Berlin-Wahl: Auf der Suche nach dem Erfolg der Kleinparteien
Wahlwiederholung 12,5 Prozent der Wähler haben 2021 in Berlin Kleinparteien ihre Stimme gegeben. Diesmal könnten es noch mehr werden. Fünf der Kleinen stellen wir hier vor
Na, wenn das mal nicht die nächste Stimme für die Tierschutzpartei ist
Foto: Hannes Jung/laif
Samstagnachmittag, zwei Wochen vor der Wahl. An der Marheineke-Markthalle in Berlin-Kreuzberg steht die Spitzenkandidatin der Grünen, Bettina Jarasch, bei Fröstelgraden am Wahlstand. Ihre Mitarbeitenden verteilen Flyer an die potenziellen Wähler*innen und grüne Windrosen für die Bald-Wählerinnen. In Umfragen lagen die Grünen zuletzt gleichauf mit der SPD knapp hinter der CDU. Eine Fortsetzung des rot-grün-roten Bündnisses scheint nach dem 12. Februar möglich, ebenso aber eine Koalition mit Beteiligung oder sogar unter Führung der CDU.
Unweit von Bettina Jarasch steht ein weiterer Spitzenkandidat: Antonio Rohrßen. Der 29-Jährige geht auf Passanten mit „Hi, geht ihr wählen?“ zu. Ein türkises Partei-Fäh
i-Fähnchen lugt aus seinem Rucksack hervor und deutet bescheiden darauf hin, dass hier gerade der Wahlkampf einer Kleinpartei stattfindet. Ein Stand sei viel zu teuer, winkt Rohrßen ab. Er und seine zwei Mitstreiter*innen sprechen schon seit Stunden Passanten an, immer wieder. Nur wenige bleiben stehen. Einige rufen: „Wir haben schon gewählt!“, Rohrßen lächelt dann und ruft „Alles Gute“ zurück.Erstaunlich wenig Kontra erfahre er in diesem Wahlkampf, erzählt der Klimaaktivist, der in einem Outdoor-Bekleidungsgeschäft arbeitet. Im letzten Wahlkampf sei das noch anders gewesen. Nun scheint das Thema Klimakrise keinen großen Widerspruch mehr zu wecken, jedenfalls nicht in einem Bezirk Berlins, in dem viele für gewöhnlich die Grünen wählen. Seine Partei, die Klimaliste Berlin, vor zwei Jahren gegründet, ist aus der Volksinitiative Klimanotstand Berlin hervorgegangen und verfolge als einzige Partei hartnäckig das 1,5-Grad-Limit bis 2030. Wenige Tagen zuvor hatte Grünen-Spitzenkandidatin Jarasch auf der Landesdelegiertenkonferenz die Klimabewegung um Unterstützung für ihre Partei gebeten.So gut waren die Chancen nie„Die etablierten Parteien haben damit zu kämpfen, dass sie Bindungen an die Gesellschaft verlieren“, sagt der Berliner Parteienforscher Benjamin Höhne, der derzeit mit dem Berliner Landeswahlleiter Stephan Bröchler an einem Band zur Landespolitik in Berlin arbeitet, welcher Ende des Jahres erscheinen soll. „Kleinparteien sind agiler und näher an Zielgruppen und Entwicklungen, die die großen Parteien noch nicht auf dem Schirm haben. Es kann bei einem dynamischen Parteiensystem sehr schnell gehen, dass die kleineren Parteien die Fünf-Prozent-Klausel überspringen und ins Parlament einziehen. Diese Chance ist heute so hoch wie noch nie“, ist sich Höhne sicher.Zwar sei dies noch nicht konkret für die anstehende Wahl in Berlin abzusehen, aber es gebe eine klare Aufwärtsbewegung, stellt Höhne fest. Wenn eine Kleinpartei ein Thema für sich entdeckt habe, welches die großen Parteien noch nicht auf dem Schirm hätten, habe sie heute viel mehr Chancen als noch vor 20 oder 30 Jahren, so Höhne.Einem der wenigen Passanten, der bei den niedrigen Temperaturen stehenbleibt, erzählt Rohrßen, was seine Partei will: eine radikalere Klimapolitik sowie eine Wohnungs- und Baupolitik, die mehrere Bürohochhäuser wie das neueste Bauprojekt Urbane Mitte am nahe gelegenen