Raphael Fellmer versucht mal wieder, die Welt zu retten. Zusammen mit seinem Geschäftspartner Martin Schott hat der 37-Jährige in Berlin sechs Supermärkte eröffnet. In den „Rettermärkten“ verkauft er überschüssige und abgelaufene Produkte. Und will damit die Lebensmittelverschwendung stoppen.
Auf die E-Mail-Anrede „Sehr geehrter Herr“ antwortet Fellmer duzend und schließt mit „Alles Liebe, Dein Raphael“. Beim ersten Treffen entschuldigt er sich mehrmals, wegen des Coronavirus auf eine Umarmung verzichten zu müssen. Fellmers Unternehmen Sirplus kauft dem Großmarkt, dem Einzelhandel und den Produzenten ab, was in Supermärkten nicht mehr verkauft wird. Für die Produkte zahlt das Unternehmen einen „symbolischen Preis“, der deutlich unter dem herkömmlichen Preis der Ware liegen soll.
„Wir waren ja nicht die ersten Restpostenhändler“, sagt Fellmer. Von anderen Sonderpostenläden unterscheidet sich Sirplus durch das Marketing als Retter und die Finanzierung durch Crowdfunding und vier vermeintlich umweltbewusste Investoren. Den Umstand, dass Überproduktion und Verschwendung problemlos mit ihm und anderen Restpostenhändlern koexistieren, ignoriert Fellmer.
Das Sortiment von Sirplus umfasst Produkte mit Mindesthaltbarkeitsdaten wie im herkömmlichen Einzelhandel und solche, deren Haltbarkeitsdatum seit bis zu einem Jahr abgelaufen ist. Preislich sind manche Artikel um 50 Prozent reduziert, andere kosten genauso viel wie anderswo. Neben den „Rettermärkten“ in Berlin hat Sirplus auch einen Online-Shop und verschickt Lebensmittel mit den Partnern DHL und DPD ins gesamte Bundesgebiet. „Wir wohnen halt nicht alle im hippen Berlin“, sagt Fellmer. Er wolle „allen Menschen die Möglichkeit geben, Teil der Lösung zu werden“. Zwischen dem Kampf gegen die Ressourcenverschwendung und dem Verschicken unzähliger Pakete sieht Fellmer keinen Widerspruch. „Der zusätzliche Treibhausgasausstoß für das Paket und den Versand wird natürlich überkompensiert von dem, was die Leute retten“, sagt er.
Schätzungen des WWF zufolge wurden in Deutschland im vergangenen Jahr 18 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet – etwa 570 Kilogramm pro Sekunde. Alle Lebensmittel, die von Neujahr bis zum 2. Mai 2019 produziert wurden, landeten also im Mülleimer. Angeregt durch die Europäische Union hat sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, die Menge der weggeworfenen Lebensmittel bis 2030 zu halbieren. In Frankreich sind Supermärkte seit vier Jahren per Gesetz dazu verpflichtet, nicht verkaufte Lebensmittel an gemeinnützige Organisationen abzugeben. Andernfalls drohen ihnen Geldstrafen. Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, setzt hingegen wie so oft auf Selbstverpflichtungen. Das tatsächliche Ausmaß des großen Wegschmeißens lässt sich nur erahnen. Seine genaue Erfassung ist nicht im Interesse der Unternehmen, für die sich die Überproduktion finanziell rentiert.
Alle Macht den Konsumenten
Fellmers Plan gegen diesen Missstand ist leicht erklärt: Je mehr Menschen bei Sirplus einkaufen, desto weniger Produkte setzen die etablierten Supermärkte ab. Diese bleiben auf ihrer Ware sitzen und machen weniger Gewinn. Das soll sie wiederum dazu bewegen, künftig weniger Ware zu bestellen. Als Ergebnis würde weniger produziert und dadurch weniger verschwendet werden.
Doch Fellmers Plan greift zu kurz. Denn die Gründe für die Überproduktion und die Verschwendung von Lebensmitteln sind komplizierter, als es den Anschein hat. Tatsächlich wissen Supermarktbetreiber, dass viele Waren, die sie anbieten, gar nicht gekauft werden. Wer kann schon von sich sagen, dass sein Lieblingsobst die exotische Drachenfrucht ist? Sie schmeckt nach nichts und landet – wie Valentin Thurn und Stefan Kreutzberger in ihrem Buch Die Essensvernichter schreiben – zu 80 Prozent im Müll. Trotzdem wird sie angeboten. Sie soll den Kunden signalisieren, dass der Supermarkt, in dem sie einkaufen, alles anbietet – sogar das Exotischste.
