Klassenkampf auf Grönländisch

Nuuk Seit 2009 ist Grönland selbstverwaltete Nation im dänischen Königreich. Die jüngsten Parlamentswahlen standen im Zeichen eines Konflikts zwischen Zentrum und Peripherie

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Mit dem schmelzenden Eis verändern sich die Rohstofffragen und Interessenslagen; auch auf dieser Kartoffelfarm in Qaqortoq
Mit dem schmelzenden Eis verändern sich die Rohstofffragen und Interessenslagen; auch auf dieser Kartoffelfarm in Qaqortoq

Foto: Joe Raedle/AFP/Getty Images

Als das Grönländische Fernsehen (KNR) am Freitag, den 28. November 2014, kurz nach Schließung der Wahllokale seine Prognose veröffentlichte, sah alles danach aus, als würde sich bewahrheiten, was die Umfragen seit Wochen vorausgesagt hatten. Sara Olsvig, 36 Jahre alt, studierte Anthropologin und frisch gewählte Vorsitzende der linken Oppositionspartei Inuit Ataqatigiit (IA), würde, so ließ sich das Balkendiagramm lesen, gemeinsam mit den sozialliberalen Demokraten eine souveräne Mehrheit erhalten und Grönlands neue Premierministerin werden. Die bisherigen Regierungsparteien, die sozialdemokratische Siumut und die bürgerliche Atassut, lagen weit abgeschlagen. Doch es sollte anders kommen.

Als sich nicht mehr leugnen ließ, dass die tatsächlichen Hochrechnungsergebnisse erheblich von der Prognose abwichen, diese gar ins Gegenteil verkehrten, räumte der Moderator ein, auf welche Weise der »Exit Poll« zustande gekommen war. Man hatte direkt nach dem Urnengang gut 1100 Wähler nach deren tatsächlichem Wahlverhalten gefragt, eine Zahl, die bei rund 40000 Wahlberechtigten eigentlich repräsentative Daten versprach. Allerdings hatte das Fernsehen seine Demoskopen nur in die vier größten Städte geschickt. In der Hauptstadt Nuuk, dem wichtigen Fischereihafen Sisimiut, der Tourismushochburg Ilulissat und dem wirtschaftlich angeschlagenen Qaqortoq ganz im Süden lebt zusammen etwas mehr als die Hälfte der Grönländer. Verlässliche Daten ließen sich hier trotzdem nicht ermitteln.

Die Schwierigkeiten der Meinungsforscher verdeutlichen Besonderheiten, die in Grönland Teil der politischen Realität sind. Keiner der 74 bewohnten Orte ist mit einem anderen durch eine Straße verbunden. Flugzeuge, Helikopter und eine in den Sommermonaten verkehrende Fähre sind die einzigen Städte und Dörfer verbindenden Verkehrsmittel. Auch Politiker, Journalisten und Demoskopen verfügen nicht über ausreichend Zeit und finanzielle Mittel, um in allen Landesteilen präsent zu sein. In der Bevölkerung trägt die spärliche Infrastruktur zu sozialer Ungleichheit und zur Verfestigung höchst unterschiedlicher Lebensentwürfe bei, Konfliktlinien, die sich auch im Wahlverhalten niederschlagen. Während eine privilegierte, gebildete und global orientierte Elite aus Nuuk mittlerweile zum Einkaufen ins isländische Reykjavík, häufig nach Kopenhagen und von dort in alle anderen Teile der Welt fliegt, stellt schon eine Reise in die Hauptstadt in den Biografien vieler Bewohner der abgelegenen Landesteile ein einmaliges Ereignis dar. Das Durchschnittseinkommen in Nuuk ist viermal höher als in den ärmsten Küstenorten.

