LGBTI-Aktivistin zur Türkei-Wahl: Wir haben nicht den Luxus, verzweifelt zu sein
Im Gespräch Wie wird es den LGBTI nach der Wiederwahl des türkischen Präsidenten und einem mehrheitlich rechtskonservativen Parlament ergehen? Die Aktivistin Zarife Akbulut gibt sich kämpferisch
In der Türkei wächst eine sehr mutige Generation heran
Foto: Kemal Aslan/AFP/Getty Images
Schon während des Wahlkampfs hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan keine Gelegenheit ausgelassen, um gegen Lesben, Schwule, Trans, Bisexuelle und Intersexuelle (LGBTI+) zu wettern. Wie sich die Situation nun nach den Wahlen in der Türkei für LGBTI gestalten wird und ob Menschen, die nicht in das konservative Bild von der Familie passen, nun weitere Repressionen erwarten, darüber hat der Freitag mit Zarife Akbulut vom türkischen Verein SpoD (Vereinigung für Sozialpolitik, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung) gesprochen.
der Freitag: Frau Akbulut, nach dem knappen, aber klaren Wahlsieg in der Stichwahl hat der alte und neue türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in seiner Rede die LGBTI+ ins Visier genommen un
seiner Rede die LGBTI+ ins Visier genommen und die Opposition verächtlich als Unterstützer der LGBTI+ bezeichnet. Was sagt diese Rede über die kommenden fünf Jahre seiner Amtszeit aus?Zarife Akbulut: Dies ist keine Hetzrede, die aus heiterem Himmel kam. In der Tat wurde dieses Szenario während und vor der Wahlperiode vorbereitet. Seit 2015 sind Polizei, Justiz und sogar paramilitärische Kräfte auf unseren Veranstaltungen verstärkt in Erscheinung getreten, wie bei den von LGBTI-Gegnern organisierten Hassmärschen im vergangenen Jahr. Die Dynamik der vergangenen Jahre zeigt, wie die nächsten fünf Jahre verlaufen werden. Vor allem wenn wir uns die Wahlbündnisse ansehen, zeigt die Beteiligung einer islamistischen Organisation wie Hüda-Par an der Regierung, dass es in der nächsten Periode zu Angriffen auf unsere erworbenen Rechte kommen kann, vor allem auf Frauen und LGBTI.Welche Rechte haben denn LGBTI noch?Es gibt noch immer einen breiten solidarischen Zusammenhalt gegen den jahrelangen Versuch, LGBTI zu kriminalisieren. Die Regierungspartei AKP setzte alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein, konnte aber bei den Wahlen keinen Hass gegen LGBTI schüren. Hier gibt es einen soliden, gesellschaftlichen Konsens dagegen. Auch wenn die reaktionäre und hasserfüllte Politik weiterbetrieben wird, akzeptiert die Hälfte der Gesellschaft dies nicht. Die nächsten fünf Jahre könnten eine Zeit der Radikalisierung und verstärkter Übergriffe sein. Doch die andere Hälfte der Gesellschaft, die nicht für diese Politik stehen, ist etwas, das uns Hoffnung gibt.Sie sagen, dass die Hälfte der Türkei diese Anti-LGBTI-Politik nicht akzeptiert. Ist das nicht etwas blauäugig? Auch in der Opposition gibt es bekanntlich rechte und islamistische Parteien, die sich nicht gerade für LGBTI-Rechte interessieren.Auch wenn sich das Oppositionsbündnis in seinem Wahlprogramm nicht explizit zu den Rechten von LGBTI äußerte – die größte Oppositionspartei, die CHP, erklärte zum Beispiel, dass die Freiheit der sexuellen Orientierung bei einem Wahlsieg in die Verfassung aufgenommen wird. Natürlich billigen wir nicht jede Äußerung des Bündnisses. Die islamistische Saadet Partisi etwa ist keine Partei, die sich für die Rechte von LGBTI einsetzen würde oder sie verteidigt. Trotzdem bin ich der Meinung, dass die Mehrheit der Opposition für die Menschenrechte eintritt, als größten gemeinsamen Nenner.Im neugewählten Parlament sind nun auch kleinere Parteien wie die kurdisch-islamistische Hüda-Par sowie die islamistische Impfskeptikerpartei Yeni Refah Partisi durch ihr Bündnis mit der AKP vertreten. Beide Parteien forderten die Schließung von LGBTI-Vereinen als Vorbedingung für das Bündnis. Glauben Sie, dass eine solche Forderung umgesetzt