Visa für Erdbebenbetroffene aus Syrien und der Türkei: Endlich zur Ruhe kommen

Solidarität Um Erdbebenopfern aus der Türkei und Nordsyrien unkomplizierter zu helfen, gäbe es verschiedene Möglichkeiten – etwa für die Erholung bei Verwandten in Deutschland. Doch sie werden nicht in Anspruch genommen
Ausgabe 16/2023
Vollkommen zerstört ist die Stadt Antakya am 21. Februar
Vollkommen zerstört ist die Stadt Antakya am 21. Februar

Foto: CTK Photo / Imago

Aus den Nachrichten sind die Bilder der Erdbebenkatastrophe fast verschwunden. Doch auch wenn die anfängliche internationale Aufmerksamkeit schwindet, sind weiter viele Menschen in Deutschland familiär betroffen. Sie hatten auf das erleichterte Visa-Verfahren, welches die Bundesregierung kurz nach dem 6. Februar, als zwei verheerende Erdbeben unter anderem den Südosten der Türkei trafen, gesetzt.

So sollten Betroffene aus dem Erdbebengebiet kurzerhand nach Deutschland zu Verwandten einreisen können. Doch die Kritik an diesem Verfahren – unter anderem von der Türkischen Gemeinde in Deutschland – folgte auf dem Fuße: Zu hoch waren die Hürden für ein solches Visum von 90 Tagen, unter anderem ein gültiger Reisepass und mehrere Dokumente müssen dafür bei den deutschen Botschaften vor Ort eingereicht werden. Eine weitere Hürde sind nach wie vor die Solvenz und der Aufenthaltsstatus der einladenden Angehörigen. Die Bundesregierung möchte die erleichterten Visa als Erfolg verbuchen. Laut Auswärtigem Amt seien zum Stichtag 6. April „insgesamt 8.373 Visa an Betroffene des Erdbebens verteilt“ worden.

Eine zu geringe Zahl

Mit dieser Zahl sind allerdings nicht nur die erleichterten Visa gemeint, deren Zahl 6.133 beträgt. Knapp 1.000 Visa seien im Rahmen des Familiennachzugs ausgestellt worden. „Das zeigt, wie gut die deutschen Unterstützungsmaßnahmen angenommen werden“, sagt der Bundestagsabgeordnete Hakan Demir (SPD) angesichts dieser Zahlen. Trotzdem plädiert er für ein „unkompliziertes Verfahren“, etwa durch Visa-Prozesse für vulnerable Gruppen, „die gänzlich digitalisiert sind“. Auch die Aufenthaltsdauer von derzeit drei Monaten könne noch nachjustiert werden. „Denn es ist unrealistisch, dass die Häuser in der Türkei nach drei Monaten wieder komplett aufgebaut werden. Hier muss die Bundesregierung ran“, sagt Demir.

Wer von diesen erleichterten Visa kaum profitiert, sind syrische Staatsangehörige in der Türkei, die dorthin flüchteten und vorwiegend in vom Erdbeben betroffenen Gebieten lebten, sowie die Menschen in Nordsyrien. Sie müssen auf dem regulären Wege ein Besuchsvisum beantragen oder auf ein Visum im Rahmen des Familiennachzugs hoffen. Das Auswärtige Amt beziffert diese mit knapp 600 ausgestellten Visa für syrische Staatsangehörige und „140 Visa zur Familienzusammenführung an syrische Staatsangehörige aus den türkischen Erdbebengebieten“. Verglichen mit der Katastrophe, die Millionen Menschen betrifft, eine geringe Zahl.

Denn laut den UN sind in Syrien über acht Millionen Menschen von dem Erdbeben betroffen. In der Türkei sind über 50.000 Menschen nach offiziellen Angaben ums Leben gekommen, mehrere Tausend sind verletzt. Mehr als eine Million Menschen sollen in Zelten leben. Auch wenn Präsident Recep Tayyip Erdoğan große Versprechen vor den Wahlen am 14. Mai macht, dass das Gebiet binnen eines Jahres aufgebaut werden soll, ist dies angesichts der Fläche und der immensen Anzahl der zerstörten Gebäude eher Wunschdenken.

Doch was passiert nun mit den Menschen im Katastrophengebiet? Elif Eralp, Parlamentarierin der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, plädierte bereits Mitte März für ein Landesaufnahmeprogramm Berlins für die Erdbebenopfer in der Türkei und Nordsyrien. Sie berät in ihrer Sprechstunde immer öfter Angehörige von Erdbebenopfern und auch Erdbebenopfer selbst. Den Angehörigen falle es schwer, zu verstehen, dass nur ein kleiner Familienkreis profitieren würde. „Der Personenkreis müsste ausgeweitet werden, es sind nicht nur Angehörige der Kernfamilie, die nun verzweifelt vor dem Nichts stehen“, so Eralp.