Nuuk gegen den Rest

Die unterschiedlichen Lebensrealitäten in Zentrum und Peripherie werden besonders dann sichtbar, wenn auch diejenigen eine Stimme haben, die im Alltag nur selten Gehör finden. An den Wahlen nehmen auch die traditionell lebenden Fischer und Robbenfänger an den zahlreichen Außenposten teil, an der alltäglichen politischen Debatte in der Regel nicht. So bewahrheitet sich im selbstverwalteten Grönland, was der Soziologe Seymour Martin Lipset bereits zu Beginn der 1980er Jahre als generelle Entwicklung aller demokratischen Systeme prognostiziert hatte: die Relevanz der klassischen ökonomischen Scheidelinie zwischen links und rechts schwindet zugunsten eines neuen gesellschaftlichen Konflikts, der zwischen jenen ausgetragen wird, die in soziokulturellen Fragen postmaterielle Positionen vertreten (können) und jenen, die an traditionellen Werten festhalten.

Letztere Wähler vertreten in Grönland die sozialdemokratische Siumut-Partei und die neue Partii Naleraq des ehemaligen Premierministers Hans Enoksen, die sich als Lobby der kleinen Leute und der Fischereiwirtschaft versteht. Wie die urban orientierte Inuit Ataqatigiit (und die inzwischen bedeutungslose Partii Inuit) verorten sich auch Siumut und Naleraq auf der linken Hälfte des politischen Spektrums. In der Tat: Mehr als 80 Prozent der Grönländer haben links gewählt, mehr als 90, wenn man die sozialliberalen Demokraten dazurechnet. Von der »rotesten Demokratie der Welt« sprach Journalist Lars Trier Mogensen in der dänischen Zeitung Information. Dennoch: Bei der Suche nach einer gemeinsamen politischen Linie haben die Kategorien links und rechts jegliche Bedeutung verloren. In Grönland schwelt ein sozialer Konflikt, der sich mit dem Schlagwort »Nuuk gegen den Rest« beschreiben lässt. Eine Prognose, die die Stimmen aus der Hauptstadt überrepräsentiert, liefert zwangsläufig ein verzerrtes Bild.

Nachdem die Siumut-Partei mit ihrem neuen Vorsitzenden, dem Polizeibeamten Kim Kielsen,entgegen aller Erwartungen über den gesamten Wahlabend hinweg souverän in Führung gelegen hatte, wurde es kurz vor Schluss doch noch spannend. Endlich waren auch die Stimmen aus Nuuk ausgezählt. In der Hauptstadt hatten sich fast 70 Prozent der Wähler für Inuit Ataqatigiit und Demokraten entschieden. Auf einmal lagen reformaffiner Stadtblock und Traditionalisten landesweit fast gleichauf. Mit nur 300 Stimmen Vorsprung machte Siumut am Ende das Rennen. Nach kurzen Verhandlungen bildete Kielsen eine Koalitionsregierung, die aus seiner Siumut-Partei, deren traditionellem bürgerlichen Partner Atassut und den bislang oppositionellen Demokraten besteht. Das Bündnis hat eine knappe Mehrheit von zwei Stimmen im Parlament. In den hippen Cafés im Stadtzentrum von Nuuk herrscht seit dem Wahlabend Katerstimmung; von einem »schwarzen Freitag« ist die Rede.

Jahre des Aufbruchs

Noch vor ein paar Jahren hatte alles ganz anders ausgesehen. 2008 hatte sich eine überwältigende Mehrheit der Grönländer in einer Volksabstimmung für die Selbstverwaltung ausgesprochen. Es begann eine Zeit des Aufbruchs. Grönländisch wurde Amtssprache, der lokalen Regierung wurden zahlreiche neue Verantwortlichkeiten übertragen, unter anderem für die Verwaltung der unter dem schmelzenden Eis vermuteten Rohstoffe, die langfristig eine völlige Loslösung von Dänemark finanzieren könnten. Bis 1953 war Grönland dänische Kolonie gewesen, danach dänische Provinz. Die grönländischen Wähler hatten Mut bewiesen – und waren der Meinung, dass neue Politiker her mussten, um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Bei den nächsten Wahlen schickten sie die jahrzehntelang dominierende Siumut-Partei erstmals in der Geschichte des grönländischen Parlamentarismus in die Opposition. Wie in vielen anderen ehemaligen Kolonien war die Regierungszeit der Partei wiederholt von Korruption und Vetternwirtschaft geprägt gewesen. Nun übernahm ein neues Bündnis aus Inuit Ataqatigiit und Demokraten unter Führung von Premierminister Kuupik Kleist (IA).

