Schon an der U-Bahn-Station Kottbusser Tor beginne ich neugierig die wartenden Passagiere zu mustern. Wer sieht so aus, als würde er heute am Slutwalk teilnehmen? Die beiden hübschen Mädchen mit den raspelkurzen Haaren, die unter ihren weit ausgeschnittenen Muscle-Shirts keinen BH tragen? Die flippige Mittdreißigerin, die mit ihrer Mutter unterwegs ist? Die spanischen Hippies, denen nur löchrige Netzhemden um ihre schmalen, braun gebrannten Körper wehen? Die Kleiderfrage hat mich, so wie viele andere Demonstranten wohl auch, im Vorfeld stark beschäftigt, weil sie den Raum für enorme Interpretationsunterschiede öffnet. Wo verläuft die Grenze zwischen gnadenloser Provokation und Langweile? Wo verläuft meine persönliche Grenze?
Mir ist heute nicht so slutty zumute. Ich habe das Slutwalk-T-Shirt aus der Freitag-Kollektion nur entlang des XS-Vordrucks, nicht der XL-Linie mit der Schere ausgeschnitten. Am Wittenberg-Platz folgt dann die Auflösung die anderen Passagiere betreffend, ausnahmslos alle Fahrgäste meines Abteils sind zum Slutwalken hier.
Für Selbstbestimmung
Was als Protestreaktion auf die unüberlegte Äußerung eines kanadischen Polizeibeamten im Januar 2011 in Toronto begann ("Women should avoid dressing like sluts in order not to be victimized"), hat sich mittlerweile zu einem weltweiten Phänomen entwickelt. Und ist nun auch auf deutschen Straßen angekommen: Ob in München, Hamburg, Frankfurt, Dortmund, Stuttgart oder Köln, überall wird an diesem Wochenende gegen Sexismus, für sexuelle Selbstbestimmung und die Wahrung der persönlichen Grenzen protestiert. In Berlin sprechen die Veranstalter am Ende des Tages von 3.000 Teilnehmern.
Am Wittenberg-Platz schieben sich Hauptstadturlauber, bepackt mit KaDeWe-Einkaufstüten, Richtung U-Bahnhof. Sie staunen über die Menge bunter, oftmals knapp bekleideter Menschen, die aus den U-Bahn-Eingängen auf den Platz gespuckt werden. Manche Touristen machen verstohlen ein Erinnerungsfoto, andere wenden pikiert den Blick ab.
Was sofort auffällt, ist das breite Teilnehmerspektrum: Lesben, Schwule, Transen, Normalos, Jungfamilien, Hippies, Techno-Kids und Alt-68er vermischen sich zu einer fröhlichen, friedlichen Masse.
Doch bevor es losgeht, plötzlich ein Tumult! Eine Gruppe seriös wirkender Herren in grauen Anzügen rottet sich zusammen. Mit Transparenten, auf denen steht: „Wowereit ausstopfen, Künast frisieren, Knut wiederbeleben!“ Und: „Mehr Sicherheit mit der Mauer!“ Es ist ein Auftritt von Martin Sonneborns Satire-Organisation "Die Partei". Sonneborn gibt als Trittbrettfahrer der großen Medienaufmerksamkeit Statements zu seinen Wiederaufbauplänen der Berliner Mauer und lässt sich ablichten. Bis die Polizei kommt und die ganze Truppe des Platzes verweist. So schnell wie sie kamen, ist der Spuk auch vorbei.
Mit einer Stunde Verspätung setzt sich der Slutwalk schließlich in Bewegung. Flankiert werden die Marschierenden von improvisierten Gefährten, über deren Lautsprecher von Zeit zu Zeit Ansprachen gehalten werden. Eine permanente Geräuschkulisse bildet die omnipräsente Musik, das sich auf einer Bandbreite von Riot-Grrrl-Bands bis zu Lady Gaga bewegt.
Im Takt der Musik setzen wir uns in Bewegung. Die Sonne brennt für diesen Sommer ungewöhnlich heiß, die Stimmung ist blendend. Es wird unheimlich viel fotografiert und gefilmt, auf den Grünstreifen entlang der Kleiststraße steht alle 20 Meter ein anderes Team, das für Radio, Fernsehen oder Internet O-Tone einsammelt. Es herrscht eine ausgelassene Dabei-sein-ist-alles-Atmosphäre, die Grenzen zwischen jenen, die Bericht erstatten und denen, die nur für den Privatgebrauch dokumentieren, verschwimmen zusehends.
Und es gibt wirklich viel zu sehen. Wie zu erwarten war, sind viele Frauen (aber auch Männer) freizügig unterwegs. Doch ihre Nacktheit wirkt auf mich weder peinlich, noch aufgesetzt, sie strahlen ein enormes Selbstbewusstsein aus und es macht Spaß, ihnen dabei zuzusehen, wie sie bewusst die Blicke auf sich lenken. Natürlich kommen auch Voyeure auf ihre Kosten, aber die Teilnehmer, die das Blankziehen für sich gewählt haben, scheinen damit kein Problem zu haben. Denn viel wichtiger als die weggelassenen Klamotten sind ihnen die Slogans und Statements, die auf Dekolletés, Rücken und Gesichter gepinselt sind.
Hardliner und Spaßmacher
Fast alle, die heute hier sind, haben sich ihre persönliche Botschaft ausgesucht. Die Ergebnisse sind vielfältig: amüsant, verstörend, reißerisch, politisch korrekt und unkorrekt, lächerlich und klug. Da gibt es die Hardliner-Fraktion ("Böse Möse", "Vergewaltiger kastrieren"), die Spaßmacher ("Alles Schlampen, auch Mutti") und die Sachlichen ("Nein heißt Nein"). Die Lesben ("Yes, I kiss girls. Yes, I like it. No, you can‘t watch. No, you can‘t join.") und die Politischen ("I am a communist and a slut"). Ich entdecke auch viele heterosexuelle Männer, die sich entweder ironisch-solidarisch zeigen ("I love sluts") oder selbst als Slut beschriften.
Am Straßenrand gaffen Passanten, manche extrovertierte Nackte bietet eine kleine Gratis-Vorstellung. Die Reaktionen sind, bis auf wenige Stänkerer, aber durchweg positiv. Nach der Überquerung des Potsdamer Platzes biegen wir in die Friedrichstraße. Ein junger Mann klettert auf einen Laternenmast und entfernt unter lautem Beifall ein Wahlplakat der Sarrazin-Sympathisanten von Pro Deutschland. Die Polizei hält sich die ganze Zeit auffallend im Hintergrund – fast wirkt es, als hätten die Beamten Angst vor versehentlichem Körperkontakt.
Die Schlusskundgebung auf dem Gendarmenmarkt ist eine große Party, zu der alle eingeladen sind, die ihren sexuellen Individualismus feiern möchten. Die Ansprachen über Lautsprecher sind leider so leise, dass sie weitgehend untergehen. Kurz fragt man sich, was den Unterschied zu einer Veranstaltung wie dem Christopher Street Day ausmacht. Und ob jener in seinen Anfängen ähnliches politisches Flair versprühte, bevor er zu einer reinen Spaßparade verkam. Vielleicht ist der Slutwalk ja der neue CSD, es gäbe Schlimmeres.
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