Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, das letzte Buch von Paul Ricur, stellt die Lesenden vor eine echte Aufgabe, ist das Buch doch lang und sein Inhalt gewichtig. Doch unzugänglich ist das Spätwerk des bedeutenden Philosophen deshalb nicht. Vielmehr betrachtet Ricur seine Gegenstände geduldig von allen Seiten und entfaltet so eine Gewinn bringende Komplexität. Er erarbeitet die Begriffe des Gedächtnisses, der Geschichte, des Vergessens sorgsam, grenzt sie ab, sucht Verbindungslinien und bringt derart Knotenpunkte hervor.
Wer sich auf einen der genannten Begriffe beruft, lernt hier zweierlei: Erstens, dass es sich um aktive Tätigkeiten handelt und zweitens, dass sie eine Verantwortung nach sich ziehen. Wer ein Gedächtnis anlegt, indem er/sie sich erinnert, bezeugt, archiviert, aufschreibt, untersucht, muss wissen, dass er/sie weniger eine vorgegebene Geschichte entdeckt, sondern sie macht. Denn im Gegensatz zu ihren Gegenstände finden Geschichte und Erinnerung im Hier und Jetzt statt. Sie sind Rekonstruktionen eines Vergangenen, das als solches nie anwesend ist und sein kann. Vergangenes kann nur als Abwesendes re-präsentiert, und dass heißt wieder-vergegenwärtigt werden. Der Anspruch auf Wahrheit, den sowohl das Gedächtnis als auch die Geschichte erheben, wird daher immer schon von ihren Gegenspielern heimgesucht: Der Einbildungskraft und der Fiktion.
Wie kommt für Ricur diese grundlegende Verunsicherung des Wahrheitsanspruches zustande? Es ist die Bildhaftigkeit der Erinnerung, aber auch des Geschichte-Erzählens, die keine endgültige Wahrheit zulässt. Die historische Wiedergabe und die Erinnerung können glaubwürdig sein, man kann ihnen zuerkennen, dass sie einem vergangenen Geschehen nahe kommen - eine letzte Gewissheit fehlt. So wird Erinnern oftmals als ein Prozess geschildert, der den Eindruck oder das Bild einer ursprünglichen Wahrnehmung aufsucht. Das Treueversprechen des Erinnerns liegt nun darin, dass die im Vorgang des Eindrückens oder Verwahrens erstellte Kopie des Ursprünglichen eine genaue Entsprechung ist. Von hier aus entwickelt sich jedoch die gesamte Problematik von Urbild und Abbild, die sich nicht aufheben lässt, kann das Gedächtnis doch getäuscht werden, die Erinnerung nicht getreu sein. Die Unterscheidung zwischen Phantasie und getreuer Wiedergabe steht auf unsicherem Grund, da beide auf der selben Kraft beruhen, Abwesendes visualisieren zu können.
Wenn beispielsweise die antike Gedächtniskunst ein eigenes Verfahren entwickelt, um memorieren zu können, wird sie zu einer Technik, die weniger Vergangenes wachruft als Gespeichertes wiedergibt. Getreu ihres Ursprungsmythos ordnet sie Bildern Orte zu: Wie jener Dichter Tullius, der die Toten einer Feier identifizieren konnte, weil er sich an die Sitzordnung vor dem Unglück erinnerte.
Doch diese Gedächtniskunst, die bis ins Mittelalter von großer Bedeutung war, beruft sich allein auf die Perfektionierung des Erinnerungsvorgangs - und leidet so, wie Ricur ausführt, an einem "Mangel an Kritik". Mit Freud gesprochen, wiederholt das künstliche Gedächtnis, ohne zu erinnern, es agiert sein Wissen, ohne sich der mühevollen Rekonstruktion zu unterziehen, die der Erinnerungsarbeit obliegt. Das Erinnern wird erst dann kritisch, wenn es um die eigene Fehlbarkeit, vergesslich zu sein, weiß.