Kleist ist einer von den Menschen, die den meisten – unabhängig von politischer Nähe – sofort sympathisch und vertrauenserweckend erscheinen. Es muss irgendetwas mit seinem Äußeren zu tun haben, mit seiner Gestik und Mimik. Selbst der treueste Siumut-Anhänger in der grönländischen Provinz würde Kleist bedenkenlos einen Gebrauchtwagen abkaufen, wenn es denn Straßen gäbe, auf denen man damit fahren könnte. Dies und wohl auch seine Herkunft aus Qullissat, einer 1972 rabiat abgewickelten Bergarbeiterstadt und seither Symbol postkolonialer Empörung, mögen begünstigt haben, dass sich die Grönländer 2009 über alle sozialen Klassengrenzen hinweg mehrheitlich für einen politischen Neuanfang unter Kleists Führung aussprachen.

Erstmals hatte Grönland nun eine Regierung, deren Minister größtenteils an Universitäten studiert hatten, zumeist in Dänemark. Hatte Kleists Vorgänger, der heutige Naleraq-Vorsitzende Hans Enoksen, sich ausschließlich auf Grönländisch geäußert und selbst für dänische Gespräche einen Dolmetscher hinzugezogen, so verhandelten die Mitglieder des ersten Selbstverwaltungskabinetts, unter ihnen gleich mehrere junge Frauen, nicht nur auf Dänisch, sondern auch souverän auf Englisch. Zu einer Zeit, als Grönland aufgrund der neuen Selbstverwaltung, des Klimawandels und der im Land vermuteten Rohstoffe weltweite Aufmerksamkeit auf sich zog, machte Kleists Regierung eine gute Figur auf internationalem Parkett. Mit der grönländischen Sprache indes hatten einige der Minister ihre Schwierigkeiten.

Postkoloniale Nachwehen

Das sprachpolitische Schisma Grönländisch versus Dänisch ist eine der zähesten nur schwer zu überwindenden postkolonialen Nachwehen. Obwohl Grönland als zweisprachig zu bezeichnen ist, gilt das längst nicht für alle Bewohner. Es wird geschätzt, dass etwa die Hälfte der Grönländer nur wenig oder gar kein Dänisch spricht und versteht. Hinzu kommt, dass in Ostgrönland und ganz im Norden um die Siedlung Qaanaaq Dialekte gesprochen werden, die so stark von der grönländischen Standardvarietät abweichen, dass das Westgrönländische, wie es in Nuuk gesprochen wird, für diese Menschen praktisch erste Fremdsprache ist. Doch es gibt auch Grönländer, die ihre eigene Landessprache nur unzulänglich beherrschen.

Bis in die 1990er Jahre hinein war das Schulsystem streng zweigeteilt; es gab grönländischsprachige und dänischsprachige Klassen. Letztere waren ursprünglich eingerichtet worden, um die Kinder der im Land lebenden Dänen in deren Muttersprache zu unterrichten. Doch auch viele grönländische Eltern entschieden sich für die mit höherem sozialen Status verbundenen dänischen Klassen. Auf diese Weise entstand eine Minderheit von rein dänischsprachigen Grönländern, denen einerseits hervorragende Ausbildungsmöglichkeiten an dänischen Universitäten offenstanden, die aber andererseits nicht in der Lage waren mit ihren Landsleuten außerhalb des dänisch geprägten Nuuk zu kommunizieren, und denen daher zuweilen vorgeworfen wird, keine richtigen Grönländer zu sein.

