Knapp vier Tage nach dem Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien gründete Ayşin Inan mit Kolleg*innen eine psychologische Ersthilfe-Plattform für Erdbebenopfer und ihre Angehörigen. Wer sich an die Mail-Adresse berlindepremdanismanligi@web.de wendet, wird umgehend psychologisch beraten. Wie nötig dieses Angebot ist, zeigt sich am Abend unseres Gesprächs: Erneut bebte in einer der am schlimmsten betroffenen Städte, in Hatay, mit einer Stärke von 6,4 die Erde.
der Freitag: Frau Inan, ich erwische Sie gerade an Ihrem Arbeitsplatz in der Klinik. Wann genau haben Sie den Entschluss gefasst, zusätzlich zu Ihrer Arbeit Menschen aus dem Erdbebengebiet zu beraten?
Ayşin Inan: Bei dem schweren Erdbeben in Düzce, 1999 im Nordosten der Türkei, hatten erfahrene Psychologen sehr schnell eine solche Krisenintervention eingerichtet. Jahre später kamen noch ehemalige Patienten, die mich ansprachen und sagten: „Damals haben Sie uns sehr geholfen.“
Sie haben also Erfahrung in der Begleitung von Menschen aus Erdbebengebieten und den Angehörigen?
Ja, und ich wurde nun selbst fast verrückt vor Sorge. Aus diesem Gefühl heraus habe ich diesmal die Initiative ergriffen und die Kollegen angerufen.
Wie breit aufgestellt ist ihr Helfer-Kollektiv?
Wir starteten zu zweit und sind mittlerweile 40 Helfer. Erst dachten wir an ein berlinweites Angebot. Dann kamen die Anfragen aus ganz Deutschland und der Türkei.
Wie viele Menschen haben sich denn bisher bei Ihnen gemeldet?
So genau kann ich das gar nicht sagen. Bis jetzt etwa 100.
Ist das ein rein türkischsprachiges Angebot?
Wir sind türkischsprachig, kurdischsprachig, leider wenig arabischsprachig. Aber es gibt auch viele deutschsprachige, also deutschstämmige, Kolleginnen und Kollegen, die helfen.
Wie kann ich mir die konkrete Hilfe vorstellen?
Wir leisten Beratung und Krisenintervention, keine Therapie. Bis zu vier Gespräche sind möglich, mehr nicht. Wenn Menschen in Berlin sind, dann treffen wir uns sogar in den Praxen von Kolleginnen, die sie uns dafür zur Verfügung stellen. Auch ein Nachbarschaftshaus in Kreuzberg hat uns Räume für die Gespräche angeboten.
Was, wenn die Hilfesuchenden nicht aus Berlin sind?
Dann telefonieren wir. Gerade habe ich mit zwei jungen Frauen aus verschiedenen Städten in Deutschland gesprochen. Aber wir kriegen auch Anfragen aus der Türkei.
Ach?
Ja, eine junge Kollegin, die selbst betroffen ist und derzeit psychologische Hilfe vor Ort anbietet. Sie braucht eine Supervision, die die Kollegen in der Türkei gerade nicht leisten können.
Ich kann mir vorstellen, dass es nicht nur für ihre Kolleg*innen in der Türkei schwierig ist, Unterstützung zu erhalten. Aber wer hilft hier den Helfenden?
Wir bekommen Solidarität und Verständnis von Instanzen wie der Psychotherapeutenkammer von Berlin und Rheinland-Pfalz. Aber ich muss ehrlich sagen – der Berufsverband Deutscher Psychologen hat uns gar nicht geholfen.
Welche Hilfe wünschen Sie sich denn?
Wir wollen ja kein Geld. Aber schön wäre zumindest das Angebot einer Kostenübernahme, sodass wir zum Beispiel in andere Städte fahren könnten, um zu beraten. Das zahlen wir alles aus der eigenen Tasche. Das bleibt leider eine rein ehrenamtliche Aufgabe, die selbstverständlich auch zeitlich begrenzt sein wird.
Wie lange, meinen Sie, können Sie dieses Netzwerk in dieser Form anbieten?
Wir haben von Anfang an gesagt, dass es höchstens zwei Monate sein werden.
Und dann?
Sollte es verstetigt werden, durch Anlaufstellen in Kliniken zum Beispiel. Es sind Millionen von Menschen dort betroffen. Traumapatienten und trauernde Menschen brauchen eine gewisse Zeit, um Hilfe anzunehmen, durch den Schock. Und der richtige Andrang beginnt erst jetzt, also seit Mitte der letzten Woche. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen heute noch, also über zwei Wochen nach dem Erdbeben, noch auf der Straße leben.
Und deren Angehörige melden sich bei Ihnen?
