Opportunismus, Gleichschaltung und Einklang?

Corona-Hype Immer mehr - ehemals linke bzw. kritische - Wissenschaftler, Journalisten und Philosophen outen sich als Hardliner in Sachen "Anti-Corona-Maßnahmen"

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Ich möchte zwei Beispiele dieser Art - von mir bisher sehr geschätzten Philosophen - kurz dokumentieren und darauf aufbauend versuchen, Erklärungen und Gegenpositionen zu entwickeln.

Die Staatsphilosophen

1. Der Philosoph Christoph Quarch in einem Interview (in den Salzburger Nachrichten am 24.12.2020) mit den Leitmotiv "Im Einklang mit der Welt sein – auch wenn sie aus den Fugen scheint"

- "Wenn man eine Formel für das Glück finden möchte, dann ist es die: im Einklang sein. Im Einklang sein mit sich und mit der Welt." (...)

- Das Leben wirft uns immer wieder aus dem großen Einklang heraus. Ein auf Dauer gestelltes Glück ist wohl – wie die Griechen sagen – das Monopol der Götter. Doch wir dürfen augenblickshaft daran teilhaben. „Einmal. Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarf´s nicht“, sagt Friedrich Hölderlin.

- Für das große Glück entscheidend ist, dass ich im Einklang bin mit dem, was größer ist als ich selbst. „Mittanzen im Reigen der Welt, das ist unsere Teilhabe am Glück“, sagt Hermann Hesse treffend.

- Beim großen Glück geht es darum, sich in Demut einzulassen auf das Geschehen dieser Welt und auch das als Geschenk der Fortuna anzunehmen, was vorderhand überhaupt nicht unseren Wünschen entspricht. (...)

- Eine Krise gibt trotz allem die Möglichkeit, neue Horizonte zu erschließen und neue Einsichten zu gewinnen. Zum Beispiel, dass wir wirklich glücklich erst dann werden, wenn wir aus der Selbstbezüglichkeit unserer Interessen und Begierden heraustreten und uns von der Welt in Anspruch nehmen lassen. Wenn wir uns fragen: Was braucht die Welt eigentlich von mir? Wenn ich mein Ziel nicht mehr darin sehe, die eigenen Wünsche zu erfüllen, sondern mitzuschwingen im Chor des Lebens. Wer sich an ein Gipfelerlebnis erinnert, der weiß: Da war ich im Einklang mit mir, gerade weil ich nicht meinem Ego gehuldigt habe, sondern weil ich mich in dieser großen Symphonie und Harmonie des Lebens aufgehoben wusste. Das zu einem Lebensprogramm zu machen, wäre ein sinnvolles Umgehen mit Krisensituationen."

2. Der Philosoph Richard David Precht drückt dies drastischer, unsympathischer und unmissverständlich aus: "Wir dürfen denken, was wir wollen, aber als Staatsbürger haben wir zu funktionieren (...) Wenn Sie nachts durch die Stadt fahren und da ist eine rote Ampel. Dann können Sie sich ja auch sagen, diese Ampel, die macht überhaupt keinen Sinn. Da ist kein anderes Auto, da ist kein Fußgänger. Trotzdem nötigt der Staat ihnen ab, an einer roten Ampel zu halten; einfach weil sie ein guter Staatsbürger sind, der hat sich an die Regeln zu halten und es steht ihm nicht frei, diese Regeln zu interpretieren. Persönlich können Sie denken, die Ampel ist sinnlos. Das können Sie auch Ihrer Frau oder Ihren Freunden sagen. Sie müssen sich aber an die Regeln halten und es ist erschreckend, dass wir ungefähr 15% der Bevölkerung haben, die das immer noch nicht verstanden haben.“ (https://www.nachdenkseiten.de/?p=68101&fbclid=IwAR3ilAWY7F9WaiAiriDZ0dZIOO0Go7duwmU5ySK8WlFwY9nX76tjWaS3EDE)

Jens Berger dazu : "Er zeigt kein Verständnis für jegliche Kritik an den Corona-Maßnahmen der Regierung. An Regeln habe man sich zu halten. Einem guten Staatsbürger stünde es nicht frei, diese zu interpretieren. Hört auf, selbstständig zu denken, Eure Regierung weiß am besten, was gut für Euch ist. Aussagen wie diese könnten auch von chinesischen oder nordkoreanischen Staatsphilosophen stammen. ( NachDenkSeiten am 17.12.2020).

