In der Zeit der Bombardierung Serbiens wurde weltweit viel von der Gleichgültigkeit der Serben angesichts des serbischen Terrors gegen die Kosovo-Albaner gesprochen. Diese "Gleichgültigkeit" galt als ein weiterer Beweis serbischer Brutalisierung, wie sie in allen vorherigen ex-jugoslawischen Kriegen schon reichlich bemerkt worden war. Seit langem haben die Serben einen üblen Ruf in Europa und der Welt. Sie verüben Gräueltaten, oder sie zucken dazu mit den Schultern. "Momentan sind sie in Irrtümern befangen, in Hass, Krieg, Tod", schrieb Daniel Goldhagen und schlug Umerziehung und Verwandlung der "vorherrschenden Mentalität" vor.
"Wie könnt ihr schweigen? Wann werdet ihr um Verzeihung bitten?" Diese Fragen werden den Einzelnen und der ganzen Nation von vielen Seiten gestellt. Man erwartet von den Serben, sofort damit zu beginnen, was man in Deutschland Aufarbeitung der Vergangenheit nennt, und nimmt vorwurfsvoll an, dass sie sich dieser Prüfung nicht unterziehen wollen, die einzig über ihre moralische Wertigkeit entscheiden könnte. Das hartnäckige Wiederholen dieser Fragen zeigte uns, dass die Beweise der Vergangenheitsaufarbeitung sofort in überzeugender Weise geliefert werden sollten.
In einem Programm des Senders B-92 im September, drei Monate nach Beendigung der Bombardierung, fragte ein Zuhörer etwas zornig, aber anfangs unverständlich: "Warum sagt man ständig, es sei nicht an der Zeit...? Wir müssen doch wissen, was passiert ist..." Zuerst sah es so aus, als meinte er die üblen Folgen der Bombardements, die die Weltgemeinschaft nicht in die Öffentlichkeit bringen wollte. "Wieso nicht an der Zeit... Wann wird es an der Zeit sein?" wiederholte er, um am Ende, mit fast erstickter Stimme zu sagen: "Ich hab' sie gesehen, hier, bei mir, in Novi Beograd... Ich sah ihre Jeeps..." Nun erst wurde klar, dass er von den Paramilitärs sprach, die aus dem Kosovo zurückgekehrt sind.
Bekenntnisse dieser Art und die Forderung nach Offenheit gibt es viele. Sind sie allgemeingültig? Womöglich nicht. Entsprechende statistische Erhebungen und Umfragen fehlen. Jedoch wage ich zu sagen, dass die Antwort im Moment gar nicht so wichtig ist. Entscheidend ist etwas anderes: Heute ist in Serbien jedes Wissen, Halb-Wissen, Ahnen, absichtliches Ignorieren oder zufälliges Un-Wissen über die Verbrechen, welche in den vorherigen Kriegen und in diesem letzten in Kosovo verübt wurden, ein privates Wissen oder Un-Wissen. Privates Wissen nenne ich jenes Wissen oder Un-Wissen, das durch private Einsicht in die medial erbrachte Evidenz erlangt wird und dessen Annehmen oder Abweisen im Bereich der privaten Entscheidung bleibt. Privates Wissen ist nicht institutionell verifiziert, seine Akzeptanz hängt vom Vertrauen oder Nicht-Vertrauen in die Quelle ab. Deswegen hat es keine unmittelbaren sozialen Folgen. Es wird nicht automatisch und notwendig zu einem Katalysator sozialer Änderungen.
Der Status dieser Art des Wissens ist eine der Grundfragen der "Aufarbeitung der Vergangenheit", ein Thema, über das man in Deutschland mehr als irgendwo sonst weiß. Eine undogmatische Antwort auf diese Grundfrage könnte vielleicht helfen herauszufinden, wie Serbien einen Ausweg aus der Sackgasse finden kann, in die es sich verirrt hat.
In Deutschland werden ziemlich heftige Diskussionen über die Beendigung der Vergangenheitsaufarbeitung geführt, vielleicht gerät deswegen der Beginn dieses Prozesses in Vergessenheit. So scheinen die radikalen Erwartungen, die an die Serben hinsichtlich ihrer Kriegsverbrechen gerichtet werden, eine Instant-Anwendung des erfolgreichen deutschen Modells zu meinen: Wir haben unsere Schuld akzeptiert, ihr sollt die eure akzeptieren. Wir baten um Verzeihung, ihr sollt dasselbe tun. Und zwar sofort.
