Alea iacta est - Warum Scholz Kanzler wird

Eine Prognose Noch wenige Stunden, dann herrscht Gewissheit über das Wahlergebnis. Allenthalben ist von einem engen Kopf-an-Kopf-Rennen zu lesen. Dabei ist es bereits entschieden.

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Foto: Dirk Vorderstraße; Titel: "Olaf Scholz (SPD)" ; Lizenz: CC BY 2.0

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un ist es soweit: Der lang erwartete Tag der Bundestagswahl ist endlich gekommen. Mit der 16-jährigen Kanzlerschaft Angela Merkels geht eine Ära zu Ende, was vielen Menschen wahrscheinlich noch gar nicht so recht begreiflich ist. Aber jedes Ende ist auch ein neuer Anfang. Ob diesem - frei nach Hesse - ein Zauber innewohnen wird, dürfte für den jeweiligen Wähler davon abhängen, welcher Bewerber letztlich ins Kanzleramt einzieht.

In den vergangenen Wochen sah es so aus, als würde der künftige Amtsinhaber Olaf Scholz heißen. Wer die Wahl für sich entscheiden wird, scheint nach der jüngsten Allensbach-Umfrage vom vergangenen Freitag aber alles andere als ausgemacht. Auf den letzten Metern sieht es doch noch einmal knapp aus.

Schreiben jedenfalls viele. Dass dem nicht so ist, wird nachfolgend näher erläutert.

Umfragen oder noch mehr Fragen

Zunächst bietet sich ein Blick auf die Umfragen der bekanntesten Wahlforschungsinstitute an. Aus der bereits erwähnten Allensbach-Umfrage geht hervor, dass sich der Abstand zwischen Scholz und Laschet auf nur noch 1% verkürzt hat. Demnach käme die SPD auf 26%, die Union auf 25%. Die Forsa-Umfrage vom gleichen Tag sieht allerdings die SPD bei 25% und die CDU bei lediglich 22%. Zum selben Ergebnis kommen Insa (v. 20.9.2021) und die Forschungsgruppe Wahlen (v. 17.9.2021). Bei Kantar (v. 23.9.2021) ist der Abstand sogar noch größer mit 25% (SPD) zu 21% (CDU).

Es ist insgesamt festzuhalten, dass nach allen Umfragen jüngeren Datums Scholz vorne liegt und seine Chancen auf das Kanzleramt augenscheinlich besser stehen.

Dem kann jedoch entgegengehalten werden, dass er überwiegend nur innerhalb oder nahe der Fehlertoleranz von 2,5-3% führt und Umfragen wie die zum Brexit und vor der Wahl Trumps sich am Ende als spektakulär unzutreffend herausgestellt haben. Auch die Surveys während des US-Wahlkampfs zugunsten Joe Bidens lagen insofern falsch, als sie ihm einen überragenden Sieg voraussagten.

Gerade durch die Pandemie und die deshalb zu erwartende hohe Zahl an Briefwählern mit zeitlich abweichender Stimmabgabe zum eigentlichen Wahltag kann es bei der diesjährigen Bundestagswahl zu erheblichen Verzerrungen kommen.

Noch bedeutender ist m.E. allerdings, dass Meinungsumfragen möglicherweise selbst einen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. In Anlehnung an George Soros, der sich in Bezug auf Kapitalmärkte mit komplexem menschlichen Verhalten und selbstreferenziellen Prozessen befasste, vermag es auch hier eine Aktivierung in Richtung des Herdentriebes zu geben, d.h. wenn jetzt gerade eine Trendwende zugunsten Laschets medial diskutiert wird, könnte dies quasi im Rahmen reziproker Verhaltensorientierung zu einer Self-fulfilling Prophecy werden. Das Momentum könnte jedenfalls in die eine oder in die andere Richtung ausschlagen.

Alles in allem sind daher die Umfragen mit Vorsicht zu genießen. Unter Umständen wird man auch nach dieser Wahl resümieren, dass mit ihnen mehr Fragen als Antworten verbunden sind.