Die Nonkonformisten

1. Der italienische Philosoph Giorgo Agamben in der NZZ am 15.4.2020 (Zitate und Zusammenfassungen):

- im Kampf gegen die Pandemie ist die „Schwelle, welche die Menschlichkeit von der Barbarei trennt, überschritten“. Noch nie in der Geschichte ist es so weit gekommen, dass im Namen eines bloßen Risikos Menschen einsam sterben und ihre Leichen ohne Bestattung verbrannt werden mussten. Im Namen desselben Risikos habe man auch hingenommen, die Pflege von Beziehungen einzustellen. Nicht einmal während der Weltkriege war die allgemeine Bewegungsfreiheit derart eingeschränkt wie jetzt.

- Möglich werden konnte dies, weil die moderne Gesellschaft die Einheit der Lebenserfahrung des Menschen aufgespalten hat: einerseits in die biologische, andererseits in die affektive und kulturelle Dimension des Menschen. Die moderne Medizin habe an dieser Spaltung einen entscheidenden Anteil, mit ihren „Wiederbelebungs-Apparaten”, die „einen Körper in einem Zustand des vegetativen Lebens zu erhalten vermögen”.

- „Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte“

- Die Politik praktiziert ein schweres Fehlverhalten; durch den „leichtfertigen Gebrauch von Notverordnungen”, wodurch sich „die Exekutivgewalt de facto an die Stelle der Legislativgewalt setzt und damit jenes Prinzip der Gewaltenteilung aushebelt, das die Demokratie definiert.”

- Dem Argument, die schweren Opfer seien „im Namen moralischer Prinzipien dargebracht worden”, ist zu erwidern, auch Adolf Eichmann hat sich stets auf seine Gehorsamspflicht und die Staatsräson berufen. „Eine Norm, die besagt, dass man auf das Gute verzichten müsse, um das Gute zu retten, ist ebenso falsch wie die, welche verlangt, dass man auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit zu retten”.

2. Der in Frankfurt/M. geborene Soziologe, Philiosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm (1900-1980)

- "Die Unterwerfung des Menschen unter diese Kombination von Drohung und Versprechen (z, B. "Wenn ihr Euch an die Regeln haltet . ohne wenn und aber - werden wir die Krise überwinden; aber nur dann!" Hinweis E.B.) ist sein eigentlicher Sündenfall. In dem er (der Mensch E.B.) sich der Macht unterwirft, verliert er seine Macht. Er verliert die Kraft , alle seine Fähigkeiten zu gebrauchen, die aus ihm wirklich einen Menschen macht. Seine Vernunft arbeitet nicht mehr; er kann intelligent und durchaus fähig sein, mit den Dingen und mit sich selbst umzugehen, aber er nimmt als Wahrheit an, was diejenigen, die über ihn Macht haben, als Wahrheit bezeichnen. Er verliert sein moralisches Empfinden, da sein Unvermögen, die Machthaber anzuzweifeln und zu kritisieren, sein moralisches Urteil in jeder Hinsicht trübt. (...) Seine eigene Stimme kann ihn nicht mehr auf sich selbst zurückrufen; er hört sie nicht, da er nur noch auf diejenigen hört, die Macht über ihn haben. Freiheit ist tatsächlich die unerlässliche Voraussetzung für das Glück und die Tugend." ( Die Menschen verstehen, dtv, 3. Auflage, Seite 269)

"Das gute (autoritätsfixierte) Gewissen ruft ein Gefühl des Wohlbehagens und der Sicherheit hervor, denn es bedeutet die Zustimmung seitens der Autorität und eine nähere Verbindung mit ihr. Das schlechte Gewissen ruft Furcht und Unsicherheit hervor, weil ein Handeln gegen den Willen der Autorität die Gefahr einschließt, bestraft oder - was noch schlimmer ist - von der Autorität verlassen zu werden." (Die Menschen verstehen, a.a.O., Seite 163 )

Fazit

Völlige Unterwerfung unter den Willen einer (staatlichen) Autorität - nach Precht und Quarch - produziert kein individuelles Glück, sondern Entindividualisierung und damit Entmenschlichung!

