Tanzende Euter

Hamburg zu Fuß Seit Doris Brandt einen Kinderwagen durch Hamburg schiebt, hat sie ganz neue Perspektiven auf die Stadt. Diesmal vermisst sie Geschlechtsmerkmale aus Kautschuk. Nicht.

"Junge Frau!" Ich habe etwas gegen diese Anrede. Und zwar gewaltig. Ich hätte nichts dagegen, noch als jung bezeichnet zu werden. Auch bin ich gerne Frau. Es ist diese Wort-Kombination gepaart mit einem leicht kolonialistischen Ton gehüllt in Zigarrenqualm, die leichte Würge-Gefühle in mir hervorruft.

Ich stehe am Millerntorplatz, dem Anfang der Reeperbahn. Schräg über mir ein Schild, das den Besitz von Waffen auf der Reeperbahn verbietet. Neben mir hält ein weinrotes Schlachtschiff. Aus dem heruntergelassenen Beifahrerfenster blafft es durch eine Zigarrenqualm-Wolke: "Junge Frau! Das Restaurant Störtebeker!" Kein "Bitte", keine Grußformel. Da wäre eine Waffe endlich mal angebracht, und ich stehe unter einem Waffenverbotsschild. Früher gab das Schild auch bekannt, dass die Reeperbahn zu meiner eigenen Sicherheit videoüberwacht würde. Diesen Schilderteil ziert heute ein gekreuztes Klebeband mit der Aufschrift "Polizei Hamburg Asservate". Die junge Frau ist kein Unmensch und knallt der Zigarre ein paar Straßennamen um die Ohren.

Sündige Meile ohne Kautschuk

Der Kinderwagen läuft gut auf dem breiten Bürgersteig. Es gibt natürlich Dokumentationen, die sich mit der Trostlosigkeit von Hamburgs sündiger Meile beschäftigen, sobald das Tageslicht mehr oder weniger hereinbricht. Ich frage mich indes, ob ich es an diesem trüben Nachmittag wirklich mit Trostlosigkeit zu tun habe. Oder eher mit einem Dämmerzustand. Dem Dämmerzustand einer Straße, die heute Nachmittag ohne Kautschuk auskommt. Damit meine ich nicht die schwarzen Latex-Accessoires in den Schaufenster-Auslagen der einschlägigen Geschäfte. Die liegen natürlich nach wie vor zum Kauf bereit.

Ich meine Kautschuk auf dem Kopf oder vor der Brust. Kautschuk in Form von Kuheutern und Frauen-Brüsten sowie anderen Geschlechtsmerkmalen. Eine ganze Junggesellen- und Junggesellinnen-Abschiedsindustrie ist hier entstanden. Jeden Freitag und Samstag sieht man sie. Bierbike oder Bollerwagen, Kuheuter auf dem Kopf, Hasenkostüm aus Zuckerwatte-Stoff und Latex-Brüste vorm Bug, die Dolly Buster vor Neid erblassen lassen. Wochenende für Wochenende feiern diese Grüppchen ihre geselligen Partygags, sind stolz auf ihren kreativen Witz und ähneln sich dabei wie die beiden klobig-identischen Vattenfall-Showbühnen auf dem Spielbudenplatz.

Ich passiere einen modernen Gebäude-Komplex mit Steakhouse und Rock-Erlebnis-Restaurant, in dem viele Gitarren von bestimmt bekannten Menschen hängen. Eine bayerische Event-Gastronomie-Kette wirbt mit dem Wochenend-Programm in weiß-blau eingefasst: "Freitags Latin-Music". Wer nicht "Latin-Music"-affin ist, weiß spätestens jetzt, dass diese Musikrichtung etwas mit einem nackten, eingeölten und sonnengebräunten Frauenhintern zu tun haben muss, der als Erklärung neben der Ankündigung prangt.