Union ohne Union

Gewichtiger dürfte deshalb sein, auf den Wahlkampf selbst zu blicken. Hier spielt die Musik. Valide Aussagen über das Ergebnis einer Bundestagswahl lassen sich kaum davon losgelöst anhand von bloßen Telefoninterviews treffen.

Insofern fällt auf, dass die SPD diesmal einen bemerkenswert geschlossenen Wahlkampf führt, bei dem der linke Parteiflügel mit größter Anstrengung durch geradezu aufopfernde Zurückhaltung alles dafür gibt, dass Scholz und dessen Kandidatur im Mittelpunkt steht. Dieser soziale und disziplinierte Umgang miteinander ist dabei keineswegs eine Selbstverständlichkeit, wenn man sich etwa den Disput zwischen Sigmar Gabriel und Martin Schulz aus dem Jahr 2018 ins Gedächtnis ruft, als Letzterer entgegen vorheriger Bekundungen plötzlich doch als Außenminister in das Kabinett Merkel eintreten wollte und am Ende horribile dictu Heiko Maas der sich freuende Dritte war. Und auch im Hinblick auf den Umgang mit ihren Parteivorsitzenden haben die Genossen in ihrer langjährigen Geschichte nicht immer das S in ihrem Parteinamen großgeschrieben. ,,Krawallig“ waren sie nicht nur zu den Vertretern anderer Parteien, sondern auch zu sich selbst. Doch diesmal ist alles anders. Die SPD gibt sich selten einmütig und spricht tatsächlich mit einer Stimme. Fast wie ein Chor, der gleich die Internationale anstimmt.

Dagegen präsentiert sich die CDU nun plötzlich nicht mehr wie ein altgewohnter Kanzlerwahlverein mit Blaskapelle, auf den sich frühere Kandidaten verlassen konnten, sondern scheint in ungewohnter Weise ohne U dazustehen. Bei der Werteunion und der Kandidatur von Hans-Georg Maaßen lässt sich etwa fragen, wie deren rechter Singsang ins Bild einer Partei der Mitte passen soll. Insbesondere, wenn Letztgenannter über Gesinnungstests für Journalisten und die Abschaffung des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks krakeelt oder den Rauswurf eines Mitglieds aus Laschets Zukunftsteam fordert. Missklänge statt positiver Vielstimmigkeit sind darin eher auszumachen. Und nach guter Performance und eingeübtem Zusammenspiel klingt das auch nicht.

Noch unmelodischer dürfte aber sein, dass der Chef der Schwesterpartei mit einem Verhalten beständig aufgefallen ist, das von nicht wenigen als störmanöverhaft empfunden wird und nicht ohne Ironie ausgerechnet Friedrich Merz dazu brachte, Söder öffentlich zu rügen. Abgerundet wird dieses missglückte Konzert auch noch mit wenig verschleierten Vorwürfen von Wolfgang Schäuble an Angela Merkel, ob des unglücklichen Dirigenten Laschet.

Maßgeblich zum Mangel an Euphorie und Geschlossenheit beigetragen hat nüchtern betrachtet, dass mit Armin Laschet jemand als Kanzlerkandidat angetreten ist, der weder an der CDU-Basis noch in der Fraktion, geschweige denn der CSU eine große Mehrheit hinter sich weiß. Auch wenn man Umfragen mit gesunder Skepsis betrachten kann, muss man sich fragen, ob es nicht eher eine Kamikazeaktion denn ein Husarenstück ist, wenn man einem glasklaren Favoriten der Unionsbasis und der Wähler, wie es Markus Söder war, nicht den Vortritt lässt, sondern mit einer eigenen Kandidatur auf Biegen und Brechen eine krachende Niederlage und einen Riss zwischen den Unionsparteien riskiert. Wer nach dem Taktstock greift, dem sollte es jedenfalls nicht an Taktgefühl fehlen.

Einheitlichkeit oder: Ist Laschet Laschet und wenn ja wieviele?

