„Den Türken in Deutschland gab Erdoğan lange Selbstbewusstsein – das ändert sich“
Interview Neigt sich der konservative Trend unter Recep Tayyip Erdoğan dem Ende zu – auch in Deutschland? Die Ethnologin Ayşe Çavdar hegt begründete Hoffnung auf einen Sieg der Opposition
Er will nochmal: Plakat des jetzigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan
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Wie kommt es, dass sich so viele Türkischstämmige in Deutschland politisch konservativ und religiös ausrichten? Die Ethnologin Ayşe Çavdar hat sich selbst in den 1990ern von ihrer konservativen Familie losgesagt. Seit 30 Jahren forscht sie zur Entwicklung der aufstrebenden muslimischen Mittelschicht in der Türkei und in Deutschland.
der Freitag: Frau Çavdar, worin liegt der Reiz einer rechtspopulistischen Partei für türkische Wähler*innen in Deutschland?
Ayşe Çavdar: Das hängt mit dem Erfolg des Populismus Recep Tayyip Erdoğans zusammen: Die Türkei wird als globaler Player gesehen. Diese Menschen, die bislang keine Stimme hatten, werden in Deutschland nun ernst genommen. Zwar sagt niemand: Oh, das stimmt, was du sagst
timme hatten, werden in Deutschland nun ernst genommen. Zwar sagt niemand: Oh, das stimmt, was du sagst. Aber zumindest hört man ihnen jetzt zu. Wenn jemand daran gewöhnt war, gesellschaftlich in der zweiten oder dritten Klasse zu spielen, ist sein Dasein nun gekoppelt an einen globalen Entscheider, mit dem das Selbstbewusstsein steigt. Wenn man Erdoğan aufgibt, fühlt sich das an, als würde man dieses Selbstvertrauen aufgeben.Gibt es hier einen Unterschied zwischen älteren und jüngeren Türkeistämmigen?Die erste Generation, die nach Deutschland kam, war meiner Meinung nach die liberalste. Sie haben sich in ein fremdes Land aufgemacht. Ihre Kinder, die zweite Generation, hatten sich für dieses Land entschieden, waren hier integrierter und hatten nicht vor, in die Türkei zu ziehen. Und wenn doch, wurden sie auch dort ausgegrenzt. Die dritte Generation ist die interessanteste.Wer ist das genau?Das wäre die Altersgruppe 35 bis 45. In Duisburg habe ich gesehen, was mit einer Stadt passiert, die ehemals Industriemetropole war. Nicht nur Einwanderer, sondern auch Deutsche hatten ihre Arbeitsplätze verloren. Ein Mann aus dieser Generation erzählte mir im Rahmen meiner Forschungen, dass er eine Karikatur in der Bild-Zeitung gesehen hatte, die die Türkei verächtlich machte. Zu diesem Zeitpunkt war Erdoğan gerade dabei, der Türkei einen wichtigeren Platz und Respekt auf der Welt zu verschaffen. Für diesen Duisburger wurde die Türkei zu einer Art Utopie, zu einem Ort, wo er hinkann, wenn er denn will. Und konservativer zu werden, wie Erdoğan es forderte, machte diese Utopie auch für ihn zu einer Möglichkeit.Mit „konservativer“ meinen Sie religiöser, so wie in der Türkei?Ich spreche nicht nur davon, religiöser zu werden, ich spreche davon, dass dieser Mensch versucht, eine stärkere Verbindung zu allem herzustellen, was ihn mit der Türkei verbindet. Mit dem Rückzug der Industrie haben sich seine Möglichkeiten hier verringert, und die Türkei wurde für ihn zu einer Alternative, auch wenn er nicht wegging. Andererseits konnte er nicht so viel Türkisch wie die beiden vorangegangenen Generationen. Da die herrschende Elite in der Türkei nun religiös ist, hat sich die Religion als Brücke erwiesen, über die er eine direkte Beziehung zu seinem Land herstellen kann.Sie haben bis in