die kehren einfach zurück und sind wieder da, als ob sie niemals weg waren. Vergessene Eindrücke, die seit Jahrzehnten in den hintersten Gehirnwindungen vor sich hin gedöst haben, um dann plötzlich wieder präsent zu sein. Und nicht nur das, manchmal spielen sie einen längst vergessenen Film ab. Solche „Erinnerungsinitialzündungen“ können Gerüche, Menschen, Menschen mit Gerüchen, Lieder, Tapeten oder einfach Orte sein.

Allzweckreiniger und Sonnenmilch

So befand ich mich jüngst beim Badezimmer-Schrubben mit einem zugegebener Weise eher semi-ökologischen Allzweckreiniger wieder im Sommer 1977:

Elbsand zu heiß zum Entlangflitzen, giftgrünes Wassereis in einem Plastikschlauch (gesundheitlich ähnlich bedenklich wie die Brennstäbe des nahegelegenen Atomkraftwerks) und ein elend kratzender Badeanzug, den mir meine Großmutter gestrickt (!) hatte. Jener Sommer, in dem ein dicker Mann mit Kotletten und einem -selbst für die 1970er- gewagten Diamanten-Einteiler in Memphis verstarb. Als wir „Baader Meinhof“ spielten, weil wir für „Räuber und Gendarm“ viel zu lässig waren. Ein Sommer aus orange-farbigen Frottee, engen T-Shirts, die wahlweise „Stars and Stripes“, „Black Beauty“ oder Franz Beckenbauer zierten. Die kleine Butze am Elbstrand verkaufte Esspapier ohne Geschmack, gegen Abend kamen die selbsternannten Rocker mit Dosenbier, Lagerfeuer und Sonnenbrille. Aber warum denke ich gerade jetzt, also beim Badezimmer-Schrubben, an diesen Sommer? Weil sich die Duftnote meines Allzweckreinigers zu 100 % mit der Sonnenmilch anno 1977 deckt. Verrückt.

Der Sonnenmilch-Allzweckreiniger-Flashback ist nicht die einzige Nachhallerinnerung in der letzten Zeit geblieben. Nach über 25 Jahren Abstinenz lebe ich jetzt wieder in der Stadt meiner Kindheit. Manchmal fühle ich mich ein wenig wie in einem dieser 1980er „Zurück in die Zukunft – Filme“. Ich erkenne Kulisse und Landmarken, jedoch unter anderen Vorzeichen. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als dieser Stadt die Schablone meiner Kindheit überzustülpen.

Die Schablone der Kindheit

So etwa über die kleine Wiese am Waldrand mit kleinen verfallenen, bemoosten Bretter-Hüttchen, die kaum noch zu erkennen sind und heute mit Brennnesseln eine Einheit bilden. Das war das Grundstück des Imkers. Oder über die Bäckerei, Früher der Place-to-be bei Kännchen-Kaffee für die vorstädtische Hautevolee und Pelzmützen-bestückten-Kaffeekränzchen. Jetzt gibt es hier auch vegetarische Schnittchen, die langsam den Mettbrötchen die Auslagefläche wegnehmen und Latte to Go mit Kundenbindungskarte.

Hin und wieder decken sich Schablone und Wirklichkeit noch. Wie etwa im Wildgehege. Wildschweine und Eicheln riechen noch immer wie in den 1970ern. Oder am Hähnchengrill. Montags gab es Pommes für 1 DM. Die Hähnchen rotieren seit nunmehr vier Jahrzehnten im Schaufenster und montags ist Pommes-Tag für 1 EUR.

Ich bin keine „Früher-war-alles-besser“-Verfechterin, die von ihrer sagenhaften Kindheit erzählt. Keine Fahrradhelme, Anschnallgurte, etc. Hört man ja oft. Ich vermenge meine Kindheitserinnerungen mit den Kindheitserlebnissen unserer Tochter und mit neuen Erfahrungen, die auch irgendwann zu Erinnerungen werden und unser neues Leben ausmachen. Es ist schön und anrührend, meine Tochter auf einem Pfeiler sitzend und mit ihrer Freundin tuschelnd zu sehen. Diesen Pfeiler habe ich auch schon mit 1,20 m erklommen, getuschelt und versucht, Passanten unbrauchbare Dinge zu verticken. Eine Melange aus Nachhause-Kommen und neuem Leben. Sehr angenehm. Vor allen Dingen ein Leben außerhalb der pseudo-entspannten Herrendutt-Vollbart-Homogenität mit Anker-Motiv-Siebdruck unseres ehemaligen Hamburger Stadtteils, in dem eine Art Senioren-Cholera wie durch Magie alle Menschen jenseits der 60 eliminiert zu haben schien. Die ersten Tage nach unserem Umzug habe ich jeden Rentner gegrüßt. Warum? Weil mir die älteren Menschen einfach aufgefallen sind.

Friedhofsrechnen

Ein weiterer nahezu unveränderter Ort, der meine Kindheitserinnerungen in meiner neuen alten Umgebung sehr lebendig macht, ist ausgerechnet der städtische Friedhof. Der Seerosentümpel, unzählige Kaninchen unter den obligatorischen Rhododendren, die leicht abgesackten Schiefertreppen und das Holzschild mit dem duzenden Imperativ: „Hilf mit, die Würde dieser Stätte zu wahren.“ Zu ihren Lebzeiten war der Friedhof einer der Lieblingsorte meiner Großmutter. Als Tochter einer Baumschul-Dynastie im Schleswig-Holsteinischen liebte sie Pflanzen und Zahlen. Und hier gab es ja nun beides zuhauf.

Zu meinem Leidwesen war jeder Besuch eine umfangreiche mathematische Textaufgabe. "Wenn Trude Müller im Februar 1911 geboren und im Januar 1976 gestorben ist, wie alt ist sie geworden?“ Dennoch war ich gerne hier. Ich mochte die quietschenden Schwenkpumpen und die älteren Damen mit Wasserwelle in Kölnisch-Wasser-Wolke, die mir sonnenverklebte Zitronendrops in Zellophanpapier zusteckten. Seit neuestem gehe ich hin und wieder mit meiner Tochter hierher. Als ich ihr von meinen eigenwilligen Mathestunden erzählte, drehte sie sich zum Grabstein meiner Großeltern und rief unter die Erde, dass sie die gestellte Aufgabe leider noch nicht lösen könne, weil sie erst bis 20 rechne, aber dafür könne sie schon die Namen lesen. Mich hat diese Szene sehr berührt, bildet sie doch aus Erinnerung, Tod und Leben einen bildhaften Kreis. Später gab es Pommes, schließlich war Montag.

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