Kompensiert wird das alles auch nicht dadurch, dass der Kandidat als integrierende Persönlichkeit gilt. Zwar macht Armin Laschet durchaus den Eindruck sympathisch und umgänglich zu sein mit einem erfrischend hervorstechenden rheinländisch-jovialen Gemüt. Und er wird von Menschen, die ihn näher kennen, zuweilen als offene, aufmerksam zuhörende Person beschrieben, die Wogen zu glätten und Lager zusammenzuführen vermag. Allerdings besteht das Problem in der vielleicht gerade damit auch einhergehenden zu weiten inhaltlichen Offenheit, die in manchen Augen an Beliebigkeit grenzt.

So war er einerseits loyal an der Seite der Kanzlerin gestanden als es damals um die Verteidigung ihrer Migrationspolitik ging. Im Zuge des Afghanistandebakels indes, äußerte er in der Rolle des Kanzlerkandidaten nach rechts blinkend, dass es ein erneutes 2015 nicht geben dürfe.

Bei der Coronapolitik wiederum berief er einen durch zuweilen gefährlich falsche Mindermeinungen auffallenden Virologen in den Expertenrat von NRW, der eine sowohl inhaltlich als auch in der Art und Weise ihrer Präsentation sehr umstrittene Studie lieferte, die Laschet PR-gerecht zwecks Selbstinzenierung und Profilierung als Lockerer sowie gleichzeitig zur Abgrenzung gegenüber Söders Kurs zu nutzen wusste. Da besagter Experte voreilig davon ausging, es werde keine zweite Welle geben und medienwirksam gegen ein für die Vorbereitung der Schulen auf den Herbst 2020 taugliches Preprint des Regierungsberaters Drosten schoss (das am Ende in der hochangesehenen Fachzeitschrift Science erfolgreich publiziert wurde), geriet Laschet dann aber auch in Rivalität zum stark auf Prävention ausgerichteten Kurs der Kanzlerin. Das umso mehr, als sein Experte auch noch anstelle eines Lockdowns kurz vor der zweiten Welle, die wesentlich mehr Tote fordern sollte als die erste, für Gebote-statt-Verbote warb und in gefährlicher Rhetorik vor Angst und Alarmismus warnte.

Nicht ganz von der Hand zu weisen dürfte der Verdacht sein, dass Laschet mit seinem Sonderweg auch Brücken in das durch emotionale Anti-Panik-Nebelkerzen eingelullte Stimmlager der Corona-Verharmloser und Querdenker bauen wollte. Im Gestrüpp unzutreffender Einschätzungen verheddert, musste Laschet dann aber inmitten hoher Inzidenzwerte und einer Lage, die außer Kontrolle zu geraten drohte, doch der Realität verspätet ins Auge blicken: Nach längerem Zögern und erbetener Bedenkzeit sprach er sich schließlich für einen Brücken-Lockdown aus, der nicht so recht im Einklang mit seinem vorherigen Öffnungseifer zu stehen schien. Insgesamt zeigte er einen bemerkenswerten Schlingerkurs zwischen Vorpreschen beim Lockern und unbeholfen wirkendem Zurückrudern, wenn Situationen außer Kontrolle gerieten; wie etwa im Fall Tönnies, wo er zu einem Regional-Lockdown greifen musste und in proto-rechtspopulistischer Rüttgers-Manier versuchte, die Schuld an der Infektionslage auf die osteuropäischen Niedriglohnarbeiter abzuschieben. An Schande nicht genug, wollte er sich bei anderer Gelegenheit damit verteidigen, dass massiv ansteigende Inzidenzen nicht vorhersehbar gewesen seien, obwohl eine Mehrheit an seriösen Wissenschaftlern Wochen zuvor ausdrücklich davor gewarnt hatte. Darüber hinaus diskreditierte er mit einer der AFD zustimmenden Rede den Wert wissenschaftlichen Konsenses für die Pandemiepolitik. Es überrascht demnach nicht wirklich, dass er das Ziel, seine Popularität zu steigern, kolossal verfehlte, dafür aber zum einen reichlich Ärger, zum anderen erhebliche Zweifel an seiner Krisenkompetenz auslöste.

