Wenn Dir St. Pauli auf den Geist fällt

Hamburg zu Fuß Seit Doris Brandt öfters zu Fuß in Hamburg unterwegs ist, gewinnt sie ganz neue Perspektiven auf die Stadt. Heute hält sie inne auf einem Asphalt-See.

Losverkäufer sprechen mit knödlig knarzender Stimme in ihre mit karierten Stofftaschentüchern überzogene Mikrophone und verkaufen spinatgrüne Polyester-Monster mit raschelnder Styropor-Füllung als Hauptgewinn. Fünfjährige versuchen erwartungsvoll, eben dieses Los aus dem ausrangierten Großhandels-Mayonnaise-Eimer zu fischen, dessen Metallbügel in der Schaustellerhand hin und her wiegt. Es gibt Dinge, die werden sich niemals ändern.

Tagsüber trostlos, bei Dunkelheit eine Lichterwelt, gegossen in Liebesapfel-Glasur und elterlichen Erklärungen, warum das Pony-Reiten in der Fünf-Quadratmeter-Arena nicht zu unterstützen ist. Wandte man sich ein wenig ab von den bunten Glühbirnen, so versuchte sich der riesige dunkle Bunker am Rand mit seinen vier Flak-Türmen von dem Trubel abzuheben, indem er die Lichter der Stadt einfach verschluckte. Später im Alter von 15 wurden die Schwerpunkte darauf gesetzt, am Auto-Scooter möglichst unbeteiligt unter den viel zu stark geschminkten Wimpern in Azurblau hervor zu lugen und heimlich aus der selbstgeschossenen Flasche Kadlinburger Erdbeersekt zu trinken.

Grauer Asphaltteppich mit Hamburg-Panorama

Es gibt Dinge, die rutschen im Erwachsenenalter in den Gegensatz. Eine Umkehrung, als wenn sich ein Farbbild in ein Negativ verwandelt. „Dreimal im Jahr findet mit dem Hamburger DOM das größte Volksfest des Nordens und das längste Volksfest Deutschlands statt“. So heißt es auf der offiziellen Homepage des traditionell großflächigen Rummels auf dem Heiligengeistfeld. Wir haben Oktober, ein Monat in dem kein Volksfest abgehalten wird, weder lang noch groß. Heute schätze ich auf St. Pauli genau diese Volksfest-Pausen, wenn diese furchtbar gewöhnliche, rechteckige, graue Asphaltdecke zum Vorschein kommt, kein DOM, kein kollektives Fußballgucken und auch kein kollektives Schlagerschunkeln. Einfach Fläche, die weder Baugrund noch Verkehrsknotenpunkt ist. Ein grauer Teppich, der eine distanzierte andere Sicht auf die Stadt offenlegt. Steht man in der Mitte dieses grauen Asphaltsees, so erstrecken sich Flaktürme, Fernsehturm, Gnadenkirche, Oberlandesgericht, der Michel, das Varieté Fliegende Bauten, die neuartigen Tanzenden Türme, die nichtssagenden Bürobauten der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft Bahn See und das abgrundtief hässliche Telekom-Gebäude in einer 360 Grad-Ansicht. Die neue Gegengerade des Millerntor-Stadions in Betongrau muss sich noch einfügen. Aber nun gut.

Es ist ruhig oder besser still an diesem Samstagvormittag. In gebührender Entfernung rauscht der Samstagvormittag-Verkehr stadteinwärts, irgendwo bubbern Bässe eines sogenannten Bierbikes, das gerne von Spaß- und Trinkwütigen Kleingruppen gemietet wird. Der Asphaltsee ist indes leer, dahinten ein Mann, ein Hund. Ich höre sogar das Rauschen der Bäume an der Glacis-Chaussee und denke an den zeitgleichen Trubel in der Nähe: Der Flohmarkt am Schlachthof, die Club-Mate-Klapprad-Armee im Schanzenviertel, die Umland-Shopper-Armee mit prallen Plastiktüten in der Mönckebergstraße.

Hamburger Kessel

In ihrer langen Geschichte hat die graue Fläche, die größer als die Binnenalster ist, einiges ertragen. Während im 17. Jahrhundert exerziert wurde, so konnten die zahlreichen Besucher der Panoramen, die hier im 19. Jahrhunderts aufgebaut wurden, gemalte Szenerien auf Rundgemälden betrachten. Der erste internationale Wettbewerb im Eisschnelllaufen fand hier statt, bis Ende des 19. Jahrhunderts, die Fahrgeschäfte und Buden des Hamburger Doms aufgebaut wurden. 1986 wurden hier im Rahmen der Anti-Atomkraft-Demonstrationen 800 Menschen bis zu 13 Stunden von Polizei-Absperrketten festgehalten. Der „Hamburger Kessel“ wurde auch von Teilen der Hamburger Polizei verurteilt. Dem Kessel des 21. Jahrhunderts setzten sich Zehntausende indes freiwillig aus. Alle zwei Jahre, wenn die Fifa eine Europa-Meisterschaft oder Weltmeisterschaft austrägt, wird die Public-Viewing Arena auf dem Heiligengeistfeld wegen Überfüllung geschlossen.

Oft werde ich aus dem nichts von Ohrwürmern, Werbe-Jingels oder anderen akustischen Grausamkeiten befallen, die sich bösartig in meinem Hirn festbeißen. Heute Vormittag ertönt indes in meinem „inneren Ohr“ „Wenn Dir St. Pauli auf den Geist fällt.“ von der Hamburger Band „Die Sterne“. Auch wenn das Wortspiel mehr als an den Haaren herbeigezogen ist, passt das Lied. Das „Geistfeld“ ist etwas für die Momente, wenn St. Pauli auf den Geist fällt. Aber nur in den volksfestfreien Monaten. Ganz leise höre ich sie schon in der Ferne, diese knarzend knödlige Stimme des Losverkäufers.

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