Die Berufung auf das deutsche Modell erzeugte in Deutschland und in der Welt eine neue Art politischer Korrektheit. Wer als politisch korrekt gelten wollte, musste auf diesen zwei Punkten - dem Eingeständnis eigener Schuld und der Bitte um Verzeihung - bestehen. Das genügte, so wie eine gut eingepaukte Lektion. Politische Korrektheit wurde zum Akt der Deklaration und brachte jenem, der sich so äußerte, apriorisches Vertrauen ausländischer Zuhörer. Es war fast, als ob gesagt wurde: Flüstere in mein Ohr die Worte, die ich hören möchte.
Sie kamen zunehmend auch aus der serbischen Ecke: "Die Serben sind schuldig, sie müssen sich entschuldigen." Aber die grammatische dritte Person Plural - statt der ersten, wie es logisch wäre - zeugte von einer verdächtigen moralischen Kehrseite dieser Deklaration. Wirklich schlimm war daran, dass Moralismus und Deklaration etwas Wichtiges ausgezehrt haben, nämlich das, was man auf deutsch die Problematisierung nennt.
Bekanntlich verlief der Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland nicht so reibungslos, wie man nach den Aufrufen an die Serben, dasselbe nun sofort auch durchzuführen, annehmen könnte. Auf jeden Fall aber ist dieser Prozess gelungen und Deutschland ist - außer, darf ich bemerken, wenn es Serbien bombardiert - ein stabiler demokratischer Staat geworden. Man sollte aber bedenken, dass die deutsche Auseinandersetzung mit dem Holocaust erst begann, nachdem die Tatsachen über die Verbrechen der nationalsozialistischen Epoche Gegenstand institutionalisierter öffentlicher Rede und institutionalisierter öffentlicher Verurteilung wurden.
Interessant ist die Frage, ob der Weg nicht auch anders sein kann, ob nicht - im Gegensatz zu den deutschen und anderen Erfahrungen - die politische Veränderung als Ergebnis einer Auseinandersetzung über die Schuld erfolgen kann. Von den jetzigen Erfahrungen her halte ich das allerdings für kaum möglich, weil es bedeuten würde, dass es schon solche Institutionen gäbe, dank derer zuverlässig ermitteltes Wissen über die Verbrechen aus dem Bereich des Privaten in den Bereich des Öffentlichen übertragen würde, in denen dieses Wissen erst einen gesellschaftlichen Sinn haben kann.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit aber ist in Serbien seit einiger Zeit ein Thema. Für Anfang kommenden Jahres werden zwei Konferenzen dazu vorbereitet. Dies sind nur die ersten Schritte. Noch immer fehlt eine zuverlässige, überprüfte und systematische Bestandsmaßnahme der Tatsachen. Was noch mehr fehlt, ist eine gesellschaftliche Situation, die wenigstens zu einer Art Normalität hin tendieren würde. Heute lebt man in Serbien von 1,50 Mark pro Tag, alle Institutionen der Gesellschaft sind zerstört und die Ungewiss heit über die Zukunft ist eine Quelle permanenter Unsicherheit der Bürger. Der Zustand wird von der Isolation Serbiens vertieft. Erst wenn sich das verändert, wird sich zeigen, wieviel Nüchternheit, Klugheit, Offenheit, Aufrichtigkeit notwendig und vorhanden sein wird für die große Arbeit der "Aufarbeitung der Vergangenheit". Heute liegt nur eines vor: ein einigermaßen guter Wille.
Drinka Gojkovic, geboren 1947 in Belgrad, ist Essayistin, Chefredakteurin der Belgrader Zeitschrift Mostovi und Übersetzerin deutscher Literaturen (unter anderem Hans M. Enzensberger und Georg Büchner). Sie studierte in Belgrad Literaturwissenschaft und Weltliteratur, wozu auch das Fach Germanistik gehört. Im Rahmen des Kolloquiums Balkan Brücken: Serbien, das am 26. und 27. 11. 1999 in den Räumen der literatur WERKstatt berlin stattfand, hielt Drinka Gojkovic diesen Vortrag.
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