Das neue Rom

Spinnen die? In Italien hat das Machtkartell des alten Europa eine Schlacht verloren, die entscheidend gewesen sein könnte

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Die alte Garde zögert.
Die alte Garde zögert.

Foto: Alberto Pizzoli/AFP/Getty Images

Prolog in Brüssel

Kürzlich hatte Drosophila in einem Brüsseler Gebäude etwas für eine der kompetenteren EU-Unterorganisationen zu erledigen. Ohne jemandem zu nahe zu treten, darf gesagt werden, dass keine der dort untergebrachten EU-Behörden sicherheitsrelevant ist. Dass es am Eingang eine Kontrolle der Personaldokumente gibt, man eine Einladung vorweisen und im Gebäude einen Besucherausweis tragen muss, ist nicht weiter ungewöhnlich. Viele Firmen halten das auch so. Dass die sehr freundlichen Sicherheitsleute am Eingang etwas unprofessionell in den Taschen der Ankömmlinge herumkramen, kann man belächeln. Uns wurde aber auch mitgeteilt, wir sollten die Besucherausweise beim Verlassen des Baus besser abnehmen. Es sei nicht die sicherste Gegend von Brüssel. Tritt man aus dem Gebäude, so steht man vor dem Hilton-Hotel und gerade über die Straße liegt die zentrale Fußgängerzone. Von Unsicherheit keine Spur. Mit anderen Worten: Man weiß dort, dass die EU bei den Leuten auf der Straße nicht beliebt ist. Nicht einmal in Brüssel. Warum sollte es in Rom anders sein?

Der Pöbel darf wählen

Die Leute auf der Straße, welche die EU nicht so mögen, haben ihre Gründe. Diese Gründe sind meistens nicht reflektiert und einem eloquenten Journalisten wird es oft leichtfallen, diese Leute als dumm darzustellen. Sie haben das unbestimmte Gefühl, dass die Entscheidungen eher zu ihrem Nachteil als zu ihrem Vorteil fallen und dass da jemand versucht, sie zu belehren und einzuengen. Dieses Gefühl reicht ihnen für ihre Ablehnung.

Diejenigen, die sich für die progressiven Eliten Europas halten, ob in politischen Kreisen oder Redaktionen, betrachten diese Leute als unaufgeklärten Pöbel und nennen diejenigen, welche die Interessen des Pöbels vertreten oder das zumindest vorgeben: Populisten. Das Ergebnis sollte niemanden überraschen. Der Pöbel wählt zunehmend die Populisten. Am 4. März 2018 stellte sich heraus, dass es in Italien 50,02 Prozent der Wähler waren, 20,37 Prozent mehr als bei der vorherigen Parlamentswahl 2013. Die Mehrheit der Populisten klingt dünner als sie ist, denn die Opposition gegen sie ist tief gespalten und wenn man Berlusconi zu den Populisten schlägt, waren es 64 Prozent.

Avanti popolo, bandiera rossa?

Der Pöbel, man kann es nicht anders sagen, sind diejenigen, die im Lied der italienischen Arbeiterbewegung das popolo waren und gleichzeitig auch diejenigen, an die sich Benito Mussolinis Zeitung “Il popolo d‘Italia” wandte. Da sind wir wieder. Die Lega Nord, die einst den reichen und arbeitsameren Norden Italiens (Padanien) vom „faulen“ Süden abspalten wollte, hat schamhaft das "Nord" im Namen fallen lassen, ist jetzt gesamtitalienisch nationalistisch und hat sich zum Interessenvertreter derjenigen aufgeschwungen, die in Brüssel als faule Südländer betrachtet werden. Il popolo, zu Recht enttäuscht von den politischen Ergebnissen derjenigen, die sich als italienische Linke betrachten, läuft nach rechts. Noch interessanter ist das Movimento 5 Stelle (M5S), das in beiden Häusern des Parlaments jeweils mehr als ein Drittel der Abgeordneten stellt. Es gibt sich ökologisch, sozial, anti-militaristisch – alles linke oder ehemals linke Positionen – und ist zugleich globalisierungskritisch, euroskeptisch und gegen Einwanderung – alles Positionen, die man heute eher der Rechten zuordnet. Im M5S ist das, was man in Deutschland gern Querfront nennt, in einer Bewegung vereint.