Es sind mehrere Gruppen: die, die aus dem Erdbebengebiet zurückkehren, also in erster Linie Berlinerinnen und Berliner, die gerade zurückgekommen sind. Aber auch Menschen, die hier leben, aber noch in der Türkei sind. Viele Menschen, die die Beratung aufsuchen, haben ein sogenanntes Sekundärtrauma und sind schwer betroffen durch die Bilder und die Berichterstattung. Und dann natürlich auch Trauernde, die, wie in einem Fall, bis zu zwanzig Menschen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis verloren haben.
Bitter.
Ja. Ihre ganze Vergangenheit liegt unter Schutt und Asche. Das ist wirklich grausam.
Grausam stelle ich es mir auch vor, dass man als Angehörige nicht einfach hinfliegen und sich um seine Familie kümmern kann.
Eben, viele können nicht mehr dorthin. Man darf nicht vergessen, dass das Gebiet überwiegend von Aleviten und Kurden und auch Christen bewohnt war, die vielleicht auch gar nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können, aus politischen oder anderweitigen Gründen. Für diese Menschen ist das eine doppelte Last.
Warum?
Etwas, was in ferner Zukunft vielleicht möglich gewesen wäre, die Reise dorthin und das Erleben von Erinnerungen, das ist weg. Medien zeigen vieles sehr detailliert und manch einer entdeckt sein Wohnhaus in Trümmern. Das ist eine doppelte Belastung. Und schnell dorthin zu fliegen und seine Verwandten zu holen, ist nicht einfach.
Die Option auf eine schnelle Einreise von nahen Verwandten hat das Auswärtige Amt zumindest in Aussicht gestellt ...
Na ja. Ich habe mit einer Frau gesprochen, deren Mutter sagte: „Kind, ich kann hier noch nicht einmal ein Passfoto machen, wie soll ich denn einen Pass ausstellen lassen?“
Kennen Sie denn aus der Beratung Menschen, die nahe Verwandte aus dem Erdbebengebiet herholen können?
Nein, bisher niemanden, bei dem es klappte oder klappen wird. Die Menschen dort haben andere Sorgen, ein erleichtertes Visum bei einem Konsulat in einer anderen Stadt zu beantragen, wenn noch nicht mal die Straße nebenan steht, ist schwierig.
Sie arbeiten Vollzeit in der Klinik. Und ehrenamtlich?
Das kann ich gar nicht so genau sagen. Aber es ist fast so viel wie ein Vollzeitjob. Derzeit betreue ich fünf Menschen sehr intensiv. Das sind traumatisierte Menschen, sehr zarte Seelen. Sie brauchen mehr Fürsorge, mehr Liebe. Zum Beispiel umarme ich die Menschen auch bei direkten Begegnungen. Eine Frau hat geweint und gesagt: Das hat mir so gutgetan.
Also bieten Sie eine weitaus menschlichere Begegnung an als das übliche Therapeut-Patienten-Verhältnis.
Wir sind doch Menschen! Morgens, wenn ich aufstehe und an jemanden denke, dann sende ich ein Emoji, ein Herz, um zu zeigen, ich denke an dich.
Echt?
Ja, das sage ich allen Leuten. Auch denen, die jetzt diese Zeilen lesen: Bitte macht das. Fragt, wie geht es euch, habt ihr jemanden verloren? Keiner wird sagen, was geht dich das an. Diese Wärme brauchen die Menschen.
Aber Trauer ist ja zumindest im deutschen Zusammenhang eine private Sache, und im türkischen Kontext ist es eher etwas Kollektives. Man fährt sofort hin, wenn jemand verstorben ist und versucht, für die Angehörigen da zu sein. Es sind verschiedene Auffassungen von Trauer, oder?
Das ist richtig. Und was noch dazukommt, ist, dass die Menschen untereinander auch nicht mehr trauern können. Bei den Aleviten und Kurden gibt es „Ağıt“, die Trauerklage, die sehr lange dauert. Die Routine und die Rituale müssen eingehalten werden. Selbst das passiert nicht, weil die Toten nicht begraben werden können. Eine Frau erzählte mir, dass sie sich gefreut habe, dass jemand aus der Familie die rituelle Waschung erhalten hat.
Können Sie die Trauer denn auffangen?
Ich überlege, eine Trauergruppe zu gründen. Das wäre mein innigster Wunsch.
Ich höre schon, es wird nicht bei den anvisierten zwei Monaten bleiben.
Im Prinzip nicht! Aber dafür brauchen wir feste Räume und ehrlich gesprochen, auch finanzielle Unterstützung.

Foto: privat
Ayşin Inan, 61, ist Diplom-Psychologin an der Brandenburgklinik in Bernau bei Berlin. Sie ist in Istanbul geboren und lebt seit 1974 in Deutschland
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