Hier sind alle Fische taub

Alltag Angeln könnte ein Grundstein der deutsch-russischen Freundschaft in Berlin werden. Wenn da nicht die Regeln wären

Als Mädchen hat sie am Amur gesessen und geangelt. Der Amur ist grün und breit und strömt durch den Fernen Osten Russlands. Das Mädchen hat Lachse aus dem Amur gezogen und Hechte. Und wusste: gleich da hinten, da liegt China. Jetzt ist das Mädchen erwachsen und angelt in Berlin. An diesem trüben Samstagmorgen steht Alina Schmidt mit drei Männern im Treptower Park an der Spree. Sie hängen ihre Angeln ins dunkle Wasser, am anderen Ufer dröhnt ein Kraftwerk. "In Berlin sind alle Fische taub", sagt der eine Mann. Die vier sprechen russisch.

Jeder zweite Russe kommt mit einer Angel in der Hand auf die Welt, sagen sie im Klub Schalasch. Der Klub Schalasch befindet sich im Berliner Stadtteil Marzahn und unterstützt Menschen, die aus Russland nach Berlin gezogen sind. Hier können die Migranten Deutsch lernen oder Fahrräder leihen oder Borschtsch essen. Oder angeln. Vor drei Jahren hat der Klub Schalasch den Anglerverein Springpfuhl für russische Migranten gegründet. Angeln, das ist ein Stück altes Leben, ein Stück Russland. In einem deutschen Verein Mitglied zu sein, mit Vorstand und Mitgliedsbeitrag und Angelkarte, das ist ein Stück neues Leben, ein Stück Deutschland. So erklären die Mitarbeiter im Klub Schalasch ihren Anglerverein. Das Wort "Integration" verwendet hier niemand.

In Marzahn leben viele russische Migranten, vor allem russlanddeutsche Aussiedler. In manchem Marzahner Hochhaus wohnt ein ganzes russisches Dorf, übereinander gestapelt. Inmitten all der hohen Häuser auf einer grünen, geschwungenen Wiese steht der Klub Schalasch, ein niedriges auberginen-farbenes Haus aus Holz - "Schalasch" heißt Laubhütte. Ein Blechdach, durch das die Schrauben ins Innere staken, dünne Wände und windschiefe Toiletten. Die Tür zum Büro ist immer offen. Hier gibt es einen Tischtennisschläger für Sergej, einen ausgefüllten Antrag auf Sozialhilfe für Anna und einen guten Rat für den Anglerfreund. Eigentlich ist das Schalasch ein interkultureller Klub für Russen und Deutsche. Doch außer dem Pressesprecher Ulrich Backmann trifft man im Schalasch keine Deutschen - die integrieren sich offenbar nicht so gern.

Ein Russlanddeutscher erzählt folgende Geschichte: Sein Freund Peter spricht kaum ein deutsches Wort und sitzt stumm fischend an deutschen Gewässern. Eines Tages hat er eine Glückssträhne: Viele kleinere Fische und sogar einen Karpfen zieht er aus einem Teich. Da kommt ein freundlicher Deutscher vorbei und fragt, ob er ein Foto von Peter und seinem tollen Fang machen dürfe - er möge sich doch bitte vor dieses Schild dort stellen. Und schön den Karpfen hochhalten, danke sehr! Eine Woche später bekommt Peter einen Brief mit dem Foto und einer Vorladung vor Gericht. Auf dem Schild stand: "Angeln verboten", und der freundliche Fotograf war der Besitzer der Fischereirechte an dem Teich. Peter wird wegen Fischwilderei zu einer Geldstrafe verurteilt.

In Russland gibt es wenige Regeln, wie und wo man angeln darf - in Deutschland gibt es Hunderte. Viele russische Migranten kennen die Berliner Angelvorschriften nicht und erleben allerhand Verdrießliches. "Da kommt ein Opa aus Kasachstan nach Berlin und setzt sich hin zum Angeln - und schon steht ein Polizist hinter ihm", sagt Anatoli Kelbert, der Vorsitzende des Anglervereins. Anatoli stammt aus Dagestan, hat Germanistik studiert und in der DDR als Dolmetscher gearbeitet. Beim Deutschen Anglerverband ist er bekannt als "ein großer Angler vor dem Herrn". Seit drei Jahren arbeitet Anatoli im Klub Schalasch, er hat den Anglerverein Springpfuhl gegründet. In der Vergangenheit gab es viel Krawall zwischen Deutschen und Russen um die Angelei: Manch Deutscher rannte los und rief die Polizei, wenn er sah, was sein russischsprachiger Kollege da am Gewässer so trieb. Anatoli möchte, dass seine Landsleute die Angelvorschriften verstehen und die Deutschen begreifen, dass es nur ein schwacher Trost im Leben ist zu teilen in "wir Deutsche" und "die Russen".

