Eine morbide Inselgesellschaft wird zum Symbol des ganzen Landes. "Auf Solowski sieht man Russland wie man das Meer in einem Wassertropfen sieht", meint Mariusz Wilk und verdichtet die Spuren der Mönche, der Tschekisten, der Militärs und der orgiastischen Trunkenbolde zu einem Textgewebe voller Bilder, Gerüche und Geräusche. Zwischen wunderbar klarer nördlicher Landschaft und apokalyptischem Abfallgestank bleibt alles möglich. Gelassenheit und Sorgfalt, die aus einem gleich zu Beginn zitierten Rezept zur Herstellung von Tinte sprechen, beherrschen diese Prosa ganz und gar.
Die den Solowezker Mönchen aus dem 16. Jahrhundert nachempfundene Geduld ist einer der Vorzüge des Buches, das zur Kontemplation einlädt über die Natur des Nordens, die russische Geschichte und über historische und zwischenmenschliche Ereignisse. Das gelassene Schauen und Horchen auf die Gegenwart wird von essayistischen Polemiken voller gedanklicher Schärfe unterwandert. Die langsame Rede in der Tradition Tolstois und puschkinsche Prägnanz: "kurz und schallend wie eine Ohrfeige" gehen eine glückliche Verbindung ein. Historische Erkundungen, lakonische Beobachtungen des gegenwärtigen alltäglichen Lebens und philosophische Betrachtungen sind ineinander verschränkt und dennoch so übersichtlich in kurze Kapitel geordnet, dass das Lesen zur Lust wird.
Mariusz Wilks Schwarzes Eis ist ein spannungsreiches Gebilde, eine Mischform aus Reportage, Essay und Tagebuch mit hervorragenden epischen Passagen. "Wie auf einem Beobachtungsturm" hat sich der polnische Autor, 1955 in Breslau geboren, früher einmal Sprecher der Gwerkschaft Solidarnosc, 1993 auf dem Solowski-Archipel im südlichen Teil des Weissen Meers eingerichtet. Was er zwischen 1996 und 1998 mit kühlem Blick beobachtet, fügt er zu einem Prosatext, in dem die Figuren ebenso dokumentarisch exakt wie poetisch irreal erscheinen. Sind die absonderlichsten Menschen erst beschrieben, lässt sie der Autor mit Witz und Ironie aus dem Blickfeld verschwinden, um den Faden ihrer Lebensgeschichte an anderer Stelle erneut weiterzuspinnen als schriebe er einen Roman. Das ist ein souveränes Spiel mit ständig wechselnden Blickwinkeln, Perspektiven und Entfernungen: vom Beobachtungsturm zum Satellitenbild und von da zur Bank vor dem Haus an der "Bucht der Glückseligkeit". Mit dem ruhigen, aber keineswegs beschaulichen Blick von der Sitzbank aus beginnen und enden die "Solowezker Aufzeichnungen".
Die erhabene Stille und die Einsamkeit des Ortes wirken wie Grundmotive des Buches. Sie geben den Kontrasten und dissonanten Stimmen einen Rahmen. Von da aus betrachtet der Autor Solowski "wie ein neuer Vermeer", wie er es nennt. Ist´s Anmaßung oder Ironie? Tatsächlich lebt Wilks Buch vor allem von der Intensität der Bilder, den genauen Konturen der Dinge, die er sieht, und von den sich verändernden Farben: "Die Solowezker Inseln erinnern an einen wertvollen Stein. Wie lange du ihn auch betrachtest, er verändert sich ständig, bricht das Licht, lässt seinen Schliff spielen. Es genügt, ein wenig an der Fabel zu drehen, die Akzente zu ändern, die Gedankengänge neu zu ordnen, und gleich nimmt das Ganze eine neue Bedeutung an, schimmert in anderen Farben." Die Bilder, die Wilk beim Fabeldrehen malt, könnten heißen: Sonnenaufgang hinter dem Kloster mit Osterprozession, Wiederkehr des Meeres im Frühjahr, Schatten des Nordens, Torfmoor, Fischfang in der Kiefernbucht, Farbspiele der Polarnacht, Spaziergang auf dem alten Klosterweg oder Spuren des SLON.
Spätestens da weicht die Beschaulichkeit dem Entsetzen vor dem SLON, dem Vorgänger des Menschen fressenden GULAG. Der Autor enthält sich auch hier jeglichen Kommentars. Sprachloses Grauen spricht aus den wie beiläufig entdeckten Gegenständen aus dem Verbannungslager, die der Verfasser hier und da ins Licht hält. Nicht nur die Höllenorte und die auf den Inseln allgegenwärtigen Überreste des Strafgefangenenlagers verhindern das Idyllische in Wilks Bildern. Sie zeigen am genauen Detail: an Architektur, Landschaft, Gebrauchsgegenständen, Lebensweise und Sprache historische Zusammenhänge. Wilks Bilder sind Gemälde mit den Spuren geschichtlicher Prozesse: wie die Russisch-Orthodoxen die heidnischen Stämme an der nördlichen Grenze des russischen Imperiums kolonialisierten, wie dann die Revolution die Hinterlassenschaft der Religion auszumerzen suchte, das Imperium schließlich den SLON errichtete und wie nun ein neues Chaos die Spuren all dessen auf groteske Weise neu vermischt. Das Leben als Schutt: morsch, durchlöchert, schief, unordentlich und planlos. Träumer und Narren, Entgleiste, Mystiker, Schmarotzer und Flüchtlinge bevölkern die Insel. Allesamt sind sie Menschen am äußersten Rand wie die Dichterin Julka, die sich - 25-jährig - im Wald erhängt oder die Zeitungsredakteurin Melniza, die sich schließlich aus dem Fenster zu Tode stürzt. In Beerdigungsritualen und in der Banja, einer spezifischen Variante der Sauna, spürt der Autor der russischen Seele nach. Im Detail erfasst er das Ganze.
Nicht nur das "Russland des äußeren Scheins" will er erfahren, sondern auch die heilige Rus. Und so geht er mit den Muschiks zum Fischfang und mit den Bitschis in die Wälder, um die russische Wirklichkeit von innen heraus zu begreifen. Und weil er sie dabei ganz erfassen will, lässt sich auch einiges nicht ins Polnische oder Deutsche übersetzten, weil es dafür keine Entsprechung gibt. Trotz der kongenialen Übertragung von Martin Pollak ist deshalb das Glossar am Ende reichhaltig und führt fabulierfreudig tief in die Eigenarten der russischen Gefühls- und Denkwelt. Der Denker Wilk setzt sich in schneidenden Polemiken mit Vorgedachtem in Literatur, Geschichtsschreibung, Reportage und Reiseberichten auseinander. Seine Bezugsquellen sind vielfältig: von Dostojewski bis zu Milosz, von den Chroniken der Mönche aus dem 15. Jahrhundert über den Gesandten des Zaren Joseph de Maistre bis zu den Reisetagebüchern der englischen Seefahrer Willoughbay und Chancellor, die im 16. Jahrhundert zum Polarkreis gelangten. Zum Kap Kanin, wo das Eismeer nicht fern ist, unternimmt auch Wilk eine Reise, immer balancierend zwischen den alten Mythen und dem Elend des sich auflösenden sozialen Gefüges in der Gegenwart.
Gelegentlich schlüpft der Autor in die Rolle des Mönches und verfällt der Litanei bis zum Exzess. Die bloße Aufzählung der Prominenten etwa, die im Vorjahr nach Solowski kamen, entbehrt nicht der Komik. Niemand käme auf die Idee, vorjährige prominente Besucher der Stadt Paris in einer Art Namedropping aneinander zu reihen, um die andauernde Bedeutung der Stadt zu beweisen. Paris ist nicht zuletzt ein wichtiger Bezugspunkt des Verfassers. Dort befindet sich Redaktion der polnischen Zeitschrift Kultura, für die Wilk als Korrespondent arbeitet. Auch dorthin reist er für ein paar Wochen, um schließlich "nach Hause", ans Solowezker Kap der Heringe zurückzukehren. Die Insel, meint er einmal, sei noch heute ein Gefängnis, weil die meisten nicht die Mittel hätten, sich eine Fahrkarte zu kaufen. Der Autor aber begibt sich gern in den Alltag dieser Provinz, ganz im Sinne seiner Holzkreuze schnitzenden Mönchsfigur Brat und dessen Theorie von der Zelle als schöpferischem Prinzip.
Mariusz Wilk: Schwarzes Eis. Mein Russland. Aus dem Polnischen von Martin Pollak. Zsolnay, Wien 2003. 287 S., 21,50 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.