Wie offen die aus dem Sprachenkonflikt resultierenden Wunden noch immer sind, illustriert die kurze Erfolgsgeschichte der Partii Inuit, die 2013 aus dem Stand mit über sechs Prozent der Stimmen ins grönländische Parlament einzog. Empört über Kleists Inklusion der rein dänischsprachigen Minister in sein Kabinett, erklärte sich die Partei zur Interessenvertreterin all jener, die nur die grönländische Sprache beherrschen, und forderte die Verbannung des Dänischen aus allen öffentlichen Institutionen. Konnte die Partei mit ihrer radikal antikolonialen Rhetorik beim ersten Mal noch punkten, so war sie bereits anderthalb Jahre später zur Splittergruppe geworden. Die konsequente Weigerung der freilich zweisprachigen Politiker, sich gegenüber den Medien auf Dänisch zu äußern und an den zahlreichen dänischsprachigen Podiumsdiskussionen teilzunehmen, wurde selbst von der eigenen Zielgruppe nicht goutiert. Nur Grönländisch zu sprechen, ist für niemanden Grund persönlichen oder nationalen Stolz zu empfinden. Im Gegenteil: Es ist ein Grund zur Scham. Privilegierte, die sich, indem sie freiwillig auf den Gebrauch des Dänischen verzichten, zu Repräsentanten der stigmatisierten Einsprachigen erklären, lassen die vermeintlich Repräsentierten die tägliche Demütigung gleich doppelt spüren.

Sozialer Aufstieg – das ist das postkoloniale Dilemma – ist in Grönland eng mit dem Beherrschen der dänischen Sprache verbunden. Für die gut bezahlten Jobs in Nuuk ist Zweisprachigkeit Voraussetzung, im Zweifelsfall reicht Dänisch aus. Die wiederkehrende Forderung, die erste Fremdsprache Dänisch doch gleich durch das international viel wichtigere und im Fall Grönlands kolonial unvorbelastete Englisch zu ersetzen, erscheint nur auf den ersten Blick als naheliegende Lösung. Grönländer sind dänische Staatsbürger, denen ein Umzug nach Kopenhagen, Aarhus oder Tullebølle jederzeit bedingungslos offensteht. Der für Grönländer am leichtesten zugängliche Arbeits- und Ausbildungsmarkt außerhalb des Heimatlandes würde wegfallen, entschiede man sich für die Hintanstellung des Dänischen auf den Lehrplänen.

Nation Branding

Auch wenn die Konflikte um Sprachfertigkeiten, Ethnizität und die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder aufgeworfene Frage, was einen Grönländer eigentlich ausmacht, noch längst nicht beigelegt sind, konnte man in der Regierungszeit Kuupik Kleists den Eindruck gewinnen, dass andere Themen den Grönländern zumindest wichtiger waren. Auf der Welle der positiven Grundstimmung, die die errungene Selbstverwaltung ausgelöst hatte, wurden originelle – teilweise witzige – Nation Branding-Kampagnen entworfen, grönländische Akteure aus Politik, Wirtschaft und Kultur traten souverän und selbstbewusst im Ausland auf, und selbst in Dänemark häuften sich die Anzeichen dafür, dass der verbreitete paternalistische Blick auf die ehemalige Kolonie allmählich einer Sichtweise wich, die Grönland als gleichberechtigte Partnerin innerhalb des Königreichs anerkannte. Wie ausgeprägt der Akzent des Einzelnen, wie dunkel sein Haar, und wie ausgewogen das Verhältnis zwischen Dänen und Inuit auf seinem Stammbaum war, schienen auf einmal nebensächliche Fragen zu sein. Wer sich mit dem neuen selbstverwalteten Grönland identifizierte, gehörte auch dazu. Am Horizont über der Davis Strait ließ sich bereits die souveräne Staatsnation erahnen.

Angesichts der durchweg gut bewerteten Performanz des ersten Selbstverwaltungskabinetts und der sich positiv entwickelnden Wirtschaft ist erstaunlich, dass die grönländischen Wähler Kuupik Kleist bei den Wahlen im Frühjahr 2013 eine zweite Amtszeit verwehrten. Eine Erklärung dafür mag sein, dass die Realpolitik des besonnenen Premiers den durch die Selbstverwaltung euphorisierten Grönländern nicht markant genug in Richtung einer erhofften wirtschaftlichen Unabhängigkeit und einer daraus folgenden Loslösung von Dänemark wies. Denkbar ist auch, dass sich manche Wähler von der Regierung übergangen oder misrepräsentiert fühlten, jene etwa, die sich aufgrund mangelnder Ausbildung nicht schnell genug an das von Kleist skizzierte global orientierte Grönland anzupassen vermochten. Die postkolonialen Wunden, von denen in Kleists Regierungszeit kaum noch die Rede war, sind noch nicht überall verheilt. An dieser Stelle kam Aleqa Hammond von der Siumut-Partei ins Spiel, die vorgab die heilende Salbe zu kennen. Von März 2013 bis Oktober 2014, als Nuuks Bürger sie förmlich aus dem Amt jagten, war Hammond Grönlands erste Premierministerin.