Den Fernen Osten und den Amur hat Alina Schmidt vor vier Jahren verlassen. Sie hatte sich in einen Herrn Schmidt aus Deutschland verliebt, der in ihrer russischen Heimatstadt aufgetaucht war. Sie hat Herrn Schmidt geheiratet und lebt nun mit ihm in Kreuzberg. Im Anglerverein Springpfuhl ist sie eine von zwei Frauen - unter 258 Männern.

Alina angelt, weil das alle Frauen in ihrer Familie tun, ihre Mutter, ihre Oma. Sie angelt, weil sie sich gar nicht mehr daran erinnern kann, wann sie in ihrem Leben nicht geangelt hat. Und sie angelt, weil man dabei still und ruhig werden kann. "Ist doch schön hier, die ganze Stadt schläft noch", sagt sie. "Aber die Fische schlafen anscheinend auch", fügt sie mit einem missbilligenden Blick auf die stumme Angel hinzu.

Alina hat ein Herz-Gesicht, in ihrem Haar steckt eine Sonnenbrille von Armani. Sie hat eine kleine schwarze Handtasche mitgebracht, aus der eine Bürste und ein Lockenwickler herausschauen, und eine kleine Angel, die man zu einem kurzen Stock zusammenschieben kann. Fröhlich rauchend steht sie am Ufer und betrachtet die Angeln der Männer - sechs Meter lange, dicke Geräte, die in den grauen Berliner Himmel ragen. "Ja, die lange Rute, das ist eher was für die Jungs." Aber die lange Angel nützt heute auch nichts, kein Fisch will beißen.

Der russische Anglerverein hat nur einen Schreibtisch. Er steht in einer Ecke des Klub Schalasch. Zwei gelbliche Computer und abgewetzte Stühle mit türkisfarbenem Bezug. Aus der Wand stiert ein halber Zander mit aufgerissenem Schlund. Mehrmals am Tag tauchen hier Männer auf wie aus dem Nichts und wollen mit Anatoli sprechen. Ein schmaler Mann mit dunklen Augen will wissen, auf welchem See es erlaubt sei, vom Boot aus zu angeln. Ein anderer möchte einen Blinker - eine metallene Fischattrappe, mit der man Raubfische fängt. Ein kurzes Gespräch, ein wenig russisches Anglerlatein - und schon tauchen die Männer wieder ab, an irgendein Gewässer in Berlin.

Am Anfang war es schwer, Migranten für den Verein zu gewinnen. Sie von der frohen Botschaft zu überzeugen: Es macht mehr Spaß, gemeinsam zu fachsimpeln als allein. Es ist besser, die Vorschriften zu kennen als nur zu erahnen. Anatoli sprach Russen beim Angeln an, warb, wurde häufig abgewiesen. Viele Migranten hatten bereits so manch Seltsames erlebt in ihrer neuen Heimat und waren misstrauisch. "Da kommt so ein Vertreter und verkauft ihnen ein Kochtopf-Set für 2.000 Euro - deshalb sind viele Russlanddeutsche heute ein wenig skeptisch, wenn sie jemand anspricht." Anatoli grinst. Er ist ein hochgewachsener, ein schöner Mann. Der über Hemingway spricht und über Panzerkreuzer Potemkin und lateinische Sprichworte zitiert. Die missliche Lage mancher Landsleute und die unverständigen Fragen von Deutschen hält er sich mit einem ironischen Lächeln vom Leib.

Der Berliner in Ballonseide ist erfreut. Hier sorgen Menschen für Ordnung. "Ja, hier sieht´s immer aus!" lärmt der Spaziergänger Anatoli und den anderen Männern entgegen. Die gehen mit blauen Abfallsäcken rund um den Teich und sammeln Müll ein. Der Anglerverein Springpfuhl hat eine Patenschaft für den kleinen Baggersee übernommen. Alle drei Monate müssen sie das Ufer von Müll befreien. Sieben Angler sind heute erschienen. Sie unterhalten sich bei der Arbeit, russische Sätze fliegen zwischen ihnen hin und her, mittendrin ein deutsches Wort wie "Grünflächenamt" oder "Anglertreff der neuen Bundesländer". So dringt Deutschland langsam in ihre Sprache ein.

