Grün und Erdogan-Fan? In Berlin-Kreuzberg geht das
Deutschtürkei Die linke türkische Opposition kämpft um jede Stimme der 1,5 Millionen deutschen Wahlberechtigten. Die Haltung der jungen Deutschtürk:innen zur Politik in ihren zwei Heimaten nimmt dabei interessante Züge an
Muharrem İnce von der CHP-Abspaltung Memleket Partisi und Sinan Oğan vom rechten Wahlbündnis Ata İttifakı gelten als chancenlos
Foto: Mustafa Ciftci/AA/dpa
Montagabend in Berlin-Neukölln. Mit viel Gehupe und türkischer Musik, 20 Wagen und 80 Leuten samt roten Flaggen der größten türkischen Oppositionspartei CHP macht sich ein Autokorso auf den Weg in Richtung türkisches Generalkonsulat. Doch vorher tanzen etliche Frauen mit Fahnen in den Händen noch Halay auf dem Gehweg. Fahrradfahrer bleiben irritiert stehen, und junge Männer brüllen im Vorbeigehen: „Erdoğan!“ Eine Teilnehmerin zuckt mit den Schultern und erzählt, dass jede Stimme zähle. „Denken Sie mal an Adenauer!“, ruft sie noch, bevor sie in das mit roten Flaggen geschmückte Auto steigt.
Konrad Adenauer wurde 1949 mit nur einer Stimme mehr zum Bundeskanzler gewählt. Als „wichtigste Wahl des
e Wahl des Jahres 2023“ betitelt das englische Nachrichtenmagazin The Economist die Wahlen am 14. Mai 2023 in der Türkei. Auch in Deutschland, wo über 1,5 Millionen Wahlberechtigte leben, wird an den Biertischen und auf den Straßen diskutiert. Schon seit September 2022 wirbt die AKP für die anstehenden Wahlen. „Aber diese Veranstaltungen laufen unter dem öffentlichen Radar“, sagt Eren Güvercin, Türkei-Experte und Gründungsmitglied der Alhambra Gesellschaft, eines Zusammenschlusses von europäischen Musliminnen und Muslimen. Auch weil Veranstaltungen mit Tausenden von Menschen wie im Berliner Tempodrom 2014 oder in der Kölner Arena 2016 inzwischen verboten sind. Der Grund: Amts- und Mandatsträger außerhalb der EU dürfen seit 2017 drei Monate vor der Wahl keine Wahlkampfveranstaltungen mehr abhalten. „Der AKP-Wahlkampf hier in Deutschland ist sogar intensiver, zielgerichteter und strategischer als bei den vorhergehenden Wahlen“, so Güvercin. Aus gutem Grund: Die AKP habe in den vergangenen Jahren weitaus mehr Möglichkeiten der Mobilisierung geschaffen. So hätten deutschlandweit Abgeordnete der AKP in über 900 Gemeinden der DITIB, den vom türkischen Staat kontrollierten Gemeinden, Wahlkampf betrieben, aber auch in den Gemeinden der IGMG, der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş.Im Vergleich dazu hätten die Parteien der türkischen Opposition weniger Chancen. „Für die größte Oppositionspartei CHP ist der Wahlkampf in Deutschland ein neueres Phänomen“, so Güvercin. Es fehle noch an Personal und an Strukturen. Zumindest in Berlin betreibe die CHP intensiver als in anderen Teilen des Landes Wahlkampf mit Ständen und einer eigenen Fahrzeugflotte zum Konsulat. Auch die linke und prokurdische HDP sei gut organisiert, aber die Ressourcen der beiden Parteien könne man kaum mit den finanziellen und personellen Möglichkeiten der AKP vergleichen. „Deutschlandweit haben die Busunternehmen volle Auftragsbücher“, sagt Güvercin augenzwinkernd und erzählt von zahlreichen Reisebussen, die extra für die AKP-Wähler*innen gechartert wurden, um sie zu den Wahlurnen zu fahren.Die Jugend politisiert sichDie deutschen „Auslandstürken“, wie sie in der Türkei genannt