Ask Rostrup kriegt einen Schreck

Für den Bruchteil einer Sekunde konnte man dem politischen Kommentator des Dänischen Rundfunks (DR) Ask Rostrup anmerken, dass er selbst darüber erschrocken war, was er soeben gesagt hatte. Während ganz Grönland auf die Ergebnisse aus Nuuk wartete, die darüber entscheiden würden, ob das neue Oberhaupt des Landes Kim Kielsen oder Sara Olsvig hieß, hatte das grönländische Fernsehen einige Experten ins Studio geladen. Zusammen mit Rostrup, bekannt für seine scharfzüngigen Analysen, ließ der Moderator Aleqa Hammonds anderthalbjährige Regierungszeit Revue passieren. Dann folgte die Schlussbewertung des dänischen Gasts. Zu keinem Politiker weltweit, resümierte Rostrup, habe Dänemarks Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt je ein schlechteres Verhältnis gehabt als zu Hammond. Ein kurzes Zucken beim Moderator. Derart deutliche Worte von dänischer Seite waren im grönländischen Fernsehen selten. Ein kurzes Zucken beim Gast. Hatte er die Grenze dessen, was zu sagen sich für einen Medienvertreter der ehemaligen Kolonialmacht ziemt, überschritten? Schließlich ein einvernehmliches Nicken. Rostrups Statement war direkt, aber treffend gewesen. Wie hatte es dazu kommen können, dass die zwei Frauen, Regierungschefinnen im selben Königreich und noch dazu beide Sozialdemokratinnen, ein derart angestrengtes Verhältnis zueinander pflegten?

2013 war das internationale Medieninteresse an den grönländischen Parlamentswahlen groß gewesen. Es gab eine Geschichte zu erzählen. Das an Bodenschätzen reiche Grönland stand am Scheideweg, »arktisches Dubai oder arme Fischernation« zu werden, wusste etwa der Fernsehsender n-tv plakativ zu berichten. Dabei herrschte in der grönländischen Politik grundsätzlich Einigkeit darüber, dass die zahlreichen Rohstoffe, etwa die für die Elektronikindustrie so wichtigen Seltenen Erden, gehoben werden mussten, wenn das Land eines Tages wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen sollte. Die strittige Frage war also nicht das Ob, sondern das Wie. Kuupik Kleists Regierung machte niemandem Illusionen. Erst künftige Generationen würden von den Rohstoffeinnahmen profitieren. Die aufwändigen Bergbauvorhaben wollte Kleist von langer Hand vorbereiten und mit Hilfe internationaler Experten planen; auf den Abbau von Uran wollte er verzichten. Herausforderin Aleqa Hammond hingegen vermittelte den Eindruck, als könne nun alles ganz schnell gehen – und vor allem ohne dänische Hilfe. Ihr Ziel sei, ließ sie die Wähler wissen, ein unabhängiger grönländischer Staat zu ihren Lebzeiten, finanziert aus den Einnahmen der Minenindustrie. Hammond war zu diesem Zeitpunkt 47 Jahre alt.

Grönländischer Nationalismus

Die nationalistischen Untertöne in der Rohstoffdebatte wurden von den internationalen Medien zumeist nicht zur Kenntnis genommen; für die Grönländer waren sie wahlentscheidend. Es war Hammond gelungen, einen Keil zwischen die einfachen Leute und die international orientierte Nuuker Elite zu treiben, die sich im Dänischen ebenso zu Hause fühlte wie im Grönländischen, und für die die Aufarbeitung etwaiger postkolonialer Traumata daher keine Rolle mehr spielte. Hammonds diskursive Allianzbildung zwischen Volk und Regierung, die sich gegen eine vermeintlich volksferne kulturelle Elite richtet, erinnert stellenweise an die Strategien rechtspopulistischer Parteien auf dem europäischen Festland.

