Im Mittelpunkt der "Odyssee", des Grundbuches der abendländischen Kultur, steht ein Mann: Odysseus, ein Kriegsheld, Abenteurer und wissbegieriger Irrfahrer, ein redegewandter Siegertyp, der sich widrigen Umständen anzupassen wusste. Seine Frau Penelope und all die Geliebten treten nur episodenhaft auf, sind Etappen zur Profilierung des Helden. Barbara Köhler holt sie aus den Lücken, in die sie gefallen sind zwischen all den verschiedenen Übersetzungen und Deutungen seit dem 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, und gibt ihnen nicht nur Gesicht und Stimme, Denken und Empfindung, sondern auch das Wort. "Du aber gehe ins Haus und besorge die eigene Arbeit; / Spindel und Webstuhl sind es; ermahne die dienenden Mägde, / An ihr Werk zu gehen; das Wort ist Sache der Männer", weist Telemachos, Sohn des Odysseus und der Penelope die Mutter zurecht (Odyssee 1, 325-364 in der Übertragung von Roland Hampe 1979). Auf die Patrilinie kommt die Dichterin immer wieder zurück. "Please, hold the line" tönt es ironisch und natürlich auch online.
Im Spannungsfeld zwischen "klassischen Medien" und neuen virtuellen Welten bewegen sich Köhlers dialogische Texte schon seit ihrem zweiten Lyrikband Blue Box. Als er 1995 erschien, war die 1959 in Burgstädt geborene Autorin, die 1985 - 1988 am Leipziger Literaturinstitut studiert hatte, gerade von Chemnitz nach Duisburg gezogen. Die in ihrem Debütband Deutsches Roulette (1991) begonnene Grammatik der Differenz treibt sie im neuen Buch weiter voran. Die Dichterin entscheidet die Machtfrage anders. Sie ruft aus den raumgreifenden Bild- und Klanginstallationen des 21. Jahrhunderts heraus die Muse an wie Homer. Doch sie erwartet keine neue Kunde vom Manne Odysseus, dem listigen Täuschungskünstler der griechischen Sage, taktierender Kriegsheimkehrer, der sich dem Zyklopen Polyphem als "Niemand" vorstellt, um zu entkommen. Sie lässt die Frauen sprechen: vor allem Niemands Frau, die paradoxerweise zugleich niemands Besitz ist. Zu Penelope, die Jahrzehnte auf die Heimkehr des Gatten gewartet hat, gesellen sich Kirke, Kalypso, Nausikaa, Helena, Leukothea und Persephone und so merkwürdige Mischwesen wie die Sirenen und Skylla und Charybdis.
Beim Auftritt der homerischen Figuren ändert Köhler die Perspektive. Kirke zum Beispiel, bei Homer eine böswillige Zauberin, die die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt, wurde stets als Inbegriff des gefährlich herrischen und wollüstigen Weibes gedeutet. Noch in Christoph Meckels Der Wein der Circe zum Beispiel macht sie die Männer "hirnlos, sprachlos und vertiert". Im 8. Gesang der Barbara Köhler aber ist sie die Frau im Eroberungskrieg. Sie verwandelt die Krieger nicht, sondern behandelt sie als das, was sie sind: "KriegerSchlägerMörderVergewaltiger". Als Figur changiert sie zwischen Göttin und Hure, die den in zehn Kriegsjahren abgestumpften Soldaten ihre Sinne wiedergibt: "Sehen Hören Riechen Schmecken". Sie erlöst sie - bei allem Sarkasmus - aus Angst und Befehlszwängen und vor allem aus der "sprache der furcht". So hat das vor Barbara Köhler noch niemand gesehen.
Die Reise aller Reisen, den fast 3000 Jahre alten Stoff, erzählt Köhler aus weiblicher Sicht, die so ganz anders ist als alle bisherigen. Über Jahrhunderte galt Odysseus als Prototyp des Heimkehrers von langen Irrfahrten und als ein begnadeter Geschichtenerzähler. Ovid rühmte in den Metamorphosen seine Beredsamkeit, Virginia Woolf sprach von einem "Triumph des Erzählens", doch skeptische Autoren der Moderne ließen das Standbild des wackeren Kriegsheimkehrers allmählich bröckeln. Franz Kafka etwa beschrieb ihn als einen überheblichen Dummkopf, Paul Celan ließ ihn als "Affen Odysseus" nach Ithaka klettern. Ernst Jandl bespottete ihn als Binsenweisheiten von sich gebenden Memoirenschreiber und nicht nur Hans Magnus Enzensberger schalt ihn einen Lügner und Mörder. Rigoroser als alle anderen aber demontiert Köhler den Helden in ihren 22 "Gesängen": "Ein Bild von einem mann / nichts dahinter."
Aber die umgangssprachliche Redewendung ist nur ein Faden in einem großen Gewebe. Vom Webschiffchen am Webstuhl der Penelope gleitet der Text zum Schiff, das Leukothea mit beschwörender Litanei vor dem Untergang retten will, bis die Sprache selbst das Schaukeln der Wellen imitiert.