Wo also ist die Linke geblieben? In Italien gab es schon immer eine intellektuelle Linke, schicke Salon-Kommunisten, und die gibt es immer noch. Sie hat nie Wahlen gewonnen und wird es nicht. Ihre Bedeutung in der klassischen Medienlandschaft kann gar nicht überschätzt werden und ihre Bedeutung in der jetzigen politischen Situation gar nicht unterschätzt.

In Italien gab es, gerade nach dem 2. Weltkrieg, auch eine starke Arbeiterbewegung. Sie ist den Weg der anderen Arbeiterbewegungen in EU-Ländern gegangen, nicht zuletzt, weil ihre Führung gemeinsame Sache mit den Neoliberalen machte. Sie wird nicht wiederauferstehen.

Das einfache Volk, der Pöbel, findet sich in den Reden und Taten der etablierten Parteien nicht mehr wieder. Da geht il popolo eben hin und wählt die Populisten. Es ist wirklich schwer zu verstehen, dass das den intellektuellen Eliten so schwer verständlich ist.

Ein Versuch, die Demokratie zu kassieren

Es ist unangenehm, sich einer Mehrheit gegenüber zu sehen, die das ablehnt, was man als richtig erkannt zu haben glaubt. Und es ist mehrfach passiert. Beim Brexit, bei der Trump-Wahl, in Polen, in Tschechien, in Österreich und im März eben in Italien. Und in Brüssel scheint es zu passieren, wenn man den Schutz der EU-Gebäude verlässt.

Darauf gibt es zwei mögliche Reaktionen. Man kann die Niederlage akzeptieren, sich fragen, was man falsch gemacht hat und sich korrigieren, um beim nächsten Mal den Spieß umzudrehen. Dieses Verhalten nennt man demokratisch.

Oder man kann darauf beharren, dass man gar nichts falsch gemacht haben könne, weil man ja viel intelligenter und gebildeter sei als der Pöbel. Dass dieser also falsch gewählt habe und nun fürsorglich vor den Folgen seines für ihn selbst verderblichen Tuns gerettet werden müsse – mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass die eigenen Freunde in den Bank- und Konzernzentralen dabei auch besser wegkommen. Für dieses Verhalten gibt es je nach Standpunkt des Betrachters verschiedene Bezeichnungen, aber „demokratisch“ ist sicher nicht darunter.

Den zweiten Weg zu gehen, haben die maßgeblichen Leute in EU-Brüssel, ihre Freunde in den Medien und ihre Freunde unter den italienischen Wahlverlierern versucht. Erfolg war ihnen darin nicht beschieden und es lohnt sich zu untersuchen, warum.

Anatomie einer gescheiterten Manipulation

In Brüssel – und wohl auch in Berlin – sahen einige Leute Rot, als klar wurde, dass die italienischen Populisten eben nicht große Vereinfacher ohne Sachverstand ins Kabinett holen wollten, sondern Leute, die den jetzigen Platzhirschen intellektuell und fachlich überlegen sein würden. Das pièce de résistance war Paolo Savona, ein hochintelligenter Ökonom mit dem breiten Erfahrungsschatz eines erfüllten Lebens, der zudem in einem Alter ist, in dem er nichts mehr zu verlieren hat.