Für den, der meint, sich zu unterwerfen, "der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe", und er/sie sei damit gerettet, dem empfehle ich B. Brechts Gedicht von 1935, die ich abschließend zitiere. Sicher ist diese Rede in einem anderen Kontext entstanden, nicht alles ist übertragbar, aber der Aufruf, versuche die Wahrheit - jenseits der regierungsamtlichen Vorgaben - zu erforschen und sie dann auch zu sagen, ist durchhaus gegenwärtig von großer Relevanz!

"Um sein Brot nicht zu verlieren

In den Zeiten zunehmender Unterdrückung

Beschließt mancher, die Wahrheit

Über die Verbrechen des Regimes bei der Aufrechterhaltung der Ausbeutung

Nicht mehr zu sagen, aber

auch die Lügen des Regimes nicht zu verbreiten, also

Zwar nicht zu enthüllen, aber

Auch nichts zu beschönigen. Der so Vorgehende

Scheint nur von neuem zu bekräftigen, dafür entschlossen ist

Auch in den Zeiten zunehmender Unterdrückung

Sein Gesicht nicht zu verlieren, aber in Wirklichkeit

Ist er doch nur entschlossen

Sein Brot nicht zu verlieren. Ja, dieser sein Entschluss

Keine Unwahrheit zu sagen, dient ihm dazu, von nun an

Die Wahrheit zu verschweigen. Das kann freilich

Nur eine kleine Zeit durchgeführt werden. Aber auch zu dieser Zeit

Während sie noch einhergehen in den Ãmtern und Redaktionen

In den Laboratorien und auf den Fabrikhöfen als Leute

Aus deren Mund keine Unwahrheit kommt

Beginnt schon ihre Schändlichkeit. Wer mit keiner Wimper zuckt

Beim Anblick blutiger Verbrechen, verleiht ihnen nämlich

Den Anschein des Natürlichen. Er bezeichnet

Die furchtbare Untat als etwas so Unauffälliges wie Regen

Auch so unhinderbar wie Regen.

So unterstützt er schon durch sein Schweigen

Die Verbrecher, aber bald

Wird er bemerken, dass er, um sein Brot nicht zu verlieren

Nicht nur die Wahrheit verschweigen, sondern

Die Lüge sagen muss. Nicht ungnädig

Nehmen die Unterdrücker ihn auf, der da bereit ist

Sein Brot nicht zu verlieren.

Er geht nicht einher wie ein Bestochener

Da man ihm ja nichts gegeben, sondern

Nur nichts genommen hat.

Wenn der Lobredner

Aufstehend vom Tisch der Machthaber, sein Maul aufreißt

Und man zwischen seinen Zähnen

Die Reste der Mahlzeit sieht, hört man

Seine Lobrede mit Zweifeln an.

Aber die Lobrede dessen

Der gestern noch geschmäht hat und zum Siegesmahl nicht geladen war

Ist mehr wert. Er

Ist doch der Freund der Unterdrückten. Sie kennen ihn.

Was er sagt, das ist

Und was er nicht sagt, ist nicht.

Und nun sagt er, es ist

Keine Unterdrückung.

Am besten schickt der Mörder

Den Bruder des Ermordeten

Den er gekauft hat, zu bestätigen

Dass ihm den Bruder

Ein Dachziegel erschlagen hat. Die einfache Lüge freilich

Hilft ihm, der sein Brot nicht verlieren will

Auch nicht lange weiter. Da gibt es zu viele

Seiner Art. Schnell

Gerät er in den unerbittlichen Wettkampf aller derer

Die ihr Brot nicht verlieren wollen: es genügt nicht mehr der Wille zu lügen.

Das Können ist nötig und die Leidenschaft wird verlangt.

Der Wunsch, das Brot nicht zu verlieren, mischt sich

Mit dem Wunsch, durch besondere Kunst dem ungereimtesten Gewäsch

Einen Sinn zu verleihen, das Unsagbare

Dennoch zu sagen.

Dazu kommt, dass er den Unterdrückern

Mehr Lob herbeischleppen muss als jeder andere, denn er

Steht unter dem Verdacht, früher einmal

Die Unterdrückung beleidigt zu haben. So

Werden die Kenner der Wahrheit die wildesten Lügner.

Und das alles geht nur

Bis einer daherkommt und sie doch Überführt

Früherer Ehrlichkeit, einstigen Anstands, und dann

Verlieren sie ihr Brot."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Erich Becker

Buch- und Theater-Autor

Erich Becker

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