Samstag lädt die bayerische Enklave zur ultimativen Hüttengaudi mit Schlager, Pop und Achtziger-Musik ein. Ich sehe es vor mir. Horden von Lambada tanzenden Junggesellen und Junggesellinnen in Penis-Puschen, die ein paar Türen weiter in einem Junggesellen-Abschieds-Equipment-Store käuflich zu erwerben sind. Wie viele Paare dieses eigenwilligen Schuhwerks aus wattiertem Polyester wohl bereits in Deutschlands Keller schlummern? Ich hoffe innenständig, dass sie schlummern…

Der Kinderwagen läuft leicht auf dem breiten Bürgersteig und umkurvt den Stern von Udo Lindenberg. Den einzigen Stern auf dem Bürgersteig. Ein eher übersichtlicher "Walk of Fame". Vor mir zwei Frauen in Röhren-Jeans. Ihre schmalen Keilabsätze aus Gummi biegen sich so gefährlich nach innen, dass jeder Orthopäde vor Schreck die Hände vor Augen und Mund schlagen würde. Es scheint eine Art Begehung der Partymeile zu sein. Eine Begehung auf biegsamen Absätzen für den letzten Spaßabend ihrer Freundin Laura. Etwas lustlos mustern sie die Auslagen der Spaß-Souvenirläden. Penis-Puschen mit gummierten Keilabsätzen sind eben noch nicht erfunden.

"Meet the Real-Estate-People"

Der FC St. Pauli hat einen neuen Merchandising-Shop auf der Reeperbahn eröffnet. Das Interieur gleicht zu 100 Prozent dem des Merchandising-Shops am nahegelegenem Millerntor: cooles Street-Design, Kopfsteinpflaster-Boden, Musik der Band Blur aus dem Boxen. Besorgt beobachte ich vier gummierte Keilabsätze, die mittlerweile auch über das Kopfsteinpflaster des Ladens turnen und warte auf den Knall eines Achillessehnen-Risses. Der bleibt aus. Es wird derweil besprochen, dass Laura, die Ehefrau in Spe, nicht auf billige lächerliche Verkleidungen abfahre. Man hat ein Einsehen und erwirbt T-Shirts mit der Aufschrift „Die Straße trägt St. Pauli“. Vor der Tür ein Obdachloser, der mit einem T-Shirt ohne Aufschrift auskommt.

Ich wechsle die Straßenseite, gehe zurück, passiere kleine Läden und Kneipen der sogenannten ESSO-Häuser, einen 1960er- Gebäudekomplex hinter der ESSO-"Kieztanke", denen der Abriss droht. In einigen Schaufenstern hängt ein Flyer: "Kein Abriss der ESSO-Häuser, Schluss mit weiteren Investorenfantasien auf St. Pauli". Am Ende das neue Wahrzeichen der Reeperbahn: schief, gläsern und noch im Bau. Die tanzenden Türme, zukünftiges Heim von – Überraschung – zusätzlicher Bürofläche und einem Hotel. Im Keller mit hydraulischen Türen soll ein Club wiedereröffnet werden, der am Anfang des Jahrtausends genau an dieser Stelle zu internationaler Berühmtheit gelangte, bevor er abgerissen wurde. Laminierte Schilder an Bauzäunen weisen auf eine Begegnungsveranstaltung hin: „Meet the Real-Estate-People“. Och, heute nicht.

Im Vorbeigehen stelle ich mir die tanzenden Türme in überdimensionalen Penis-Puschen vor. Die trägt man hier nämlich beim Tanzen. Vor mir ein Schlachtschiff in Weinrot. Ich erhöhe die Geschwindigkeit. Ist es das Zigarre rauchende Schlachtschiff von vorhin, das die "junge Frau" nach dem Weg fragte? Nein, zum Glück. Die junge Frau hatte nämlich rechts und links bei ihrer Wegbeschreibung verwechselt.

Immer dienstags wird Doris Brandt, Freitag-Autorin und Community-Mitglied, ihren Rundgang durch Hamburg fortsetzen und so ihr ganz eigenes Stadtbild zeichnen. Dass sie rechts und links verwechselt, kommt nur in Ausnahmefällen vor.

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