Ein zweites Beispiel: Viele Menschen verzichten im Winter auf Erdbeeren. Trotzdem werden sie in fast jedem Supermarkt angeboten, um nicht zu riskieren, dass Kunden, die Erdbeeren kaufen wollen, nicht nur diese bei der Konkurrenz erwerben, sondern gleich ihren gesamten Einkauf dort erledigen. Erdbeeren im Winter lohnen sich für den Supermarkt selbst dann, wenn ein Großteil davon nicht verkauft wird. Ähnliches gilt für volle Regale mit Brot- und Backwaren kurz vor Ladenschluss. In einer Gesellschaft, in der jederzeit alles für Geld zu haben ist, will kein Supermarkt leere Regale zeigen.
Auf dem freien Markt ist Angebot das Ergebnis betriebswirtschaftlicher Erwägungen, es folgt nur bedingt aus konkreter Nachfrage und tatsächlichem Bedarf. Wenn ein Unternehmen der Ansicht ist, ein Produkt wirke sich positiv auf das allgemeine Kaufverhalten oder die Kundenbindung aus und steigere somit den Profit, wird es produziert und angeboten – ganz gleich, wie gut es sich verkauft. Das Lebensmittel ist für das Unternehmen kein Mittel zum Leben, sondern ein Mittel zum Profit. Die Überproduktion findet statt, weil sie sich für die Händler auszahlt. Anders als Fellmer meint, ist sie weder ein Fehler im System noch ein Zeichen von Ineffizienz. Ironischerweise beugt sich selbst Sirplus den ungeschriebenen Gesetzen des Einzelhandels. Neben Restposten bietet das Unternehmen auch herkömmliche Produkte zum Normalpreis an, um sein Sortiment zu erweitern. „Natürlich wollen alle die Welt retten, aber wir haben alle keine Zeit“, sagt Fellmer. Auch Sirplus will nicht auf Kunden verzichten, die ihren gesamten Einkauf in nur einem Laden erledigen möchten. Ein weiteres Problem besteht darin, dass Supermärkte die Kosten für nicht verkaufte Waren nicht selber tragen müssen. Die Konzerne können Lieferungen mit Verweis auf vermeintliche Qualitätsmängel an Produzenten zurückgeben, ohne für die Waren zu bezahlen. Größere Mengen zu bestellen, als tatsächlich verkauft werden, schadet ihnen daher nicht. Im Gegenteil: Das durch solche Bestellungen provozierte Überangebot drückt die Preise und steigert den Profit der Konzerne zulasten von Landwirten und Lieferanten. Die Produkte landen in der Folge auf dem Großmarkt, wo sie zu Ramschpreisen an Restpostenhändler wie Sirplus verschleudert oder direkt vernichtet werden. Es geht um Marktmacht, nicht um Ineffizienz im System: Treiber und Leidtragende der Überproduktion sind nicht dieselben Akteure. Während erstere ein Interesse am Überschuss haben, tragen letztere die Kosten.
Marita Wiggerthale von Oxfam nennt weitere Gründe für die Überproduktion. Weil die europäische Agrarpolitik von den Interessen der Ernährungsindustrie beeinflusst wird, seien Regulierungen abgebaut worden, zum Beispiel die Milchquote, die früher für die Beschränkung der Produktion sorgte. Seit deren Abschaffung sind die Milchüberschüsse – unter anderem gefördert durch Investitionsbeihilfen für Stallbauten – gestiegen. Dazu kommt: Die durch die Überproduktion fallenden Preise zwingen auch kleine Betriebe dazu, immer mehr zu produzieren, um zu überleben.
Fragt man Raphael Fellmer nach den Ursachen der Überproduktion, spricht er vor allem von individuellen Konsumenten, ihren Bildungslücken und von fehlenden Erfahrungen beim Gemüseanbau. Für Fellmer ist die Lebensmittelverschwendung ein Problem, für das alle verantwortlich sind, weshalb alle Teil der Lösung sein könnten. „Ich glaube sehr stark an die Macht des Konsumenten“, sagt er.
Dabei ist diese sehr beschränkt. Die Handlungsoptionen beschränken sich im Wesentlichen darauf, ein bestimmtes Produkt nicht zu kaufen. Wie dieses Kaufverhalten von den Unternehmen interpretiert wird und wegen welcher Anreize Unternehmen tatsächlich zu viel produzieren, liegt nicht in der Hand des Konsumenten.
Um seine Vision von einer Welt ohne Hunger und weggeschmissene Lebensmittel zu realisieren, wähnt sich Fellmer trotzdem auf dem rechten Weg. Dabei versperrt es die Sicht auf die Ursachen der Verschwendung, wenn man sich darauf beschränkt, Lebensmittel vor dem Mülleimer zu bewahren. Die gegenwärtige Produktionsweise bleibt davon unberührt. Was zulasten von Menschen und Umwelt im Überfluss produziert wurde, wird künftig wohl weiterhin weggeworfen werden. Die gute Nachricht für die Treiber der Überproduktion: Der Müll landet zumindest nicht im eigenen Mülleimer.
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