Savona trat unmittelbar nach dem Studium in die Forschungsabteilung der italienischen Zentralbank ein und war als einer von zwei führenden Köpfen am ersten ökonometrischen Modell der italienischen Volkswirtschaft beteiligt. In der Folge untersuchte er die internationale Geldschöpfung und arbeitete dabei im Board of Governors der US-amerikanischen Notenbank. Später war er Generaldirektor des italienischen Arbeitgeberverbandes, Präsident einer Kreditbank, Generalsekretär für Wirtschaftsplanung im italienischen Finanzministerium, Vorstandvorsitzender der sechstgrößten Bank Italiens, Präsident eines von der EU akkreditierten italienischen Einlagesicherungsfonds, italienischer Minister für Industrie, Handel und Handwerk, Leiter der Abteilung für EU-Politik des italienischen Ministerrats, und Koordinator des technischen Komitees, das den italienischen Beitrag zur Lissabon-Strategie der EU erarbeitete. Er ist Herausgeber dreier wirtschaftswissenschaftlicher Zeitschriften, darunter des Journal for European Economic History. Eines seiner wissenschaftlichen Spezialgebiete ist das internationale Geldsystem.

Jeder der Yannis Varoufakis‘ Buch „Adults in the Room“ gelesen hat, wird sofort verstehen, dass Paolo Savona unter keinen Umständen als Vertreter einer euroskeptischen italienischen Regierung am Tisch der Euro-Gruppe erscheinen durfte. Brüssel, Berlin und Paris steckten sich hinter alle Medien, die bereit sein würden, an einer Kampagne gegen Savona teilzunehmen. Sie sicherten sich die Unterstützung des italienischen Präsidenten Sergio Mattarella, der Savona als Minister rundweg ablehnte, ohne eine politisch oder demokratietheoretisch tragbare Begründung dafür geben zu können. Daraufhin ließen Lega und M5S die Regierungsbildung platzen.

Auf diese Reaktion war Sergio Mattarella vorbereitet – wie sich zeigen sollte aber völlig unzulänglich. Er präsentierte Carlo Cottarelli, einen früheren Direktor des Internationalen Währungsfonds, als Premierminister einer Übergangsregierung bis zu Neuwahlen. Schnell wurde klar, dass Neuwahlen im Herbst aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem Erdrutschsieg von M5S und Lega führen würden, mit größerem Gewicht der radikaleren Lega innerhalb des Bündnisses. Zudem stand Cottarelli vor der Aufgabe, während des Wahlkampfes ohne Parlamentsmehrheit nur mit Dekreten genau die Sparpolitik umzusetzen, die schon am 4. März abgewählt worden war. Das alles in einer Situation, in der er als Paladin Brüssels und Berlins in Italien galt.

Kaum jemand verstand, wie Cottarelli auf die Idee verfallen war, er könne dabei ein Fiasko vermeiden. Vor allem verstanden es diejenigen nicht, denen er einen Ministerposten anbot. Cottarelli scheiterte an einer schnellen Kabinettsbildung in einer Situation, in der es auf Geschwindigkeit ankam. Denn auch die Akteure an den Finanzmärkten glaubten nicht an einen Erfolg der Pläne Mattarellas und Cottarellis. Nach wenigen Tagen fand sich Mattarella vor einem politischen Abgrund wieder und musste hinter den Kulissen M5S und die Lega darum bitten, doch eine Regierung zu bilden. Er hatte kein politisches Kapital mehr, um die Auswahl der Regierungsmannschaft zu beeinflussen. Einzig den totalen Gesichtsverlust, Savona nun doch noch als Finanz- und Wirtschaftsminister zu akzeptieren, konnte er vermeiden.

Nicht verhindern konnte er, dass Paolo Savona jetzt Minister für Europäische Angelegenheiten wird und Italien in Brüssel repräsentiert. Außenminister wird Enzo Moavero Milanesi, der die Europäische Kommission sehr gut von innen kennt. Ihn deshalb als EU-Freund zu bezeichnen, wie es deutsche Medien tun, ist entweder naiv oder Pfeifen im Walde. Lega und M5S werden einen Teufel tun, ihre eigene Politik durch einen EU-Freund im Außenministerium zu konterkarikieren. Hier gilt der Satz von den schärfsten Kritikern der Elche.