Summa summarum frustrierte er die Kanzlerin, welche eine eher restriktive Linie in der Coronabekämpfung verfolgte, derart, dass sie ihn bei Anne Will wegen seines Verhaltens in der Bund-Länder-Konferenz sogar in von ihr ungewohnter Weise öffentlich kritisierte. Indem er den NRW-Expertenrat mittlerweile, noch vor Ende der Pandemie(!) aufgelöst hat, stellt er seine Krisenkompetenz zusätzlich in Frage und macht vielmehr den Eindruck, als hätte die Wissenschaft bei ihm nur zur politischen Instrumentalisierung herhalten sollen.

In Sachen Zickzack und Mangel an Geradlinigkeit machte er auch in anderer Hinsicht von sich reden. Etwa was das Thema Ehe für alle angeht. So sagte er vor Jahren, dass er dagegen gestimmt hätte, um dann bei der Wahlkampfsendung ZDF-Klartext(!) plötzlich kundzutun, dass er dafür gestimmt hätte.

Am verheerendsten war jedoch das widersprüchliche Erscheinungsbild bei der Flutkatastrophe. Einerseits zu sagen, ,,weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik“ und dann doch mehr Tempo beim Klimaschutz zu fordern, passt schlichtweg nicht zusammen. Ebensowenig wie das Bild bei der Besichtigung der Flutschäden, wo das Lachen des Kanzlerkandidaten der Union im schärfsten Kontrast zum Ausdruck von Anteilnahme und der tristen Lage vor Ort stand.

In toto fehlt es erkennbar an Profilschärfe und inhaltlicher Festlegung. Ein Beispiel dafür war auch, dass es erst kein Kompetenzteam neben dem Kanzlerkandidaten geben sollte, aber dann plötzlich doch ein Zukunftsteam präsentiert wurde, in dem sich wiederum der ehemalige Gegenspieler um den Parteivorsitz Friedrich Merz wiederfand statt eines antagonistisch unbelasteten und weniger für Back-to-the-90s stehenden Carsten Linnemann, sodass man sich ernstlich fragen muss, wen und was man eigentlich bekommt, wenn man Laschet ,,wegen morgen“wählt.

Dass Flip-Flopping, fehlende Profilschärfe und uneinheitliches Agieren vom Wähler nicht positiv quittiert werden, veranschaulichte damals unfreiwillig, aber eindrücklich John Kerry, dem im US-Präsidentschaftswahlkampf gegen George W. Bush genau dieses Image anhing.

Die Kunst der Politik besteht darin, offen an die Dinge heranzugehen, aber sich sodann, nach fundierter Auseinandersetzung, sachlich festzulegen und in seiner Entscheidung Linie, Kreativität und Ausgewogenheit erkennen zu lassen. Damit kann man es vielleicht nicht allen Recht machen, aber am Ende viele überzeugen und in souveräner Weise etwas bewegen. Das geht auch auf konziliante Art, ganz ohne Basta-Manier. Vorliegend fehlt es jedoch offenkundig an einer eigenen Handschrift und dem Willen, Blätter mutig und dezidiert selbst zu beschreiben. Hingegen situativ strauchelnd und unvorbereitet-planlos Brücken ins Nichts zu bauen, führt nicht wirklich weiter, schon gar nicht ins Kanzleramt.

Der Mangel an Strategie mit Weitblick, Effet, Esprit, Einheitlichkeit und Geschlossenheit in der Union und im Agieren des Kandidaten lassen daher einen Wahlsieg unwahrscheinlich erscheinen.

Skandale über Skandale

Auf die Fehler des Anderen zu verweisen dürfte auch nicht weiterhelfen. So sind zwar die Gedächtnislücken von Olaf Scholz in Sachen Wirecard und Cum Ex-Skandal kritisierbar und die Sachverhalte verdienen restlos aufgeklärt zu werden, allerdings gilt mit der Masken- und Aserbaidschan-Affäre der Union wohl das Sprichwort: ,,Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.“ Dies umso mehr, als im Laschet-Land NRW die Vergabe des Auftrags an Van Laack für die Fertigung von Schutzausrüstung rechtswidrig war, ebenso wie der Bau (Bebauungsplan) des Kraftwerks Datteln IV und die Räumung des Hambacher Forsts. Laschet sind daher die Möglichkeiten verbaut, um seinen Herausforderer wirksam anzugreifen.

