Und jetzt mal umgedreht

Fließende Grenzen Auch bei Homosexuellen wird alles unübersichtlicher. Viele spielen heute mit alten Klischeevorstellungen und erfinden dadurch schwule Rollenbilder neu

Die Stimmung in der Kantine des Berliner Techno-Clubs Berghain ist ausgelassen. Das Publikum besteht aus gutangezogenen Männern zwischen 20 und 40, einige Frauen verlieren sich im Raum. Statt Darkrooms, die eigentlich das verruchte Image des Berghain begründen, gibt es hier gemütliche Sofas im Schein eines Kaminfeuers. An diesem Abend findet eine Party der schwulen Veranstaltungsreihe "Pet Shop Bears" statt, keine Spur von wilden Fuck-Partys.

Man kann dafür ein Lieblingsspiel der homosexuellen Szene beobachten – das Unterlaufen und Umdeuten schwuler Klischees. Überzeichnete Stereotypen gelten seit jeher als elementarer Bestandteil schwuler Kultur. Sie sind verankert in unseren Köpfen und im Mainstream der Unterhaltungsindustrie. Jeder kennt etwa die Village People (mit ihren übertriebenen Archetypen: Cowboy, Indianer, Bauarbeiter, Polizist, Biker) oder Queen-Videos, in denen Freddie Mercury mit Schnurrbart und Lederminirock "I want to break free" singt.

Auch der Name "Pet Shop Bears" ist ein Weiterdreh eines klassischen schwulen Stereotyps, des Bären. Zur Bear Community zählen sich kräftige, teils muskulöse (Muscle Bear), teils übergewichtige (Chubbies) Männer mit starker Körper- und Gesichtsbehaarung, die sie stolz ihrer Anhängerschaft (Admirer) präsentieren. Der Ursprung ist einerseits in der homosexuellen US-Biker-Szene der 1970er Jahre zu suchen, aus der Gruppierungen von Leder-Fetischisten hervorgingen. Zugleich gab es auch in verschiedenen europäischen Ländern wie Deutschland und Großbritannien erste "Clubs für Bartmänner". Neben regelmäßig erscheinender Bear-Fachliteratur gibt es heute internationale Bear-Schönheitswettbewerbe und Treffen mit tausenden Teilnehmern. Auf Wikipedia findet man allein 20 Unterbegriffe zur differenzierten Bezeichnung unterschiedlicher Bärentypen.

Im Schein des Kaminfeuers auf einem Sofa sitzt Billy, der seinen echten Namen lieber für sich behalten möchte. Billy ist Anfang 30, er arbeitet in der Modebranche und ist eher klein, schmächtig und bartlos. Aber er habe ein Faible für Bears, sagt er, weshalb er von der Party hier auch enttäuscht sei, keine echten Bären. Nur ein paar dezent bärtige Männer, aber die glattrasierten sind deutlich in der Mehrheit. Billy sagt, er hätte sich den Flyer wohl genauer ansehen sollen. Dann wäre ihm der selbstironische Ton und das Wortspiel aus Pet Shop Boys und Bears aufgefallen. Er beobachte in seinem Bekanntenkreis zurzeit häufig, dass junge Schwule mit althergebrachten Vorstellungen brechen oder diese karikieren wollten.

Je prolliger, desto schwuler?

Wie viele Schwule sagt auch Billy, dass er selbst kein Problem damit habe, sich in homosexuellen Klischees widerzuspiegeln. Im Gegenteil, sie seien gerade in der Zeit nach dem Coming Out nützlich um die eigene Identität zu finden und seine Vorlieben genauer einzugrenzen. Dennoch folgt als Reaktion auf die alltägliche Konfrontation mit diesen Bildern oft auch der Wunsch, Brüche zu erzeugen, um neue Bilder zu schaffen.

Nirgends lässt sich das deutlicher sehen als auf Kontaktportalen wie Gay Romeo. Zusätzlich zu den klassischen Liebhabern des verbreiteten Sneakers-Socken-Sportswear-Fetischs wachse dort etwa in den letzten Jahren die Anhängerschaft der sogenannten Prolls, erzählt Billy. In einschlägigen Foren präsentieren sich Männer mit Six-Pack, Jogginghosen, dicken Halsketten und akkurat gestutzten Faden-Bärtchen, die man eher in dörflichen Großraum-Discos beim „Schnecken checken“ vermuten würde als auf der Suche nach anderen Männern. Es sind gestählte, einparfümierte Machos mit stolzgeschwelltem Geschlecht, die eine geradezu comicfigurenartige Über-Sexualität ausstrahlen.