Finanz- und Wirtschaftsminister wird der Ökonom Giovanni Tria. Er ist kein solches Schwergewicht wie Savona und wird am Tisch der Euro-Gruppe die anderen nicht einfach hinwegfegen können. Gleichwohl ist er ein Kritiker der Wirtschaftspolitik der EU, hat sich gegen die Budgetregeln der EU ausgesprochen und den deutschen Außenhandelsüberschuss kritisiert. Letzteres ist unter ernsthaften Ökonomen wohl die Mehrheitsmeinung. Zwischen Savona und Tria passt kein Blatt. Savona hat gestern bemerkt, Italien müsse die Euro-Zone nicht verlassen, wenn Deutschland das tue, dessen Außenhandelsüberschuss das eigentliche Problem sei. Deutschland könne auch Teil des Euro bleiben, aber dann müsse es eine intern flexible Austauschrate akzeptieren. Daraufhin sagte Tria, Savonas Bemerkung sei das Ergebnis einer ernsthaften ökonomischen Analyse und nicht der Ausbruch eines antieuropäischen Politikers.

Brüssel als Wagenburg

Yannis Varoufakis Buch beschreibt, was in Gremien der Euro-Gruppe und unter Finanzministern passiert, wenn ein kleiner Nettozahlungsempfänger in einer finanziellen Zwangslage versucht, mit ökonomischen Argumenten eine vernünftige Einigung zu erreichen. Es gibt Leute, wie den CSU-Europaabgeordneten Markus Ferber, die so naiv sind anzunehmen, dass ähnlich mit Italien umgesprungen werden könnte. Immerhin war er ehrlich genug zu sagen, dass die Troika etwas ist, das einmarschiert wie eine Armee von Besatzern.

Nach dem Ausscheiden Großbritanniens wird Italien der viertgrößte Nettozahler des EU-Budgets sein (nach Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, mit eher geringem Abstand zu den beiden Letzteren). Das unterscheidet Italien etwa vom Heimatland des EU-Kommissionpräsidenten, Luxemburg, das ein Nettoempfänger ist und zwar der 2014 mit etwa 2500 € pro Einwohner mit Abstand größte. Griechenland empfing damals 480 € pro Einwohner. Auch Belgien ist übrigens ein Nettoempfänger.

Was das Bruttosozialprodukt angeht, wird Italien nach dem Brexit die drittgrößte Volkswirtschaft der EU sein, nach Deutschland und Frankreich und vor Spanien. Die italienische Volkswirtschaft ist größer als diejenige Russlands. Sie wächst seit 2015 schneller als die britische.

Das Verhältnis staatlicher Schulden zum Bruttosozialprodukt beträgt in Italien 135 Prozent, in den USA 104 und in Japan 243 Prozent. Dasjenige von Venezuela liegt bei 23 Prozent – soweit zur Korrelation zwischen wirtschaftlicher Lage und diesem Verhältnis. Wie in Japan und im Gegensatz zu Griechenland wird der größte Teil der Staatsschuld Italiens von Inländern gehalten. Genauer gesagt, ist dieser Anteil in Italien so hoch wie in keinem anderen Land der Eurozone. Die Vermögenswerte in Italien sind viermal so hoch wie die Staatsschuld.

Italien ist nicht leicht unter Druck zu setzen. Vielmehr kann es die EU und die Eurogruppe unter Druck setzen, denn beide Akteure befinden sich bezüglich ihrer Stabilität in einer Krise, die ein Ausscheiden eines Landes dieser Größe oder auch nur ein ernstes Zerwürfnis mit ihm nicht zulässt. Die vergangene Woche hat den politischen Spielraum der EU-Kommission und auch Deutschlands deutlich verringert und denjenigen Italiens deutlich vergrößert.

Drosophila, an einem Primitivo di Manduria nippend, ist auf die Stimmung in EU-Brüssel im September gespannt.

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Geschrieben von

drosophila

Lebt nicht lange. Legt aber viele Eier.

drosophila

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