Teakholz-Homogenität

Nachruf Walter L. war das Gesicht des Viertels. Und Friseur.

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Wie authentisch und zugleich elegant das aussieht. Der alte Schriftzug "Friseur" und die dunkelbraun gebeizten Fensterrahmen. Bald wird hier eine weitere Lokalität entstehen, vor der sich überwiegend Touristen auf schweren, dunkelbraun gebeizten Holzbänken drängeln, um sich gegenseitig den Milchkaffee über die Schenkel zu gießen. Der sorgfältig herausgearbeitete "Friseur"-Schriftzug in der Hamburger Dietmar-Koel-Straße ist zwar alt und doch neu, war er über Dekaden hinter einer beigen Wellblechblende versteckt. Ironie des Schicksals ist, dass hier bis vor kurzem tatsächlich ein Friseur wohnte.

Von den braun gebeizten Fensterrahmen blätterte jüngst noch Farbe. Und hinter Nikotin-braunen Halbgardinen hing ein gerahmter Friseur-Meisterbrief an der Wand. Auf dem Bürgersteig parkte vor kurzem noch ein himmelblaues NSU-Kleinkraftrad, an dem Walter L. öfters herum schraubte. Dazu drehten sich Singles in 45 Umdrehungen pro Minute auf einem Kofferplattenspieler - Peter Kraus oder Ted Herold. Lief das Moped wieder, ging es durchs Hamburger Portugiesen-Viertel. Seine Groupies, die ihm kichernd ein „Moin Waldi“ zu riefen, waren jenseits der 75, trugen Wasserwelle in Veilchenblau und führten wahlweise kleine Hunde oder Rollator mit.

Zwar weder 75 noch Veilchenblau habe auch ich mich gefreut, wenn ich ihn sah. Er befand sich zumeist im Plausch, mal mit der Bäckereifachverkäuferin, mal mit dem „Hinz und Kunzt“-Verkäufer, mal mit dem Barbesitzer, mal mit dem Frauchen des kleinen, einäugigen Terriers. Irgendwann grüßte man sich. Hin- und wieder, wenn der FC St. Pauli verloren hatte, stand er schimpfend in der Supermarktschlange und steckte meiner Tochter einen Kirsch-Lolli zu. Walter L. war Herrenfriseur im Hamburger Portugiesen-Viertel.

Er selbst trug sein schütteres Haar mit Haarwasser nach hinten gekämmt. Zu einer Haartolle reichte es nicht mehr. Er war eine Type, die ein Viertel reicher machte, die sich lautstark über Gesellschaft, Nepp und Politik aufregte, die das Herz am rechten Fleck hatte. Über 40 Jahre schnitt er in dieser Straße Haare. Erst Seeleuten, dann Auto- und Elektronikhändlern und ab den 1990ern zunehmend Restaurant- und Café-Betreibern. Irgendwann gab er das Haareschneiden auf, wohnte nach dem Tod seiner Frau in seinem alten Salon. Vor einigen Monaten war er verschwunden.

Man munkelte, dass die Hausverwaltung andere Pläne hätte. In einer schäbigen Notunterkunft an der Reeperbahn solle er nun wohnen. Der Kiosk nebenan hat sich seitdem vergrößert, betreibt jetzt sogar eine WM-Merchandising-Abteilung in Schwarz-Rot-Gold. Der Kiosk-Besitzer wird zudem in naher Zukunft nebenan ein Café-Bistro aufmachen. Fehlen ja auch nur noch die schweren dunkelbraun gebeizten Bänke. Es schickt sich auch nicht, in gewerblichen Räumlichkeiten zu wohnen. Es sei denn, sie werden im selben Viertel als kostspieliges "Loft" vermietet.

Im neuen Fensterrahmen hängt ein unscheinbarer Zettel. Die Beisetzung von Walter L. findet am Freitag, den 30.05.14 statt. Darüber der Zettel einer Bewohnerin, die noch eine Mitfahrgelegenheit zur Beerdigung sucht. Walter L. war ein Gesicht des Viertels und steht auch nach seinem Tod für die Entwicklung von blättriger Farbe hin zur Teakholz-Homogenität. Tschüss Walter!

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