Was 2005 als Club Festival in der Kulturbrauerei begann, hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Großveranstaltung entwickelt: Das Berlin Festival hat nun unter dem Dach der Berlin Music Week gemeinsam mit der Popkomm ein Heim gefunden. Dass so ein großes, neues Haus nicht ohne Tücken ist, zeigte sich bereits 2010. Da war es nämlich auf dem historischen Areal des ehemaligen Flughafens Berlin Tempelhof bereits am ersten Tag zu einer Drängelei an einer Zuschauerschleuse gekommen, wenige Wochen nach der Loveparade-Katastrophe in Duisburg. Obwohl die Situation recht harmlos war, ich stand damals direkt daneben, reagierte man entsprechend sensibilisiert und brach aus Sicherheitsgründen verfrüht ab.
Für die dadurch ausgefallenen Acts wurde zwar ein Nachholtermin anberaumt, akkreditierte Journalisten fanden sich hierfür leider nicht auf der Gästeliste, weshalb ich nicht berichten kann, wie es war. Viele Besucher reagierten trotzdem verärgert, es gab Facebook-Initiativen, die Stimmung was mies, die Erwartungshaltung fürs nächste Mal umso größer ...
Doch siehe da, schon beim Betreten des Geländes am Freitagnachmittag sprangen dem Publikum die Neuerungen sofort ins Auge: Jene Ärger verursachenden Schleusen waren gänzlich verschwunden, die großen Tore der zwei Hangar-Hallen, welche die Nebenbühnen beherbergen, komplett geöffnet, was für eine entspanntere Zuschauerfluktuation sorgte und einen besseren Blick auf das Geschehen ermöglichte.
Döner komplett
Zwar hatte sich das spärlich vorhandene Toilettenangebot nicht wirklich vergrößert, doch hielten sich die Schlangen aufgrund gesunkener Besucherzahlen diesmal in Grenzen. Neu waren auch die geradezu dadaistischen Beschriftungen der Absperrzäune: Mit Ausdrücken wie DÖNER KOMPLETT, FERKEL, AWESOME, GURKE, RAVE wurden hier hübsch plakativ aus touristischer Erwartungshaltung geborene Berlin-Klischee-Phrasen gedroschen. Ein Gestaltungskonzept, das sich durch alle Bereiche zog. So schimpfet sich der ausgehändigte BVG-Plan "Wasted Public Transport", das Programmheft "In My Ass Pocket" und der Geldautomat "Zasterlaster". Hauptsache vulgär, albern und so kindisch wie möglich. Wer zudem noch nicht genügend Jutebeutel zuhause hatte, kam auch auf seine Kosten, egal ob Pizzaservice oder Atemerfrischer, alle lockten mit Umhänge-Werbegeschenken.
In der Mitte des Areals befand sich das Art Village, eine hippieske Ansammlung schruffig hingezimmerter Wände, die bepinselt, und Büdchen, die bespielt wurden. Neben fragwürdiger Sonntagsmalerei gab es spannende Projekte, wie die Kettensägen-Skulpturen von Maike Gräf, das vom Berliner Künstlerkollektiv Gobsquad aus Toastbrot-Scheiben gezimmerte Amy-Winehouse-Portrait oder eine stetig wachsende und wuchernde Luftballon-Skulptur, die wie der kranke Alptraum eines wahnsinnig gewordenen Clowns wirkte. Nur wenige Meter weiter präsentierte eine bekannte Automarke mit viel Tam-Tam ihr neuestes Modell. Kurios genug - verzerrte sich das Bild noch zusätzlich durch die Tatsache, dass ein älterer Mann afro-amerikanischer Abstammung ununterbrochen auf allen Vieren kriechend die dazugehörige Tribüne polierte.