werden, durften von Ende April an bis zum Dienstag vor der Wahl ihre Stimme abgeben. Seit Dienstagabend werden die deutschen Stimmen in die Türkei geflogen, wo sie am Wahlabend am Sonntag ausgezählt werden. Neben den knapp 64 Millionen Wahlberechtigten in der Türkei gibt es etwa 3,4 Millionen türkische Staatsbürger*innen im Ausland, die seit einer Änderung der Wahlbestimmungen 2012 wählen können.Die Wahlen 2023 könnten besondere Wahlen werden: Die breite Opposition hofft auf eine Niederlage der langjährigen Regierungspartei AKP und des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Nicht nur die wirtschaftlich desolate Lage und das verheerende Erdbeben im Februar haben die Menschen erschöpft. Es ist auch der provozierende Führungsstil des Präsidenten, dem der aussichtsreichste Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CHP einen respektvollen Politikstil entgegensetzt.Placeholder infobox-1Ayfer İnci Peköz hat die Berliner Vertretung der CHP 2013 mitgegründet und war dort lange Jahre aktiv. Peköz befindet sich derzeit in der Türkei, um den Wahlkampf der Mutterpartei zu unterstützen. Sie kommt gerade von der Istanbuler CHP-Wahlveranstaltung mit über zwei Millionen Teilnehmer*innen. „Angespannt“ sei die Atmosphäre. Am vergangenen Wochenende wurde bei einer Veranstaltung in Erzurum, einer AKP-Hochburg im Nordosten des Landes, der beliebte CHP-Politiker Ekrem İmamoğlu aus der Masse mit Steinen beworfen, 17 Menschen wurden verletzt. „Frauen und die Generation Z werden den Wahlausgang bestimmen“, hofft Peköz. Ein großes Thema in der Türkei seien außerdem die Wahlteilnahmen in den von dem Erdbeben zerstörten Städten. Peköz organisiert das von Spenden finanzierte „Demokratieticket“ mit: Es ist für Erdbebenopfer und auch für Student*innen reserviert, die sich kein Busticket in ihre nach dem Beben teils leergefegten Heimatstädte leisten können, um zu wählen.In Deutschland ist die Wahlbeteiligung bereits jetzt größer als 2018. Es interessieren sich keineswegs nur die Älteren für die Wahl – „brennend“ sei auch das Interesse bei jungen deutsch-türkischen Erwachsenen, sagt Nalan Sipar. Die Türkei-Expertin und Journalistin führt in Berlin-Kreuzberg Straßenumfragen mit Türkeistämmigen durch, dabei stellt sie jedoch fest: „Das Wissen über die türkische Politik kommt hauptsächlich von den Eltern.“ Vielen der jungen Deutschtürken bei klar, dass ihr Wissen also nicht objektiv sei. Doch wo sollen sie sich informieren? Die staatliche Propaganda über die regierungsnahen Sender wirke auch in den jüngeren Generationen, obwohl sie nicht gut Türkisch könnten. So kommt es, dass ein junger Mann in einem von Sipars Straßeninterviews Präsident Erdoğan bewundernd als „Playboy“ beschreibt, um im zweiten Satz die Grünen und ihre Arbeit für den Klimaschutz zu loben (E-Autos!). Zu komplex? Nein, sagt Sipar. Sie begründet diese Verquickung unterschiedlicher Positionen damit, dass die Deutschtürken der unterschiedlichen Lager „anders drauf“ seien. Häufig höre sie den Satz „Das ist meine Meinung, und jeder kann seine eigene Meinung haben“. Ein Satz, der so in der Türkei nicht oft falle, sagt die Journalistin. Auch deshalb sei die Stimmung hier nicht so angespannt wie in der Türkei.Zwei Straßen weiter schallt „Seid ihr die Türkische Arbeiterpartei?