Gleisdreieck-Park gar nicht zulässt.Wohnen und Klima, das spricht einen Herrn, der Mitte 50 sein dürfte, an. Er erzählt, wie enttäuscht er als Stammwähler der Grünen sei. „Bei Gesprächen in diesem Bezirk hören wir das oft, dass die Menschen mehr noch als bei der letzten Wahl auch Kleinparteien wie unserer die Chance geben möchten. Sie sind von den Grünen oder den Linken, was den radikalen Klimaschutz in dieser Stadt angeht, enttäuscht“, meint Rohrßen. Seine Partei konzentriere sich nun vor allem auf die Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung in Friedrichshain-Kreuzberg, in die schon einzieht, wer mindestens drei Prozent der Wählerstimmen erreicht.Insgesamt stehen bei der kommenden Wahl in Berlin 27 Kleinparteien auf den Stimmzetteln. Bei den letzten Wahlen im September 2021 kamen sie zusammen auf 12,5 Prozent bei den Zweitstimmen und waren somit erfolgreicher als die FDP (sieben Prozent) und als die AfD (acht). Viele Kleinparteien konzentrieren sich in der heißen Phase des Wahlkampfes auf die Bezirksparlamente, weil die Fünf-Prozent-Sperrklausel für das Abgeordnetenhaus wohl kaum eine der Kleinparteien zu schaffen vermag.Die Ausrichtungen der kleinen Parteien könnten unterschiedlicher nicht sein: Die DKP, die Deutsche Kommunistische Partei, ist natürlich wieder vertreten, aber auch Ein-Thema-Listen wie „Bildet Berlin!“, die sich für eine andere Bildungspolitik einsetzt. Die „Partei für Gesundheitsforschung“ macht sich für die Verjüngungsforschung stark und erregt mit Plakaten, auf denen „Wo willst Du in 800 Jahren leben?“ steht, Aufmerksamkeit.„Die anderen Themen überlassen wir den anderen Parteien“, erklärt der Spitzenkandidat der Partei, Felix Werth. Der 44-Jährige ist im beschaulichen Friedenau aufgewachsen und hat Elektrotechnik und Biochemie studiert. Knapp zwei Wochen vor der Wahl will er noch die restlichen 1.000 Plakate aufhängen, 2.000 seien bereits in der gesamten Stadt verteilt. Vor allem jüngere Wähler*innen würden ihn beim Anbringen der Plakate interessiert ansprechen. 2016, kurz nach der Gründung, konnte die Partei einen ersten Erfolg verbuchen, auf 0,5 Prozent der Zweitstimmen kam sie bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus. 2021 erhielt sie berlinweit noch knapp 5.000 Stimmen.Auch wenn die Partei monothematisch eine fast Science-Fiction-artige Zukunft verspricht, ohne Tod und Alterskrankheiten, sieht Werth sich nicht als Teil einer Spaßpartei: „Wissenschaftler meinen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir Menschen verjüngen können.“ So wie er vertrauen bundesweit etwa 300 und in Berlin um die 50 Mitglieder auf den medizinischen Fortschritt. Eines der Ziele der Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung, wie sich die Partei seit November 2022 nennt, aber zur Wahl unter dem alten Namen antreten muss: die Investition von mehr Staatsgeldern in den Bau und Betrieb zusätzlicher Forschungseinrichtungen, die Alterskrankheiten und den Tod wegforschen.Erfolg im BezirksparlamentDass die Tierschutzpartei oft als monothematische Partei aufgefasst wird, weist die Bundesvorsitzende Aída Spiegeler Castañeda weit von sich. „Uns sind Themen wie soziale Gerechtigkeit, Tierschutz und Umwelt sehr wichtig.