Aleqa Hammond ist eine soziale Aufsteigerin. Darüber spricht sie gern und viel. Die Tochter eines nordgrönländischen Robbenfängers ist in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Da sie nicht in Roskilde oder Kopenhagen studiert hat, sondern in den USA und Kanada, sind ihre persönlichen Verbindungen nach Dänemark weniger stark ausgeprägt als die der meisten anderen privilegierten Grönländer. Als sie die dänische Zeitung Information fragte, was das Beste sei, das sie von den Dänen gelernt habe, antwortete Hammond freilich im Scherz, das sei das Rezept für braune Soße – und bewies damit erhebliches diplomatisches Ungeschick. Die Äußerung war allzu symptomatisch für den harschen Ton, den die neue Regierung gegenüber Dänemark und der dänischsprachigen Minderheit im eigenen Land angeschlagen hatte.

Gleich mehrere der zu Kuupik Kleists Regierungszeit eingestellten Experten an den Spitzen der landeseigenen Unternehmen ersetzte Hammond durch die sprichwörtlichen Vettern, die oftmals die nötigen Qualifikationen vermissen ließen. Zudem setzte die Premierministerin eine Versöhnungskommission ein, die sich mit der Aufarbeitung des in der Kolonialzeit und darüber hinaus begangenen Unrechts befassen sollte. Was grundsätzlich keine schlechte Idee war, verwandelte sich schnell zur rhetorischen Kriegserklärung. Es lag auf der Hand, dass die dänische Regierung in einem solchen Gremium nicht Platz nehmen würde. Sie hätte unweigerlich dem indirekten Vergleich der eigenen Kolonialvergangenheit mit dem südafrikanischen Apartheitsregime zugestimmt. Es war Mandelas Südafrika, wo 1996 erstmals eine Versöhnungskommission ihre Arbeit aufnahm.

Als Hammonds Koalition das bislang geltende Uranabbau-Verbot mit der denkbar knappsten Parlamentsmehrheit aufhob, fühlten sich nicht nur große Teile der Grönländer vor den Kopf gestoßen. Auch die Dänen sahen sich übergangen. Man war der Ansicht, dass eine solche Entscheidung ins Ressort der Außen- und Sicherheitspolitik und somit in Kopenhagener Zuständigkeit fiel. Auch die internationalen Konzerne, die Interesse bekundet hatten in die grönländischen Bergbauprojekte zu investieren, registrierten die neuen internen und externen Spannungen und die zuweilen schlichtweg unseriös wirkende Performanz von Hammonds Kabinett. Auf einmal erschien ein Engagement in Grönland ein äußerst risikobehaftetes Vorhaben zu sein; das »Rohstoffabenteuer«, von dem die internationalen Medien im Vorfeld der Wahlen teils euphorisch berichtet hatten, war nur wenige Monate später in weite Ferne gerückt.

Neuwahlen

Es war das versuchte Aussitzen eines Spesenskandals, das Aleqa Hammond im Oktober 2014 zu Fall brachte. Aus einem Prüfungsbericht des Finanzausschusses war hervorgegangen, dass die Premierministerin private Reisen und eine Familienfeier aus öffentlichen Mitteln finanziert hatte. In den Augen vieler Grönländer war die Affäre der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hier zeigte sich, dass Grönland eben nicht jene »Bananenrepublik« war, von der die dänischen Zeitungen – hier Børsen – inzwischen wieder sprachen. Die Sympathien der dänischen Öffentlichkeit für die Führung der arktischen Insel waren binnen eines Jahres merkbar abgekühlt. Doch Hammonds arrogantes Auftreten und ihr offenkundiger Mangel an Demut nach Bekanntwerden der Veruntreuung erinnerten zu sehr an überwunden geglaubte Zeiten, als dass die Grönländer die Verfehlungen der Premierministerin hätten durchgehen lassen. Atugagdliutit und Sermitsiaq, die beiden einzigen Zeitungen des Landes, sprachen sich unmissverständlich für Neuwahlen aus, und nachdem ein Misstrauensvotum im Parlament zunächst gescheitert war, dauerte es nur wenige Tage, bis der kleine Koalitionspartner Atassut und einige Siumut-Minister Hammond endgültig das Vertrauen entzogen. Insbesondere die Jugendverbände der Parteien hatten ihre Abgeordneten mit Nachdruck zu diesem Schritt aufgefordert. Für die junge Generation im selbstverwalteten Grönland ist Machterhalt kein Selbstzweck mehr – unabhängig vom politischen Standpunkt.