Auch die ,,Razzia“ im Bundesfinanzministerium ist näher besehen untauglich, um Scholz daraus einen Strick zu drehen. Wie im Verfassungsblog bei Professor Wieland nachzulesen ist, scheint die Durchsuchung unverhältnismäßig gewesen zu sein. Dass der Behördenchef und die Justizministerin ein CDU-Parteibuch haben und ersterer schon in einem anderen Fall mit unkonventionellem Vorgehen aufgefallen ist, lassen zusammen mit dem Umstand, dass die Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft sich nicht mit dem Durchsuchungsbeschluss deckt, höchste Zweifel dahingehend aufkommen, ob all dies nicht ein schlechtes Wahlkampfmanöver ist. Es scheint deshalb auch nicht beim Wähler zulasten von Scholz zu verfangen.

Kontinuität und Reformgeist

Entscheidend ist vielmehr, dass Scholz eher mit einer Politik der Mitte in Kontinuität zur Merkel-Kanzlerschaft wahrgenommen wird. Er war als Minister Teil ihrer Regierung. Seine Partei hat ganze 12 Jahre der Merkel-Ära mitregiert und mitgeprägt. Viele Gesetze wurden durch die Sozialdemokraten eingebracht und auch die tiefgreifenden Reformen Schröders wirkten in die Amtsgeschicke der Nachfolgerin hinein.

Auch wenn die Bundeskanzlerin nun Wahlkampfveranstaltungen mit Armin Laschet und mit große Nähe vermittelnden Liedern wie Helene Fischers Herzbeben abhält: ein inhaltlich stimmiger Übergang wird von vielen Wählern darin nicht gesehen. Friedrich Merz etwa war in der CDU gewissermaßen der parteiinterne Widersacher zu Merkel. Mit ihm im Zukunftsteam ist es nur schwerlich vorstellbar, Merkel-Wähler für sich zu gewinnen. Die Stimmen dürften insofern irreversibel zur SPD und den Grünen abgewandert sein.

Wegen der widersprüchlichen Coronapolitik dürfte auch die FDP Stimmen der Union gewinnen, was misslich ist, da der entschlossene Kurs der Kanzlerin zu Anfang der Pandemie Höchstwerte für die Union gebracht hat. Hätte Laschet hier mehr Profil gezeigt in Richtung Kanzlerkurs statt bei den Bund-Länder-Konferenzen Initiativen aus dem Kanzleramt zu verwässern und mit Blockaden aus dem eigenen Lager die Kanzlerin regelrecht auflaufen zu lassen, hätte er wie Merkel und Söder wohl mehr Zustimmung und höhere Beliebtheitswerte in den Umfragen erfahren.

Auf der anderen Seite geht es nicht nur um Kontinuität, sondern auch Reformwillen. Besonders im Themenbereich Arbeit, Pflege, Klimaschutz, Digitalisierung, Altersarmut und Mietpreise wirken die Vorhaben der Grünen und SPD energischer und authentischer als die Versprechen Laschets. Dass er die amtierende Digitalstaatssekretärin Dorothee Bär in sein Zukunftsteam aufgenommen hat, dürfte angesichts des Zustands der Digitalisierung in Deutschland in den Augen vieler Wähler auch kein Pluspunkt für ihn sein.

Dies alles spricht auch eher dafür, dass am heutigen Abend der Wahlsieger nicht Armin Laschet heißen wird.

Koalitionsoptionen

Alles entscheidend ist jedoch der Umstand, dass der/die Kanzler/in nach dem Grundgesetz nicht vom Wähler direkt, sondern von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages gewählt wird. Die Würfel sind deshalb schon gefallen und unabhängig von den vorstehenden Erwägungen sollte Scholz selbst dann noch Kanzler werden, wenn die CDU vor der SPD am Wahlabend läge.