“ Der Anspruch sei, bei einem möglichen Eintritt in den Bundestag programmatisch breit aufgestellt zu sein. Die Tierschutzpartei war bei den Wahlen 2021 die erfolgreichste unter den Berliner Kleinparteien – mit 2,2 Prozent der Zweitstimmen. In Berlin sitzt sie seit den letzten Wahlen in vier Bezirksparlamenten, Spiegeler Castañeda ist im Bezirk Spandau Bezirksverordnete und Kulturausschussvorsitzende. Einen kleinen Erfolg konnte die Partei dort bereits verbuchen – die Einrichtung von Kursen für Gebärdensprache an der Volkshochschule. „Wir gehen auf jeden Fall davon aus, dass wir unser Ergebnis verbessern werden“, ist sich Aída Spiegeler Castañeda sicher. Umfragen würden die Tierschutzpartei bei knapp vier Prozent sehen.Die zweitstärkste Partei bei den Wahlen 2021 unter den „Sonstigen“ war Die Partei. Vux Geissler, Ende zwanzig und Ur-Kreuzbergerin, ist Berliner Vorstandsmitglied und glaubt ebenfalls an einen Zuwachs: 100 plus X, das sei das Ziel. Die Partei hatte 2021, bei den letzten Wahlen, 1,6 Prozent der Zweitstimmen erhalten und ist im Kreuzberger Bezirksparlament vertreten. Die Satirepartei sei eine absolut ernst zu nehmende Partei, auch wenn sie mit griffigen Wahlprogrammpunkten wie „Mehr Demokratie: Bitte sehr!“ Neuwahlen in Berlin in jedem Jahr sowie unter der Überschrift „Verpisst Euch aus Berlin“ eine De-Gentrifizierungskampagne fordert. Auf der Straße um Stimmen werben möchte Vux Geissler nicht. „Wer will denn im Winter Wahlkampf machen? Lustig, wie die anderen Parteien sich draußen den Arsch abfrieren.“ Stattdessen feiere Die Partei eine vorgezogene Wahlparty, eine Woche vor dem 12. Februar. Doch sind Stimmen für Kleinparteien nicht verschenkte Stimmen? Geissler findet, dass jede Stimme, die die AfD nicht erhält, keine verschenkte Stimme sei.Cara Seeberg von der Partei Volt sieht das genauso: „Die Gespräche, ob man überhaupt eine junge Partei wählen sollte, wenn man die derzeitige Berliner Koalition abwählen will, führen wir gerade zu Tausenden auf der Straße. Ich finde, dass man niemals taktisch wählen sollte, sondern aus Überzeugung“, ist sich die Landesvorsitzende der gesamteuropäischen Partei sicher, die sich unter anderem für mehr Digitalisierung in den Schulen und einen Radwegeausbau in der Hauptstadt einsetzt. Parteienforscher Benjamin Höhne kann dem zustimmen. „Wenn es darum geht, nicht abgebildete Politikinhalte anzustoßen, dann ist das nachvollziehbar, einer Kleinpartei die Stimme zu geben.“Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Finanzierung. 2021 trat Volt zum ersten Mal bei den Berliner Wahlen an und konnte sich mit 1,1 Prozent der Zweitstimmen die staatliche Parteienfinanzierung sichern. Für kleinere Parteien ist diese Form der Finanzierung wichtig, um kommende Kampagnen vorzubereiten. Erst ab einem Prozent der Stimmen erhalten die Parteien eine monatliche Teilfinanzierung. „2021 hatten wir fast zwei Jahre Zeit zur Vorbereitung und 100.000 Euro für die Kampagne, generiert aus Spenden und Fundraising“, erzählt Seeberg. Jetzt hätten sie nur Erspartes aus der Parteienfinanzierung, 30.000 Euro, und wenige Wochen zur Vorbereitung gehabt. Ein Problem vieler Kleinparteien.Und auch wenn Seeberg sich und ihren Mitstreiter*innen nach der Wahl eine zweitägige „Volt-Pause“, wie sie es nennt, verordnet hat – am 26. März steht bereits die nächste Abstimmung in Berlin an, der Volksentscheid Klimaneutral 2030. Für Aktivist*innen wie Antonio Rohrßen von der Klimaliste Berlin heißt das: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Denn auch hier geht es wieder darum, die Menschen von einer klimagerechten Stadtpolitik auf der Straße zu überzeugen.