Am Tag des Misstrauensvotums forderten vor dem Parlament in Nuuk rund 600 Menschen Hammonds Rücktritt. Eine so große Demonstration hatte es in der Geschichte Grönlands noch nicht gegeben. Dass der Protestzug nicht nur die Meinung der Nuuker Bildungselite repräsentierte, die Hammond ohnehin kritisch gegenüber stand, veranschaulicht eine von der Zeitung Sermitsiaq in Auftrag gegebene Umfrage. Auf dem Höhepunkt des Spesenskandals sprach sich selbst in den abgelegenen Siedlungen eine Mehrheit für die junge IA-Politikerin Sara Olsvig als Premierministerin aus. Zu diesem Zeitpunkt stand die Kür Kim Kielsens als Hammonds Nachfolger im Amt des Siumut-Vorsitzenden freilich noch bevor. Kielsens Sieg bei den Neuwahlen am 28. November 2014 kam dennoch einer Überraschung gleich. Nur einen Tag zuvor war durchgesickert, dass der Haushalt des Siumut-Kabinetts ein erhebliches Defizit aufwies, eine unangenehme Wahrheit, die Finanzminister Vittus Qujaukitsoq (S) offensichtlich bis nach den Wahlen hatte geheim halten wollen. Hatten vor anderthalb Jahren die Rohstoffdebatte, die angestrebte Unabhängigkeit und allgemein nationalistische Töne den Wahlkampf dominiert, so stand nun die in die Krise geratene Ökonomie des Landes im Fokus.

Kim Kielsens Partei ist beides: Wahlgewinnerin und -verliererin. Zwar konnte sich Siumut knapp als stärkste politische Kraft behaupten, musste aber gegenüber 2013 rund acht Prozentpunkte abgeben; das Ergebnis von Inuit Ataqatigiit ist nahezu gleich geblieben. Dass Kielsen dennoch auf eine große Koalition verzichten kann, liegt am Wahlerfolg der Demokraten und von Hans Enoksens Partii Naleraq, die als Anwältin der Fischereiwirtschaft ein ähnliches Programm vertritt wie Siumut. Allein in der Uran-Frage sind sich die beiden Parteien uneinig, was eine eigentlich naheliegende Zusammenarbeit von Siumut und Naleraq letzten Endes verhinderte. Enoksen hatte zu Beginn des Jahres aufgrund eines persönlichen Konflikts mit Hammond mit seiner ehemaligen Partei gebrochen. Nach dem Spesenskandal bot sich Naleraq vielen vorherigen Siumut-Wählern offenbar als unvorbelastete Alternative an. Auch in der neuen Siumut-Fraktion sitzen mehrere politische Newcomer, während einige prominente Regierungsmitglieder den erneuten Einzug ins Parlament verfehlten. Das grönländische Personenwahlsystem ermöglicht es, den einzelnen Politiker abzustrafen und doch seiner Stammpartei treu zu bleiben. Überhaupt spielen familiäre und freundschaftliche Verbindungen zu den Kandidaten in einem Land mit nur 56000 Einwohnern oft eine größere Rolle als Zustimmung zu deren politischen Positionen. Während Siumut fast überall verloren hat, konnte die Partei in Kim Kielsens Heimatstadt Paamiut um immerhin drei Prozent zulegen.