“ in den Hinterhof in Berlin-Kreuzberg hinein. Ein Nachbar, Betreiber eines Kiosks an der Straßenecke, will nur kurz Hände schütteln und sie für die gute Arbeit loben. Baransel Ağca und Tunahan Köroğlu von der Türkiye İşçi Partisi (TIP) freuen sich sichtlich und bieten Tee an. Die beiden Männer betreuen die Wahlzentrale der linken Partei in der zweigeschossigen Remise im Hinterhof, deren Innenräume mit Parteipostern beklebt sind. Erst vor einem Monat habe die Partei die Räumlichkeiten als Spende erhalten, auch wenn die Wahlvorbereitung seit sieben Monaten andauere. Beide sind vor nicht allzu langer Zeit aus der Türkei nach Berlin gezogen.Rückkehr in die Türkei?Ağca, 33, ist Journalist und musste aufgrund seiner Berichterstattung das Land verlassen. Köroğlu ist 19 und kam mit seinem Vater vor vier Jahren nach Berlin. Der ausgebildete Koch will zum Film und nimmt dafür Regie-Unterricht. Viele der gut ausgebildeten Türkeistämmigen, die in den vergangenen Jahren das Land verließen, wenden sich auch im Ausland eher Parteien wie der 2017 gegründeten Arbeiterpartei TIP zu, die mit nur vier, dafür sehr wortreichen Abgeordneten im türkischen Parlament sitzt und der vor allem vor diesen Wahlen eine Sympathiewelle entgegenschlägt. Überrascht sei die TIP über diese Aufmerksamkeit, sagen Ağca und Köroğlu.Vor allem Parteien wie die TIP oder die HDP, die jüngere Wähler*innen ansprechen, können die sozialen Medien gut für sich nutzen. Reguläre Wege der Wahlwerbung wie Aufritte oder Wahlwerbespots im Fernsehen sind ihnen ohnehin verschlossen. Die Arbeiterpartei, erzählen die linken Parteigenossen, würde eine Lücke zur linken Politik füllen, weil sich viele von den Sozialdemokraten wie der CHP nicht mehr vertreten fühlen. Im Bündnis mit der prokurdischen HDP, die wegen eines drohenden Wahlverbots auf der Liste der Grünen Linken (YSP) kandidiert, unterstützen sie diesmal trotzdem die mögliche Präsidentschaft des Oppositionskandidaten.Auch die Grünen Linken erfahren in Deutschland Unterstützung für die Wahl. İlknur Bilir, Anfang 30, ist Doktorandin an der Universität Halle und arbeitet derzeit in Berlin als Wahlhelferin für die YSP. „Mir wurde das schon in meiner Familie eingeimpft“, erzählt sie lachend. Ihr Vater hätte als Lehrer in der Türkei für seine demokratischen Rechte eingestanden und sich in der Vergangenheit stets als Wahlhelfer betätigt. Bilir ist Mitglied der prokurdischen HDP und stand fast täglich nach der Arbeit an einem Forschungsprojekt an der Wahlurne im Berliner Konsulat oder im Wahlbüro in Berlin-Kreuzberg, wo die HDP – wie auch die TIP – seit Kurzem ein Wahlbüro betreibt. „Vor allem unter den Jüngeren gibt es eine hohe Mobilisierung“, sagt Bilir. Denn mit einer möglichen Regierungsübernahme der Opposition würden vor allem Menschen, die in den vergangenen Jahren ins Ausland gingen, wieder darüber nachdenken, in die Türkei zurückzukehren.Das sagen auch die beiden TIP-Mitglieder Ağca und Köroğlu. Und wenn Erdoğan genügend Stimmen, also mehr als 50 Prozent in der ersten Runde der Wahlen erhält? „Dann“, erwidert Baransel Ağca von der linken TIP in Berlin-Kreuzberg, „dann machen wir das weiter, was wir bisher gemacht haben.“ Mit Hoffnung allein sei keine Politik zu betreiben, sondern mit Sturheit. „Auch wenn die Opposition gewinnen sollte, werden wir sie genauso kritisieren, wie wir bisher die AKP kritisiert haben.“