Auch wenn die Wahlen gerade jede Berichterstattung aus der Türkei überschatten: Die Willkür, mit der die Justiz derzeit gegen Journalist*innen vorgeht, ist bemerkenswert. Bemerkenswerter ist jedoch die Haltung der türkischen Regierung zur Pressefreiheit. Aber von vorn.
Ein türkisches Gericht verhängt gegen Deniz Yücel, Welt-Autor und Co-Sprecher des PEN Berlin, vergangene Woche einen Haftbefehl. „Skandal“, schreibt PEN Berlin dazu in seiner Stellungnahme. Yücel saß 2017 fast ein ganzes Jahr lang in einem türkischen Gefängnis. Die unrechtmäßige Haft sorgte damals für ein krisenhaftes Verhältnis zur Türkei. Und auch wenn der Autor wieder in Berlin weilt, dauern die Verfahren in Abwesenheit an.
Die Anklage basiert auf Artikeln, die Yücel in seiner Zeit als Türkei-Korrespondent verfasste. 2019 urteilte dann das türkische Verfassungsgericht: Alle Artikel, die Yücel für die Welt schrieb, seien von der Meinungsfreiheit gedeckt (das Gericht erklärte auch die Haft Yücels für rechtswidrig). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fällte das gleiche Urteil: Alles von der Meinungsfreiheit gedeckt. Doch ein Gericht in Istanbul ordnete davon unbeeindruckt 2020 das aktuelle Verfahren an: Einerseits wird ihm „Verunglimpfung des türkischen Staates und der türkischen Nation“ per Paragraf 301 vorgeworfen, mit dem unzählige Akademiker*innen, Schriftsteller*innen und Journalist*innen in den letzten Jahren angeklagt wurden. Zusätzlich ist er wegen „Beleidigung des Staatspräsidenten“ angeklagt – ein Vorwurf nicht nur gegen unliebsame Journalist*innen, sondern auch stinknormale Bürger*innen. 2022, schreiben türkische Medien, sei ein Rekord aufgestellt worden – mehr als 16.000 Menschen kamen so vor Gericht. Zuletzt ein 13-Jähriger Ende April.
Der Druck auf die Presse in der Türkei ist hoch
Natürlich sei das Ganze politisch motiviert, sagt Yücels Anwalt Veysel Ok zum Haftbefehl auf Anfrage des Freitag. Warum nun ausgerechnet ein Haftbefehl in einem Verfahren, welches seit 2021 andauert, erlassen und eine Aussage Yücels in Deutschland abgelehnt wurde, darüber lässt sich nur spekulieren. Doch auch ohne Spekulationen hat sich der Ton gegenüber Medienvertreter*innen, vor allem der kurdischen Medien, verschärft. „Der Druck auf die Presse ähnelt der Zeit nach dem Putschversuch“, sagt Anwalt Ok auch als Mitgründer der „Media and Law Studies Association“ (MLSA), einer Organisation, die Journalist*innen pro bono vertritt.
Schon im Herbst letzten Jahres wurden etwa ein Dutzend kurdische Journalist*innen festgenommen, Ende April erging erneut eine Verhaftungswelle. Fast 60 Journalist*innen sitzen derzeit laut MLSA hinter Gittern. PEN Berlin erinnert in seiner Stellungnahme an diejenigen, die permanent den Drohungen eines Justizapparates ausgesetzt seien, „den das Erdoğan-Regime zu seinem politischen Instrument verwandelt hat.“ Bemerkenswert ist nun, zu lesen, dass die türkische Regierung die Pressefreiheit – zumindest für die eigenen Leute – hochhält. Sie versucht nämlich, die Durchsuchung der privaten Räume von zwei türkischen Journalisten der regierungsnahen Zeitung Sabah vergangenen Donnerstag in Hessen – wegen des Verdachts auf Verbreiten personenbezogener Daten – zu einem pressefreiheitlichen Vergehen in Deutschland hochzustilisieren. Wie es aber um die weitere Auslegung der Pressefreiheit der türkischen Justiz nach den Wahlen bestellt ist, wird nicht nur das Verfahren gegen Deniz Yücel zeigen. Am 17. Oktober findet die nächste Anhörung in Istanbul statt.
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