Tunnelblick

Hamburg zu Fuß Seit Doris Brandt einen Kinderwagen durch Hamburg schiebt, hat sie ganz neue Perspektiven auf die Stadt. Diesmal spaziert sie durch den Elbtunnel

Früher hatte ich jedes Mal ein wenig Bedenken bei Spaziergängen durch den alten Elbtunnel, der St. Pauli mit Steinwerder verbindet. Bedenken, dass der Fluss durchbricht. Heute Morgen stehe ich allein im Tunnel. Der Tunnel wird gerade saniert. Hin und wieder lugen Stücke der rotbraunen vernieteten Stahlträger durch die vereinzelt weggeschlagenen Kacheln. Es ist Ostermontag. Mir kommt das Tunnelgewölbe schmaler vor als die bisherigen Male. Eher wie ein U-Bahn Tunnel. Ein alter Metro-Tunnel in Paris. Das gedimmte Licht aus den verzinkten Milchglas-Lampen und die glasierten cremefarbigen Kacheln, die die Schummrigkeit reflektieren, tun ihr übriges. Ich habe jedoch keine Angst mehr vor Wassereinbrüchen. Heute Morgen würde es mich nicht wundern, käme mir eine ratternde, alte Metro entgegen, die ein wenig nach verbranntem Gummi riecht. Die Fahrspur des Tunnels, die mit hohen Kantsteinen vom Trottoir getrennt ist, hat sowieso eher die Breite eines Gleises und nicht die einer Straße. Die Anzahl der motorisierten Fahrzeuge, die 1912 - dem Fertigstellungsjahr des Tunnels -, so herumfuhren, war übersichtlich. Die meisten vierrädrigen Vehikel, die den Tunnel damals durchquerten, waren zudem Kutschen und keine VW Cross Tourans mit breiten Alu-Felgen.

Weder Kutschen, noch PKWs und auch keine Metro kommen entgegen. In regelmäßigen Abständen sind glasierte Reliefs in die gekachelte Tunnelwand eingelassen: Aale, Schweinsfische und Ratten blicken aus ihren nur angedeuteten Keramik-Augen ins Leere. Zwischen den Reliefs hin und wieder touristische Verewigungen mit schwarzem Edding: „Ich war hier, 23.03.12“ oder halb-verblichene Aufkleber.

Minestrone und Rotwein

Mein letzter Spaziergang durch den Elbtunnel liegt schon fast drei Jahre zurück. Damals wurde in der ehemaligen Zollstation am anderen Ende des Tunnels, Vis a Vis der Landungsbrücken - der italienische Film Fahrraddiebe gezeigt. Schon lange war die Zollstation keine Zollstation mehr, sondern fungierte vielmehr als Atelier-, Werkstatt- und Kulturhaus, in dem regelmäßig Veranstaltungen stattfanden. Auch eine Fahrradstation für Reparaturen und Fahrradverleih, insbesondere für Seemänner, war hier ansässig. An diesem Frühsommer-Abend schüttete es aus Kübeln. Wir saßen vor Filmbeginn auf der ehemaligen Rampe, die mit ausrangierten Kinositzen und sonstigem zusammen gewürfelten Sitzmobiliar in eine Art überdachte Terrasse umfunktioniert war, aßen Minestrone, tranken Rotwein aus weißen Plastikbechern und beobachteten die völlig durchnässten Fahrradfahrer, die sich in den Fahrstuhl des 426 Meter langen Tunnels retteten. Die Nutzung der alten Zollstation für kulturelle Zwecke wurde von der Hamburg Port Authority nur zeitlich begrenzt, so dass im Januar 2010 zum „Last Supper“ geladen wurde. Der Platz wurde für die Sanierung des Elbtunnels benötigt, um Bauutensilien lagern zu können.

An diesem Morgen regnet es auch. Ein kalter vor sich hin sprühender Vorfrühlings-Niederschlag, bei dem man automatisch die Schultern hochzieht. Das Areal der ehemaligen Zollstation ist eingezäunt und Lagerplatz für Paletten und Container von Entsorgungsfirmen. Der Bauzaun ist teilweise mit Planen verziert, die ein grobkörniges, brauntöniges Bild von Kaiser Wilhelm bei seinem Besuch des Tunnelbaus 1911 zeigen und das unter dem Logo „St. Pauli Elbtunnel verbindet einzigartig“. Der Weg zur kleinen Ausguck-Fläche ist frei. Das Panorama der Stadt breitet sich aus: Elbe, Landungsbrücken, Michel, Cap San Diego und am rechten Rand die Elbphilharmonie.

Let's entertain

Schaut man nicht dem Panorama entgegen, sondern nach rechts am Ufer entlang, erschließt sich ein anderes Bild. Ein Hang schwarzer Schlackensteine fällt in ein kleines elbbraunes Hafenbecken ab, das Heimat eines vor sich hin dümpelnden Küstenmotorschiffes ist. Dem angrenzenden Gelände eines Chemie-Konzerns ist ein Strand vorgelagert, der öfters als Kulisse der gängigen Vorabendserien aus Hamburg dient, wegen des Sands und des Panoramas, nicht wegen des Chemie-Konzerns. Stapft man in Nahaufnahme über den Strand, so findet man auch noch im September leere Silvester-Sektflaschen zwischen verrosteten Konservendosen. Das Neujahrsfeuerwerk ist von hier aus wirklich zu sehen. Im restlichen Jahr vertreten sich höchstens die Musical-Besucher des benachbarten König der Löwen –Zeltes die Füße auf eine Zigaretten-Länge. Das Musical im gelben Zelt, das ein wenig an eine gelbe, halb-eingegrabene Insektenlampe erinnert, hat bisher acht Millionen Besucher angezogen. Der Entertainment-Mogul und Betreiber des Musicals, die Stage-Entertainment GmbH, baut derzeit links neben dem Musical-Zelt ein weiteres Erfolgstheater. Zum Glück ist hier ausreichend Lagerplatz für Bauutensilien. Ansonsten würde das lukrative Musical-Zelt bestimmt abgerissen werden….

Auf dem Rückweg durch den Tunnel, werde ich von drei Franzosen überholt, die mich nach der nächsten Metro-Station fragen.

Immer dienstags setzt Doris Brandt, Freitag-Autorin und Community-Mitglied, ihren Rundgang durch Hamburg fort und zeichnet so ihr ganz eigenes Stadtbild. Dass sie rechts und links verwechselt, kommt nur in Ausnahmefällen vor

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