Die Juristin und Linken-Abgeordnete fragt sich, warum ein solches Aufnahmeprogramm nicht bundesweit oder zumindest in Bundesländern wie Berlin, das schon Erfahrung mit Landesaufnahmeprogrammen hat, etwa dem jüngsten für afghanische Geflüchtete, nicht möglich sein soll. „Das würde bedeuten, dass diese Menschen zumindest für ein Jahr im Land bleiben können und zur Ruhe kommen.“

Ein Programm könnte einerseits für Erdbeben-Betroffene mit Angehörigen in Berlin ermöglicht werden und andererseits beispielsweise für Verletzte, die vor Ort keine Aussicht auf eine gute ärztliche Behandlung haben.

Vor allem wegen der medizinischen Behandlung von Erdbebenbetroffenen fordert auch Tareq Alaows von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl eine humanitäre Lösung. Die jetzige Regelung sei laut Alaows keine humanitäre Aufnahme, weil die hier lebenden Verwandten „doch die Gesamtkosten während des Aufenthalts der Verwandten“ bezahlten. Im Rahmen der Aufnahme aus humanitären Gründen wären die Kosten für medizinische Fälle nicht mehr nur von den Verwandten zu tragen.

Zumindest die Landesaufnahmeprogramme müssten mit den Behörden vor Ort koordiniert werden. Doch für solche Aufnahmeverfahren bedarf es der Zustimmung des Bundesinnenministeriums. Auch da sieht Linken-Politikerin Eralp derzeit Probleme, weil die amtierende Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) aufgrund der anstehenden Regierungsbildung nach der Wiederholungswahl in Berlin dies wohl nicht unbedingt auf ihrer Prioritätenliste habe.

Doch von so einer Regelung könnten auch syrische Erdbebenopfer profitieren, für die derzeit gar keine Visa-Erleichterungen gelten, während türkischen Staatsangehörigen – wenn auch mit viel zu hohem bürokratischen Aufwand und nur für Kurzzeitaufenthalte – Visa-Erleichterungen gewährt werden, so Eralp.

Schwierig findet diese Forderung Baden-Württembergs Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne). Sie hatte sich kurz nach dem Erdbeben ebenfalls für eine reale Erleichterung der Einreiseverfahren ausgesprochen: „Ich hätte mir durchaus vorstellen können, dass die Vorlage des Personalausweises statt des Reisepasses ausreicht. Leider ist dieser Vorschlag nicht aufgegriffen worden“, bedauert sie. Zur Frage nach einem Bundesaufnahmeprogramm für Erdbebenopfer sagt Aras: „Realistischerweise muss man sagen, dass ein solches Programm aktuell nicht leistbar ist angesichts der Belastungen durch zu versorgende Geflüchtete. Es fehlt insbesondere an Unterkünften.“ Sie sei froh und dankbar, dass „die Bundesregierung finanzielle Mittel in Höhe von rund 240 Millionen Euro für das Erdbebengebiet bereitgestellt hat“. Die baden-württembergische Politikerin findet, mit den bisherigen ausgestellten Visa-Zahlen „können wir zufrieden sein“.

3.000 Menschen aus Syrien

Nicht sehr zufrieden mit den Zahlen ist Tareq Alaows, der flüchtlingspolitische Sprecher von Pro Asyl. Die Übergangslösung der Bundesregierung sei keine Lösung. „Ich weiß nicht, ob die deutsche Bundesregierung davon ausgeht, dass innerhalb der nächsten drei Monate alles in der Türkei wieder aufgebaut wird“, wundert sich Alaows. Auch deshalb plädieren er und seine Organisation Pro Asyl für eine weitreichende humanitäre Aufnahme, „bis sich die Situation vor Ort ändert“. Alaows kritisiert, dass die humanitäre Aufnahme im Bund oder in den Ländern derzeit gar nicht in Betracht gezogen wird. Vor allem für syrische Erdbebenbetroffene sei dies dringend nötig.

Zu den syrischen Erdbebenopfern sagte ein Sprecher des Bundesministeriums des Innern und für Heimat auf Freitag-Anfrage, „dass Deutschland über das humanitäre Aufnahmeprogramm in Umsetzung der EU-Türkei-Erklärung schutzbedürftige syrische Staatsangehörige aus der Türkei langfristig“ aufnehme. Die „Zielzahl“ für dieses Jahr seien 3.000 aufzunehmende Personen. Vom Erdbeben betroffene Syrerinnen und Syrer würden, „soweit möglich, prioritär berücksichtigt“, so der Sprecher. Ein Bundesaufnahmeprogramm oder anderweitige Aufnahmemöglichkeiten aus humanitären Gründen seien derzeit nicht geplant. So sei „mit Blick auf die hohen Zugangszahlen von Asylsuchenden und Geflüchteten aus der Ukraine und die bereits fest verabredeten Aufnahmeprogramme unter anderem von Syrerinnen und Syrern aus der Türkei, aus Afghanistan, dem Libanon und Jordanien kein Spielraum für weitere Aufnahmeprogramme, die auf einen langfristigen Aufenthalt in Deutschland abzielen“.

Dass die Betroffenen nur einen angemessenen Aufenthalt planen, „um zur Ruhe zu kommen“, wie Eralp aus Erfahrung sagt, scheint keine Berücksichtigung zu finden.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden