Die Poesie ist für Eugenijus Alisanka ein lebendiges Wesen, das sich gegen Mordversuche wehren muss. Zu den Methoden sie zu vernichten, gehört, meint der litauische Poet, sie ins Schloss eines Philosophenkönigs zu locken, sie für die Seele aller Dinge zu halten oder geschlossen aufzubewahren, ganz zu schweigen von der Zerstörung durch physische Zwangsarbeit, Alkoholexzesse oder das Allerschlimmste: sie dem "Drachen der Kritik" auszusetzen.
Bei diesem metaphorischen Reizwort Nummer Eins sieht man Gerhard Falkner und Björn Kuhligk, die Herausgeber des viel gescholtenen Bandes Lyrik von Jetzt heftig nicken. "Sechzehn Arten die Poesie zu töten" wirft ihr litauischer Bruder im Geiste in die Debatte. Sie lesen sich wie ein poetisches Programm, das ihr Verfasser, allen aufdringlichen Manifesten abhold, ganz beiläufig im dritten Kapitel seines neuen Lyrikbandes nennt.
Im Abschnitt "null grad celsius" weht ein rauer Wind für die Poesie, und der Dichter kann dem nur die eigene "coolness" entgegensetzen. Als "relaxed" beschreibt der Übersetzer und Nachdichter Klaus Berthel den Grundgestus der Verse in Anlehnung an amerikalastige Modeworte der jugendlichen Szene. Obwohl erst dieser vierte Band des Lyrikers und Essayisten Eugenijus Alisanka endlich auch in deutscher Sprache erscheint, ist sein Verfasser bei uns kein Unbekannter. Internetnutzer raunen rätselhafte Verse aus dem Band City of Ash, der im Jahr 2000 in Evanston, Illinois, veröffentlicht wurde. In der lyrikline der Berliner LiteraturWerkstatt ist der Dichter, der seit 2003 auch als Chefredakteur der Literaturzeitschrift Vilnius Review amtiert, schon lange präsent, desgleichen in der FAZ und in deutschen Literaturzeitschriften.
Jüngst konnte man Alisanka gemeinsam mit Jan Wagner im Literarischen Colloquium erleben. Das literarische Tandem am Wannsee vereinte zwei Wahlverwandte der jüngeren Dichtergeneration, deren Poeten sich weder in der Rolle des Zeitzeugen noch des Propheten oder des Bewahrers von geschichtlichem Gedächtnis sehen. Nichts läge Alisanka ferner als die Intention des Psychotherapeuten, zu der sich sein Landsmann, der bekannte Exilpoet Tomas Venclova, im Internet-Kulturmagazin eurozine und in der Zeitschrift Wespennest bekannte.
Den 1937 geborenen Venclova und den 1960 geborenen Alisanka, die beide in Vilnius studiert haben, trennen generationsspezifisch unterschiedliche poetische Konzepte. Anstatt Gegenbilder zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zu entwerfen, lässt Alisanka in postmoderner Weise ganz entspannt alle gerade wie zufällig vorbeifliegenden Wirklichkeitspartikel ohne jegliche Interpunktion im Gedicht landen. Die durchgehende Kleinschreibung betont das rhythmisch Dahinfließende seiner Verse. Das lässt mehr Gemeinsamkeiten etwa zu Dirk von Petersdorff als zu Venclova erkennen. "das bewußtsein vergißt sich selbst gibt sich/ dem strom des lebens hin", heißt es im Gedicht "idiotenkamera". Die tollen Fotos von oben: die ein "kleines dorfherbarium" ergäben, wollen ihm so gar nicht gelingen. Selbstironisch bekennt er sich zu Irritationen in der Folge akustischer und optischer Wahrnehmungen. Etliche Themen und missionarische Grundgesten der älteren Generation bedenkt er mit unaufdringlichem Sarkasmus. Nicht, dass er der "reinen" Dichtung huldigte, gesellschaftliche Themen ausklammerte, im Gegenteil: "die realität der welt bezweifeln" gehört für ihn zu einer der Todesarten der Poesie. Aber die Zeugenschaft der Kunst, die Venclova beschwört, wenn es um die Ausrottung von Kulturen, die Massenvernichtung menschlichen Lebens oder ökologische Probleme geht, ist ihm fremd.