Die Penelope des Mythos webte Nacht für Nacht an einem Stoff für das Totenhemd des Vaters und trennte das Gewebte des morgens wieder auf. Köhler webt einen Text, der sich in Zwischenreichen bewegt. "Zwischen Niemand und etwas", "Zwischen Hades und Persephone", "Zwischen Nacht und Tag" heißen die Kapitel, in denen sich Zeiten und Orte in einer fließenden Sprachmusik vermischen und kreuzen: die Antike und die Gegenwart, die griechischen Inseln und New York, die Legenden der Odyssee und der 11. September. Da scheinen ganz neue Erfahrungshorizonte auf. Das liest sich - in Anspielung auf den vergeblichen Versuch des Odysseus, dem Feldzug nach Troja durch Vortäuschung von Irresein (indem er Salz statt Korn in die Ackerfurchen streute) zu vermeiden, so: "Salz sähen auf kriegsgründe baun auf ground zero". Narretei, Täuschung, Verzweiflung, Lebenswillen und Selbstbetrug liegen hier dicht beieinander.
Das greift über Morpheme, kleinste Wort- und Sinnbedeutungsträger, ineinander. Assoziative Klangspiele gleiten vom archaischen Weben zum World Wide Web, von traditionsbeladenen Naturbildern: Meer, Licht, Wind zu technischen Apparaten und digitalen Speichermedien. Alles wird auf der Folie des Mythos durchgespielt: Menschheitserfahrung, die sich an jeweils anderen Orten und zu jeweils anderen Zeiten wiederholt, sich aber niemals gleicht - nur die Grundmuster bleiben erkennbar.
Skylla und Charybdis sowie Gorgo und die Sirenen, im Mythos ungeheuerliche, dennoch eindeutig weibliche Figuren mit Tierkörperelementen betrachtet Köhler aus der Perspektive heutiger Gentechnik wie durch Experimente erzeugte Züchtungen aus dem Genlabor: "die frau und die bestie die schöne das tier / die sirene die skylla die gorgo: kreuzungen." Der Computerbefehl "UNDO: ERROR" kann die Gespenster nicht wirklich vertreiben - wie auch der rückwärts abgespulte Film von Gräueltaten im Krieg diese nicht ungeschehen machen kann. Dass die Texte den Umkehrprozess dennoch immer wieder durchspielen, macht einen großen Teil ihres ethischen Gehalts aus.
Auf andere Weise als Odysseus-Niemand überschreitet Niemands Frau Grenzen, nicht nur zwischen Zeiten, Orten und Kulturen. Es sind vor allem Sprachgrenzen. Das assoziative Sprachspiel mit Bildern und Klängen steuert keinen finalen Punkt an und bleibt in seiner Mehrdeutigkeit vage. "Ich bin Schrödingers Katze" heißt es einmal in Anlehnung an ein gedankliches Experiment der Quantenphysik, das die Überlagerung von Zuständen simuliert. Aus Polyphem, dem Sohn des Poseidon werden Polymorpheme, die vom Deutschen ins Englische und Französische wechseln. Zitate aus dem Alltag von Männern und Frauen, dazu umgangssprachliche Floskeln, die viel aussagen über das Verhältnis der Geschlechter und mehr noch über Männersprache und Frauensprache und über Machtverhältnisse. Das ist verwoben mit dem Jargon der Medien, der Werbung und der Politik, bis hin zur Sprache von Geheimdienst und Stasiakten: "IM ULYSS / GV mit OV Kirke". Sprachelemente aus Naturwissenschaften und moderner Technik ergeben ein Textgewebe mit Ober- Unter- und Zwischenfäden.
Wer den Textbewegungen folgt, entdeckt, wie antike Motive und Figuren in der Gesellschaft profaniert werden: in der Historie ("Villa Ariadne" nannte die Gestapo ihr Hauptquartier auf Kreta), der Warenwelt und im Tourismusgeschäft. Der Leser zieht aus der permanenten Überlagerung verschiedener Bereiche assoziatives Vergnügen. Eine Fülle von Überlegungen zu Sprachtheorie und Poetik, zu wissenschaftlichen Entscheidungs- und Halteproblemen, zu Vaterschafts- und Identitätsproblemen hat die Dichterin in die - über weite Strecken vorherrschende - Blocksatzstruktur der Gesänge gepresst. Allzu viel ist gleichzeitig präsent. Ist Schrödingers Katze im Kasten am Ende lebendig oder tot? Sowohl als auch, meinen die Quantenmechaniker, bevor sie in den Kasten gucken. Das poetische Gewebe mit dem Grundmotiv der weiblichen Lebensreise bleibt unabgeschlossen. Schon die Penelope der Sage wusste das Fertigwerden geschickt zu vermeiden.
Barbara Köhler Niemands Frau. Gesänge. Mit einer CD. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2007. 112 S., 16,80 EUR. Zu Niemands Frau erscheint eine DVD von Andrea Wolfensberger bei der Edizioni Periferia, Luzern/Poschiavo.
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