Es sind diese abstrusen Gegensätze zwischen DIY-Mentalität und Mainstream-Sponsoring, die aufzeigen, woher dieses Festival kam und wohin es sich gerade entwickelt. Als aufmerksamer Besucher wurde man dieses unausgegorene Gefühl nie ganz los, wie zum Beispiel auch bei den immer wiederkehrenden Technik-Problemen während vieler Konzerte, die bei einer Veranstaltung dieser Größenordnung eigentlich nicht auftreten dürften.
Geisterbahn V.I.P.-Bereich
Neben Kunst und Kommerz gab es dieses Jahr selbstverständlich auch ein vielfältiges Speisen-Angebot, das von der ollen Bockwurst bis zum ayurvedischen Soulfood für jede Zielgruppe etwas bieten wollte. Abgerundet wurde das Bild von einem Zuckerwatte-Stand und einem Autoscooter. Ja, richtig gehört, fehlte nur noch die Geisterbahn, aber zum Glück gab’s ja den V.I.P.-Bereich, doch dazu später...
Zur Volksfest-Stimmung passend sah man dutzende schöne Mitte-Eltern mit Kopfhörer-Kind herum flanieren, sie wirkten etwas fehl am Platz, als hätten sie sich beim Sonntagsspaziergang auf dem Rollfeld hierher verlaufen. Doch läge es mir fern Menschen aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes mangelndes Musikinteresse zu unterstellen, zumal das diesjährige Line-Up sehr gefällig und breitgefächert daher kam: Für jeden etwas auf den Teller. Nachdem 2010 mit großen Namen nur so um sich geschmissen wurde, ging man dieses Jahr auf Nummer Sicher. Als Opener ein paar freshe Newcomer (Austra, James Blake, Casper), gemixt mit einer Prise Nostalgie/Comeback (Primal Scream, Suede, Beginner, Public Enemy), gehaltvoller Common Sense Indie (Beirut, Yelle, Mogwai) und als Nachtisch guter Techno/Electro ( Boys Noize, Pantha du Prince, Bloody Beetroots). Sättigung garantiert.
Und doch blieb Platz für persönliche Entdeckungen: Die Franzosen von Housse de Racket erzeugen zu zweit soviel Beat und Energie wie andere zu zehnt nicht und die Kalifornier von Waters hauchen dem melancholischen Grunge-Rock der frühen Neunziger Jahre frischen Atem ein. Ganz ohne Jutebeutel. Dominierten am ersten Festivaltag aufgrund des Britpop-lastigen Programms eher Mittdreißiger das Publikum, waren es am Samstag die Techno-und Hip-Hop-Kids, die zu Boys Noize's Pyro-Show austickten und sich beim Jan Delay und Co. die Bandscheiben ruinierten. Die britischen Touristen fielen wie immer durch ihre extremen Outfits und Haarfarben auf und die Berliner durch ihre gammelige Casualität.
Bliebe nur noch der zuvor bereits erwähnte V.I.P.-Bereich: eine eingezäunte Bar für Presse, Musiker und „Friends“. Sprich alle, die aufgrund ihrer Tätigkeit oder Visage wichtig sind oder erscheinen. Holt man sich dort ein Bier, wird man das Gefühl nicht los, manche Zeitgenossen säßen schon seit zehn Stunden hier und kämen nicht wegen der Musik, sondern nur um sich selbst und ihre eigene Einzigartigkeit zu feiern. Zu vorgerückter Stunde verschmilzt diese Ansammlung von zugekoksten Szenenasen zu einer einzigen, hysterisch lachenden Fratze. Ich fühlte mich jedenfalls wie in der Geisterbahn. Dann doch lieber schnell zum Autoscooter und danach ein veganes Hot Dog.
Das Berlin Festival spiegelt genau das wieder, was die Zugereisten und Spaßstudenten sich von dieser Stadt erwarten: Unbegrenztes Feiern mit anarchistischer Attitüde, doch der böse Onkel Kommerz steht schon vor der Tür und öffnet gierig seinen Mund...
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.