Alisankas Gedicht zur ökologischen frage etwa führt jegliche herkömmliche Öko-Lyrik ad absurdum, indem es die Blickrichtung ändert: vom natürlichen Klima hin zum Gesellschaftlich-Ideologischen. Nicht die Umwelt, sondern Identität und Stabilität des Individuums sind gefährdet in einer Welt des Umbruchs: "mein ökologisches gleichgewicht ist gestört", heißt es angesichts der Auflösung von Ideologien: "die gletscher/ schmelzen auf den kant-hegel-leningipfeln". Das lyrische Ich ist irritiert: "das eine bein tritt ins leere/das andere sucht den boden". Bei aller Ironie und Variationen mit verschiedenen Sprecher-Rollen ist doch auch die Befindlichkeit des Dichter-Ichs im Spiel. Nach dem Ideologien-Crash betrachtet es die Welt neu, sucht nach einer neuen Zeitrechnung: "denn diese leere ist eine nach celan/nach einstein beult sie sich ein und reißt".
Solche verblüffend einfachen und zugleich genialen Sprachbilder durchbrechen immer wieder den unpathetisch-lakonischen Sprachfluss. Zwischen unaufgeregten Redefloskeln wie "so ist es immer" und wiederholtem "macht nichts" blitzen ironische Fantasiebilder auf, teilt sich das Licht in zwei Hälften, bevölkern ein Mann Federwolke und eine Frau Cumulus die Szene, "kommunizieren" Hunde mit dem "Stimmentelefon" nachts, weil da die Verbindung besser ist. Neue Wort- und Bildschöpfungen beleben das Spiel mit romantischen und mythischen Versatzstücken. Saloppe Redewendungen und gedankliche Reflexionen werden ineinander verschränkt. Moderne Verfahrensweisen aus der Film- und Musikindustrie mit ihren schnellen Schnitten und Überblendungen strukturieren auch die Texte Eugenijus Alisankas. Das ist Standard bei vielen zeitgenössischen innovativen Poeten. Im Gedicht mit dem bezeichnenden Filmtitel krieg der sterne ist die Rede von "comics mixe remixe eines anderen lebens". Aus ihnen baut der Dichter sein Spannungsfeld zwischen sinnlichen Wahrnehmungen, Sprachassoziationen und intellektuellen Reflexionen. Das ironische Spiel mit neuen Formen schließt die alten existenziellen Themen nicht aus, im Gegenteil. Liebe und Tod, Anfang und Ende, Lebensmöglichkeiten, alternative Existenzen, Anatomie des Todes, Krieg und Frieden und immer wieder das Schreiben und die Poesie selbst stehen thematisch im Mittelpunkt und werden aus wechselnden Blickwinkeln betrachtet.
Verstanden sich die Dichter der Moderne noch als Verkünder widerständiger Botschaften, als Propheten oder Gurus, so sieht sich Alisanka in "marché de la poesie" aus den "zuggeschichten" eher ganz nüchtern den Zwängen des Marktes und der Warengesellschaft ausgesetzt: "ich würde ein gedicht verkaufen mit sämtlichen ersatzteilen". Wie das russischen Mütterchen, das im Gedicht "hell hunt" die Hand nach dem Fremden ausstreckt im Glauben, er sei Jesus, erliegt auch die Figur des Dichters der Täuschung, er könne mit ein paar vor sich hin gemurmelten Gedichten Gehör finden. Die Geste des Bettlers, die bittend ausgesteckte Hand, hat er mit jener wundergläubigen armen Alten gemein. Gerhard Falkners Denkfigur "Die Jammergestalt des Poeten" kommt dem Leser unwillkürlich in den Sinn. "vielleicht ist das zeitalter nicht das richtige", "vielleicht ist das ich nicht das richtige/vielleicht schreibt niemand mehr mit blut/kaufen und verkaufen sie nur und sehen abends fern" heißt es in Alisankas Gedicht mit dem Titel europas gespenst aus den zweiten Teil des Bandes unter der Überschrift aus den zuggeschichten. Anlass für diesen Zyklus war eine Fahrt im legendären "literaturexpreß 2000", die den Dichter zusammen mit anderen Schriftstellern durch ganz Europa führte.