Nach allen Umfragen ergibt sich nämlich und das ist des Pudels Kern: eine strukturelle linke Mehrheit bei den diesjährigen Wahlen (wenn die LINKE nicht überraschend den Einzug in den Bundestag verpasst)! Selbst nach der Allensbach-Umfrage dürfte es bei Rot-Grün-Rot für eine absolute Mehrheit gerade so reichen. Scholz als Günstling des Seeheimer Kreises wird allerdings eher kein primäres Bündnis mit der LINKEN anpeilen, auch wenn diese sich diesmal nicht verschließen dürfte. Vor allem wird er es deshalb nicht, da diese Option nur eine äußerst schwache parlamentarische Mehrheit ergäbe von vielleicht nur 3 Stimmen. Die Ungewissheit mitregieren zu lassen, ob eine derartige Koalition über die gesamte Legislaturperiode hält und alle Gesetze durchkommen, ist mitnichten ein präferables Szenario. Zudem dürfte der Widerstand einzelner SPD-Abgeordneter gegen ein Bündnis mit der LINKEN im Anschluss der damaligen Hessen-Wahl, der zum politischen Karriereende von Andrea Ypsilanti führte, der SPD noch in traumatischer Erinnerung sein.

Wahrscheinlicher ist, dass Scholz mit der prinzipiellen Möglichkeit, sich mit den Stimmen der LINKEN zum Kanzler (auch einer linkstolerierten Minderheitsregierung!) als Plan B wählen lassen zu können, der FDP die Pistole auf die Brust setzen wird, sodass es an ihr hängt, einen Linksruck zu verhindern, was Lindner als Ziel in letzter Zeit häufiger betonte und dann als große Tat verkaufen kann. Nach der schlechten Erfahrung mit der schwarz-gelben Regierung von 2009-2013, welche für die FDP im nachfolgenden Scheitern an der 5%-Hürde endete, kann es sein, dass die Liberalen für eine Ampelkoalition offener sind als viele denken. Beispiele einer funktionierenden sozial-liberalen Zusammenarbeit gab es schon früher. Entscheidend wird sein, dass alle Koalitionsparteien genügend Freiraum haben werden, um sich zu profilieren und eigene Akzente zu setzen. All dies wird Teil der Koalitionsverhandlungen sein und es ist anzunehmen, dass Scholz gegenüber der FDP großzügig sein wird.

Allein die Grünen könnten einer Scholz-Kanzlerschaft am Ende einen Strich durch die Rechnung machen. Da allerdings über 70% der Grünen-Wähler und eine Mehrheit der Basis für eine Koalition mit der SPD sind, wäre der Gang in eine Jamaikakoalition kaum zu vermitteln. Die Grünen würden dabei riskieren, von Schwarz-Gelb in die Zange genommen zu werden, zumal Laschet und Lindner in NRW als Koalitionspartner ein eingespieltes Team und persönlich befreundet sind, was die Grünen im klimakonformen Zweirad-Jargon zu einer Art dritten Rad macht und der ernstlichen Gefahr aussetzt, bei der nächsten Bundestagswahl massiv Stimmen zu verlieren. Nur mit der SPD in einer Koalition ist hingegen wegen der inhaltlichen Nähe vorstellbar, dass die Grünen am meisten von ihrem ambitionierten Klimaprogramm durchbekommen und kein schwacher Koalitionspartner sein werden. Zudem entspricht es dem Willen von 47% (gegenüber 20% für Laschet) der befragten Wähler, dass Olaf Scholz ins Kanzleramt einzieht, was auch noch bei Koalitionsverhandlungen von gewisser Bedeutung sein könnte.

Da Laschet nach der skandalösen Thüringen-Wahl sowie angesichts von CDU-Bundesparteitagsbeschlüssen und eigenen Aussagen, wonach er nicht mit der AFD kooperieren werde, keine Kanzlermehrheit ohne die Grünen bekommen kann, ist die Kanzlerschaft bereits jetzt für ihn so gut wie ausgeschlossen.

Der neue Kanzler wird Olaf Scholz heißen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dominik Sibarani

Seit Freitag, dem 1. Mai dabei. Jurist und Freigeist mit bohèmiesker Attitüde und Angelschein.

Dominik Sibarani

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