Das sei eine Reaktion auf die medial endlos wiederholte These von der Metrosexualität der Hetero-Männer, ist Billy überzeugt. Sogar die konservative Welt schrieb bereits vor einiger Zeit, dass Hetero-Männer mittlerweile Schwule als ihre Lifestyle-Vorbilder ansehen würden. Aber wenn Heteros heute so sehr auf ihr Äußeres achten und den schwulen Lebensstil kopieren, müssen sich Homosexuelle durch etwas anderes abgrenzen. Und wie könnte man die nun fließenden Grenzen besser illustrieren als durch grotesk überzogenen Proll-Style?

Oft ist das Klischee des Prolls allerdings auch gekoppelt an die Vorstellung von einem Bisexuellen, der in einer heterosexuellen Verbindung lebt, aber ab und zu ein Gastspiel auf der anderen Seite gebe. Und das sei gar nicht so abwegig, meint Billy, stoße man im Netz doch immer häufiger auch auf Männer vor allem türkischer oder arabischer Abstammung, die ausschließlich an aktivem Sex interessiert wären. Diese Form der Homosexualität werde im islamischen Kulturkreis am ehesten geduldet. Mit einem zunehmenden Bevölkerungsanteil von Migranten wächst auch deren Präsenz in der Szene – und das trägt zu einer weiteren Ausdifferenzierung schwuler Rollenbilder bei.

Wachsender Beliebtheit in den letzten Jahren erfreut sich auch eine andere Gruppe: das Gay Skinhead Movement. 1999 schuf Kult-Regisseur BruceLaBruce mit seinem Film SkinFlick bereits eine Hommage an die Bewegung, doch ihr kontroverses Image und das Verwischen der Grenzen hat gerade heute bei jüngeren Männern wieder eine große Anziehungskraft. Die meisten schwulen Skins folgen dabei keiner politische Intention, sie schmücken sich lediglich mit den Insignien und Outfits von Skinheads – und empfinden diese als erotisierend. Der Sexualwissenschaftler Erwin Haeberle stuft dieses Phänomen daher politisch als harmlos ein: "Das ist eine Kostümierung, um sich von allem Tuntenhaften abzusetzen. Früher war man eben Lederkerl oder hat sich ein Holzfällerhemd angezogen."

Deshalb können Gay Skins auch weder der linken noch der rechten Skin-Szene zugeordnet werden, sie organisieren sich zum größten Teil eigenständig. Doch es geht dabei nicht ausschließlich um die Optik. Das Spannungsfeld zwischen Unterwerfung und Macht bekommt bei schwulen Skins besondere Bedeutung. Und es ist wohl auch ein Stück Angstlust dabei, wenn man über die Kleidung die Rolle des Opfers abgibt und sich die Identität des eigentlich verhassten und gefürchteten Gewaltgegners überstülpt.

Toleranz kann langweilig sein

Vor allem letzteres Beispiel mag ein sehr radikaler Zugang zur Umkehrung des Bekannten sein. Doch schlägt man an dieser Stelle den Bogen zurück zur Berliner Party-Szene abseits von Bear-Treffen, wird deutlich, wie groß das Bedürfnis nach scharfen Kontrasten ist. Zwischen Fashion-Event, Afterhour-Party und Shop-Opening verschmelzen die Protagonisten dieser Szene zunehmend zu einem – zugegeben gutaussehenden und oft fotogenen – aber immer undefinierbareren Unisex-Einheitsbrei. Mädchen sehen aus wie Jungs, von vorne wie von hinten – und dass jeder zumindest mal probehalber mit jedem schlafen kann, gehört zum guten Ton der modernen Bohemians. Es sind die Früchte eines jahrzehntelangen Kampfes um Toleranz, Gleichstellung und Weltoffenheit, die hier genossen werden. Nur kann grenzenlose Toleranz auf die Dauer auch etwas langweilig sein. So ist das mit den Kindern der Revolution: Wer nicht kämpfen muss, geht halt feiern.

Und während die einen damit beschäftigt sind, sich einen Spaß daraus zu machen althergebrachte, verkrustete Gay Images zu veräppeln und dabei auch mal den einen oder anderen enttäuschten Gast auf ihren Partys riskieren, begeben sich die anderen eben in martialischere Gefilde, um der Lethargie einer überaufgeklärten, hedonistischen Party-Clique zu entfliehen.

Am Kaminfeuer des Berghain lächelt Billy jetzt. Gerade hat doch noch ein ziemlich haariger Partygast den Raum betreten, ein Bär alter Schule. Er sieht sich irritiert in der glattrasierten Menge um. Billy verabschiedet sich, er wird mal zu ihm rüber gehen.

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Geschrieben von

Sophia Hoffmann

Sophia Hoffmann ist Köchin und Autorin. Als Aktivistin setzt sie sich für soziale Gerechtigkeit und Feminismus ein.

Sophia Hoffmann

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