Auch die Geschichte kann sich nicht vom Bild lösen. Selbst die Schriftlichkeit der Darlegung veräußert sich im Bild, wie Ricur mit Louis Martin zeigt: "Die Geschichte des Königs in einer Erzählung zu erzählen, heißt sie sehen zu lassen. Die Geschichte des König in einer Ikone zu zeigen, heißt sie erzählen zu lassen." Das Bild erzählt, während die Erzählung zeigt, sie erzielen ihren Effekt in der Darstellungsform der jeweils anderen. Geschichte muss so Regeln folgen, die außerhalb ihrer selbst zu finden sind: Sie unterliegt den Regeln der Schriftlichkeit und der Rhetorik, den Zeitvorstellungen, die ihrem kulturellen Kontext eigen sind, und nicht zuletzt den Regeln des Erzählens.
Zudem begreift Ricur die historiographische Operation als einen Dreischritt, der die Archivierung, das Erklären/Verstehen sowie die Repräsentation von Geschichte umfasst. In jedem dieser Teilbereiche lässt sich jedoch intentionales Handeln ausmachen. Ohne den fragenden Eingriff von Historikern wären die Fakten stumm. Sie werden erst durch die Fragen der Forschenden hervorgebracht, sind daher nicht das Archiv, sondern dessen Interpretation. Ebenso sind das Verstehen und Erklären eine Aktion der Forschenden, deren Wahrheitsgehalt durch dasjenige, was zu einer bestimmten Zeit verstanden werden kann, eingeschränkt ist. Und nicht zuletzt ist die Erzählung selbst eine Konstruktion, die disparate Elemente durch den Handlungsbogen und den zeitlichen Ablauf zueinander bringt. Folglich ist die Geschichte immer durch die Gegenwart der Forschenden beeinflusst, die bestimmt, was erzählt wird und erzählt werden kann.
Trotz dieser Anfechtungen, denen Erinnern und Geschichte ausgesetzt sind, wird Ricur nicht müde, uns darauf hinzuweisen, dass wir in Bezug auf Vergangenes auf beide angewiesen sind: "Wir haben nichts Besseres als das Gedächtnis, um kundzutun, dass etwas stattgefunden, sich ereignet hat oder geschehen ist ...". Geschichte wiederum kann das Gedächtnis prüfen, weil sie als Sinnarchitektur, die Ereignisse, Strukturen, Zusammenhänge erstellt, über es hinausgeht. Die Geschichte kann das Gedächtnis "erweitern, vervollständigen, korrigieren, sogar zurückweisen (...)". Dadurch kann es "Zeugnissen, die in Verdacht geraten sind, andere entgegenhalten, die als vertrauenswürdiger gelten." Die Geschichte kann das Gedächtnis zwar bestreiten, aber es kann seinen Impuls, an den Glauben zu appellieren, den Wunsch, Gehör zu finden, nicht aufheben. Insofern sind beide in ihrer Suche nach Wahrhaftigkeit unstillbar aufeinander bezogen.
Wie passt nun das Vergessen, mit dem Ricurs Abhandlung schließt, in diese Konstellation hinein? Hier vollzieht sich die überraschendste Wendung innerhalb seiner Argumentation. Denn jenseits der Unterlassung, des Versäumnisses und der Blindheit ist das Vergessen nicht einfach der Feind des Gedächtnisses und der Geschichte, sondern auch die Bedingung für das Überschreiten des Gewesenen und des Seienden im Akt des Verzeihens. Das Verzeihen lässt das Gedächtnis zur Ruhe kommen, indem es den Täter/die Täterin von der Tat insofern entbindet, indem es ihn oder sie als Vermögende/n erkennt: "Du bist besser als deine Taten". Insofern kann das Vergessen die Arbeit des Entbindens sein, die es ermöglicht, die Zukunft zu erwarten und der Gegenwart aufmerksam gegenüber zu stehen. Als verwahrendes Vergessen löst es das Gedächtnis aus der Klammer der Vergangenheit, um die Selbstvergessenheit zu ermöglichen. Es ist das Bild dieser selbstlosen Aufmerksamkeit, die dem Vergessen eine positive Kehrseite gibt. Nicht auslöschend, sondern verwahrend ermöglicht es den Augenblick der Sorglosigkeit.
Paul Ricur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. Wilhelm Fink Verlag, München 2004, 783 S., 78 EUR
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