Die meisten Männer sind bei jeder Teichreinigung dabei, "Stammkunden", sagt einer. Für die Arbeit bekommen sie fünf Euro und senken so ihren Mitgliedsbeitrag im Anglerverein. Viele von ihnen haben keine Arbeit und wenig Geld. Für russische Migranten ist es oft nicht leicht, Arbeit zu finden - das Wissen, die Erfahrung aus Russland zählen nicht viel in Deutschland. Und so kommen die Russlanddeutschen ins Gelobte Land ihrer Vorfahren und sitzen arbeitslos in einer Plattenbox in Marzahn. Sind hier die Russen, wo sie dort gerade noch die Deutschen waren. Und bekommen Heimweh. Anatoli sagt: "Wenn du am Wasser sitzt, ist es egal, wo du gerade bist." Manche gehen auch nachts ans Ufer, wenn sie nicht schlafen können, und werfen ihre Angel aus. Wenn sie gemeinsam am Wasser sitzen, sprechen sie oft über das Angeln in der Heimat. "Ja, die Fische, die sie in der Heimat gefangen haben, waren natürlich immer größer und schmackhafter", sagt Anatoli. Alina meint: "Im Amur gibt es mehr Fische als in ganz Deutschland zusammen."

Vladimir Kovalov ist "der Akademiker unter den Anglern" im Anglerverein Springpfuhl. Vladimir hat russischsprachige Anglermagazine zu Hause, auf denen Fische mit roten Blumen im Mund abgebildet sind. Auf der Toilette ein Angelführer Rügen, "Küste und Bodden". Mit Vladimir lässt sich trefflich diskutieren über das Spinnangeln und die richtige Schnur und den richtigen Köder und den richtigen Schwung zur richtigen Zeit. Vladimir ist braungebrannt und hat stattliche Oberarme. Für ihn ist Angeln Sport. Wenn er angelt, angelt er Raubfische. Immer wieder wirft er die Schnur aus - alle paar Sekunden. Er kämpft mit dem Fisch, besiegt ihn, küsst ihn und wirft ihn wieder ins Wasser. Am Wasser stehen und nach der russischen Heimat jammern - das ist für ihn ein schlechter Witz.

Vor sieben Jahren sind Vladimir und seine Frau Ludmilla nach Deutschland gezogen, Ludmillas Großmutter war Deutsche. Ludmilla hat eine Stelle in einem Hotel am Kudamm, Vladimir arbeitet als Technologieberater bei einer Berliner Firma. Sie spielen zusammen Volleyball und haben viele deutsche Freunde. Ein Schlauchboot mit Motor. Eine Wohnung mit Laminat-Fußboden. Sie haben es geschafft in Deutschland.

In den ersten Monaten in Berlin hat Vladimir auf dem Bau gearbeitet, für 14 Mark die Stunde. Er sagt: "Wenn du in ein neues Land gehst, dann musst du Scheiße fressen. Du kannst sie schnell fressen, dann geht es schneller. Du kannst sie langsamer fressen, dann dauert es länger. Aber der Geschmack und die Menge der Scheiße - die ändern sich nicht." Vladimir glaubt, dass es sich lohnen würde, in Berlin ein Angebot für russischsprachige Angler aufzubauen, "ein gutes Business". Magazine für russischsprachige Angler, Beratung in Angler- und Rechtsfragen, Reisen in Kleinbussen.

"Wir angeln uns Freunde" - das war der Vorsatz des Anglervereins Springpfuhl bei seiner Gründung. Und manchmal gelingt das auch. So nahmen vier Springpfuhl-Angler im vergangenen Sommer am Hochseeangeln auf der Ostsee teil, mit Anglern aus ganz Deutschland. Mann an Mann hingen sie über der Reling, man kam sich näher. Fachchinesisch auf deutsch und russisch. Und nun haben die Marzahner Angler mit den Kollegen von einem Verein aus Köpenick ausgemacht: Wir treffen uns wieder, natürlich zum Angeln.

Einen Sinn für ein geregeltes deutsches Vereinsleben haben die Mitglieder des AV Springpfuhl indes noch nicht entwickelt. Vereinssitzung, Jahresbericht, Vorstandswahlen? Kein Interesse. Zu einem Ball mit Ehefrauen musste Anatoli seine Angler geradezu nötigen - "sie kennen das nicht, mit ihren Frauen auszugehen". Die einsamsten Frauen, das sind die Anglerfrauen. Die allein zu Hause sitzen, während ihre Männer in der Großstadt Fische jagen.

Anatoli möchte gern einen regelmäßigen Anglertreff im Klub Schalasch einrichten, jeden zweiten und vierten Freitag im Monat - "Erfahrungsausrausch" steht getippfehlert im Prospekt. Er hofft, dass sein Verein ein normaler deutscher Verein wird mit normalen russischen Erinnerungen.


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