Die zuggeschichten sind gattungsgemäß keine wirklichen Geschichten, erzählen aber fragmentarisch von Begegnungen mit den Kulturen europäischer Länder, die der Zug durchquerte. Von dem erhofften kulturellen "schöpferischen Dauerzustand", den es in Europa immer wieder neu herzustellen gelte, nimmt der Litauer einiges vorweg. Seine "Geschichten" erzählen weniger von Harmonie als von geistigen Auseinandersetzungen mit anderen europäischen Kulturen. Diese Auseinandersetzung geschieht beim Schriftsteller ganz intim und persönlich, mehr über die Sinne als den Verstand. In Spanien sitzt er mit der Cervantes-Figur Don Quichotte im Duft von Gewürzen und reist nach dem Schlürfen von Jerez durch die Ländereien Morpheus´, lässt in Paris die Beine am Ufer der Seine baumeln, begegnet in Belgien einer Horde betrunkener Fußballfans, die nachts ein Mosaik aus Blumen auf dem schönsten Platz Europas zertrampeln, sinniert in Hannover an einem Stand der Expo über Siegen und Verlieren nach und über Botticelli, Immanuel Kant und Adorno, besucht und verfehlt Freunde in Riga, sitzt in einem Café in Tallinn und beschreibt die Komik von enttäuschten Erwartungen. Wenn er nachdenkt, beginnt er mit dem Körper zu denken. In Portugal schweigt er mit Fernando Pessoa über das Inferno am Rand Europas und denkt mit José Saramago über die Erfahrung der Portugiesen bei der Eroberung neuer Territorien nach, selbst ein "Nachfahre von Barbaren". Löchrige Dächer in St. Petersburg assoziieren die Nutzlosigkeit des Gedichts als Gebrauchsgegenstand. Ausflüge ins Satirische als "Sechssternepoet" bis zum "Sechssternesarg" ergänzen sein Nachdenken über die Beobachtung, dass man in Europa keine Reime mehr mag. Zwischendurch schreibt er Briefe nach Litauen.
Nicht nur sein im vierten Kapitel platzierter Zyklus aus dem archiv ungeschriebener briefe verrät, dass Alisanka Gedichten durchaus eine kommunikative Funktion zuschreibt, obwohl und gerade, weil er weiß: "mit der vervollkommnung der Kommunikationsmittel/ häufen sich wie man weiß die todesfälle". Nicht von ungefähr porträtiert er in aus der geschichte eines schriftstellers einen Autor, der seine Texte wie tröstliche Briefe an Mitmenschen versendet und sich dabei als ein Mensch fühlt, dem fremder Schmerz nicht fremd ist. Zugleich ist es eine herrliche Satire auf Betroffenheitslyriker. Manches in Alisankas Versen bleibt vage und offen für verschiedene Lesarten - Gedichte als Kippfiguren, die das spielerische Moment zum Vergnügen des Lesers auskosten, wenn sie vom Heiteren jäh ins Groteske gleiten. Das betrifft besonders episch angelegte Gedichte wie aus einer ungeschriebenen kriegschronik, aus der geschichte des glaubens oder aus der schachgeschichte. Das hat universellen Charakter und jongliert geschickt mit europäischen Mythen. Spezifisch litauisch scheinen nur die Naturdetails, die Vilnius-Atmosphäre und ein milieuhaftes Figurenensemble, unter ihnen der fiktiv aus Sibirien zurückkehrende Vater. Dass Eugenijus Alisanka während der Verbannung seiner Eltern im sibirischen Barnaul geboren wurde, grundiert das historische Klima seiner Gedichte nachhaltig.
Eugenijus Alisanka: aus ungeschriebenen geschichten. Gedichte. Litauisch und Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Klaus Berthel. DuMont, Köln 2005,
150 S., 19,90 EUR
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