Zwei unterschiedliche Kandidaten

»Die Dänen kennen den richtigen Kim Kielsen nicht«, schrieb Journalist Bent Højgaard Sørensen am Wahltag in der dänischen Zeitung Berlingske. Vorausgesetzt man hat nur den dänischsprachigen Teil des Wahlkampfs verfolgt, fällt es in der Tat schwer zu verstehen, warum sich die grönländischen Wähler nicht eindeutig für Sara Olsvig entschieden haben. Während Olsvig, eine attraktive junge Frau, als eloquente und sympathische Politikerin auftrat und in akzentfreiem Dänisch ihre Standpunkte darlegte, wirkte Kielsen nervös, oft aggressiv und geriet immer wieder ins Stocken. Er machte einen unprofessionellen Eindruck. Zwar ist Kielsen absolut in der Lage, an einer dänischsprachigen Debatte teilzunehmen, doch verglichen mit Kuupik Kleists, Aleqa Hammonds und eben auch Sara Olsvigs Sprachkenntnissen wirkt sein Dänisch geradezu mangelhaft. Auch wird sich manch ein dänischer Beobachter des politischen Grönland selbstkritisch fragen müssen, ob Kielsen, der konsequent im blauen Anorak auftrat, nicht auch rein physiognomisch ein bisschen zu sehr »Eskimo« ist, als dass man dem Politiker aus europäischer Sicht Vertrauen schenken könnte. Mehrere Jahrhunderte stereotyper dänischer Darstellungen von Grönländern haben ihre Spuren hinterlassen. Frantz Fanon lässt grüßen.

Für die grönländischen Wähler indes haben derartige Überlegungen keine Rolle gespielt. Wie zu lesen ist, konnte Kielsen in den grönländischsprachigen TV-Duellen durchaus überzeugen und schließlich, indem er sich als bodenständiger Mann aus dem Volk präsentierte, den Rückstand seiner Partei wettmachen. Mit Kielsen und Olsvig standen zwei äußerst unterschiedliche Politikercharaktere zur Wahl, was die auseinanderklaffenden Wahlergebnisse in Hauptstadt und Peripherie nur unterstreichen. Während die Anthropologiestudentin Olsvig im Kopenhagen der Nuller Jahre Bourdieu und Lévi-Strauss las, ging Polizist Kielsen im sozial belasteten Paamiut auf Ganovenjagd. Während Olsvig mit den meisten ihrer Wähler auf Facebook befreundet ist, steht in Kielsens Büro - wie er dem dänischen Fernsehen stolz vorführte - eine Tiefkühltruhe mit selbst erlegtem Rentierfleisch.

Die beiden Kandidaten repräsentieren je einen Teil der grönländischen Bevölkerung, die einander fremd geworden sind. Kuupik Kleists von manchen als zu rasant empfundener Reformeifer und Aleqa Hammonds schädliches Ausspielen der Armen gegen die Privilegierten, der Fischer gegen die Studierten und der Grönländischsprachigen gegen die Bilingualen haben die gesellschaftliche Spaltung befördert. Es wäre im Interesse des wirtschaftlich angeschlagenen Landes gewesen, hätten Kielsen und Olsvig zueinander gefunden und eine Koalition der inneren Einigung gebildet. Doch auch wenn sich Kielsen anders entschieden hat, weiß er, dass die alten Zeiten nicht zurückkehren - und dass er unter kritischer Beobachtung steht. Seit Einführung der Selbstverwaltung ist Grönland politisch gereift und hat binnen kurzer Zeit eine starke Zivilgesellschaft entwickelt, in der auch der Opposition eine wichtige Rolle zukommt. Unabhängig davon, ob man Kielsens oder Olsvigs Wirtschaftspolitik für überzeugender hält, muss man sich um die politische Verfassung einer Nation, die eine schlechte Regierung zu stürzen vermag, eigentlich keine Sorgen machen.

Dieser Beitrag erschien zunächst in leicht abweichender Form auf dem Blog der Zeitschrift NORDEUROPAforum.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ebbe Volquardsen

Kultur- und Literaturwissenschaftler mit Schwerpunkt Skandinavien, insbesondere beschäftigen mich Dänemark und die Region Nordatlantik.

Ebbe Volquardsen

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