wird?Es ist nicht einfach, vorauszusagen, ob dies geschehen wird oder nicht. Unser Verein SpoD ist seit 2011 aktiv, aber in der Zukunft könnte das natürlich geschehen. Wird die AKP noch radikaler, despotischer, aggressiver werden? Oder wird sie, in einer wirtschaftlich schweren Zeit, ihre Politik ändern müssen? Ich weiß es nicht. Manchmal werden einige politische Versprechen vergessen, ich hoffe es.Was würden Sie im Falle einer Schließung tun?Als Frauen und LGBTI werden wir weiterhin für unsere Rechte kämpfen. Wir organisieren uns bereits jetzt schon dafür. Denn wir haben nicht den Luxus, verzweifelt zu sein oder uns hinter den Mauern der Angst zu verschanzen. Wir sind hier und wir werden weiterhin hier sein.Die meisten LGBTI-Vereinigungen in der Türkei erhalten ihre finanziellen Mittel von internationalen Organisationen, um ihre Projekte zu finanzieren. Die Regierung wirft diesen Organisationen vor, so Queerness und Homosexualität in der türkischen Gesellschaft zu finanzieren und zu verbreiten. Es gab bereits Bemühungen der Regierung, die Mittel aus dem Ausland zu kürzen.Wir versuchen, uns über Wasser zu halten und mit begrenzten Mitteln unsere Arbeit zu machen. Klar ist, dass wir in der kommenden Zeit mit Schwierigkeiten rechnen müssen. Die ausländische Hilfe könnte gekürzt werden. Die Vereine werden bereits mittels eines Dekrets genauer überwacht. Aber hier tragen auch die EU und die UNO Verantwortung. Internationale Organisationen, die auf verschiedenen Ebenen Vereinbarungen mit der Regierung treffen, sollten Rechenschaft einfordern. Als die Türkei 2022 beispielsweise aus der Istanbul-Konvention austrat, waren eher schwache Reaktionen aus den Ländern der Europäischen Union zu hören.Warum meinen Sie, ist das so?Ich denke, dass hier verschiedene wirtschaftliche und politische Gründen eine Rolle spielen. Mit dem EU-Türkei-Deal leben weiter Millionen von Flüchtlingen in der Türkei unter schlechten Bedingungen. Es gibt keine Garantie, dass es morgen nicht auch andere Gruppen als die LGBTI treffen wird. Daran müssen wir die Verantwortlichen erinnern.Was leistet Ihr Verein derzeit?Wir bieten psychosoziale Dienste an. Pro Monat erhalten wir etwa 200 Anrufe aus allen Ecken der Türkei. Derzeit versuchen wir alternative Strukturen aufzubauen, für den Fall, dass der Verein geschlossen wird. Wir geben nicht auf. Es wird notwendig sein, die Kommunen oder den Staat in die Verantwortung zu zwingen. Denn das, was wir tun, ist eine gemeinnützige Leistung.Was sagen Sie den jungen Menschen, die anrufen?Vor allem in den letzten Jahren können wir beobachten, dass eine sehr mutige Generation heranwächst. Sie wollen nicht mehr länger im Versteck bleiben und sich lieber heute als morgen outen. Aber natürlich zweifeln sie auch, haben Angst und sind hoffnungslos. Sobald Anti-LGBTI-Aufmärsche durch ihr Viertel ziehen, fragen sie sich, wie sie noch weiter in ihrer gewohnten Umgebung leben werden und unter welchen Umständen. Aber es gibt auch diejenigen, die sagen „Ich lasse mich doch nicht entmutigen und organisiere mich“.Wird unter den aktuellen politischen Umständen ein Pride-Parade in Istanbul möglich sein?Es gibt sogar schon einen Aufruf, die Daten der Pride Week stehen ja bereits fest, und sie wird stattfinden. Einen Tag nach den Stichwahlen haben wir als Verein eine „Wir sind hier“-Erklärung veröffentlicht. Trotzdem: Wir sind keine Irren, die sich lebensmüde auf die Straße begeben werden. Im Gegenteil, uns ist unser Leben wichtig. Allein im letzten Jahr wurden über 200 Menschen auf der Pride festgenommen. Jedes Jahr sind wir mit Polizeigewalt konfrontiert. Aber wie ich eingangs sagte, haben wir nicht den Luxus zu sagen, dass wir uns nicht organisieren. Politische Ansichten kann man ändern, aber es ist unmöglich, die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität aufzugeben. Wir gehen auf die Straße und kümmern uns um unsere Sicherheit.