die 1990er Jahre hinein selbst eine sehr konservative, religiöse Familie erlebt. Gibt es einen Unterschied zwischen der Religiosität vor und der Religiosität nach Erdoğan?Das war insofern anders, als ich mit 18 oder 19 Jahren studieren und arbeiten konnte und mein eigenes Leben aufgebaut habe. Mein Lohn reichte für eine Wohnung. Aber heute können die jungen Menschen, die aus ihren konservativen Familien ausbrechen wollen, sich das nicht leisten, weil sie keine Arbeit finden. Diese Jobs gibt es nicht mehr, die Türkei ist zu teuer. Die Familie wird zur Falle. Seit vier Jahren forsche ich zu jungen Menschen aus der konservativen und religiösen Mittel- und Oberschicht. Das Religionsverständnis hat sich verengt. Das geschah mit der AKP-Politik ab 2007, wo der Islam und die Religiosität zu einer Art Referenz für die Kommunikation mit den Staatsoberen wurden, vor allem für Unternehmer. Sie waren entweder religiös – oder sie wurden es, anders ging es nicht.Sie sagten, die Familie wird zur Falle. Trifft das Frauen besonders?Die Familie ist in der konservativen Politik das Königreich des Vaters. Die Politik will den Vater stärken, er soll zu Hause befehlen, aber er soll nicht gegen den geringen Mindestlohn aufbegehren. Das ist das Schlimmste, was die Konservativen den Familien antun konnten. Aber für seine Anhängerinnen, die keiner Lohnarbeit nachgehen und nur zu Hause arbeiten, hat Erdoğan Möglichkeiten geschaffen, aus dem Haus zu kommen und sich politisch zu betätigen. Der Erfolg Erdoğans ist eigentlich der Erfolg dieser Frauen. Wenn sie ihn nicht mehr unterstützen würden, würden sie auch auf diese Freiheiten verzichten. Trotzdem: Die jungen Frauen, mit denen ich im Rahmen meiner Forschungsarbeit sprach, wollen nicht wie ihre Mütter werden. Mit der Zeit werden diese konservativen Familien weniger, so meine Annahme.Was würde ein möglicher Machtwechsel für die konservativen Gruppen bedeuten?Im Oppositionsbündnis gibt es viele Akteure, die die Konservativen ansprechen können. Obwohl es von einer sozialdemokratischen, linksgerichteten Partei angeführt wird, ist es ein Bündnis, das viele Formen der Rechten umfasst.Und welche Folgen hätte ein Machtwechsel für die türkischen Communitys in Deutschland? Was wäre etwa mit den DITIB-Moscheen, die bisher für die AKP-Regierung arbeiteten?Deutschland hat eine seltsame Beziehung zur Diyanet, dem Amt für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei. In den 1980er Jahren wurde der Dachverband DITIB in Deutschland gegründet, der mit der Diyanet in Verbindung steht, um hier ansässigen radikalen Sekten wie der Cemalettin Kaplans den Boden zu entziehen. Die damalige türkische Regierung war etwas laizistischer – auch wenn die Türkei nie ganz laizistisch war –, und mithilfe der DITIB und von Imamen aus der Türkei glaubte Deutschland eine akzeptablere Form des Islam forcieren zu können. Mit der AKP hat sich das Blatt dann gewendet. Doch was mit den Moscheen in Deutschland passiert, ist die Angelegenheit Deutschlands, nicht der Türkei. Große Folgen könnte die türkische Politik allerdings in Hinblick auf die Migration vor den Toren der EU haben.Sie meinen den EU-Türkei-Deal?Ja, das möchte ich betonen: Die EU, insbesondere Deutschland, verhindert mit diesem Abkommen, dass Menschen, die in die Türkei fliehen, ihre Rechte als Flüchtlinge wahrnehmen können. Denn Asylsuchende, die aus dem Osten in die Türkei kommen, werden nicht als Flüchtlinge anerkannt. Kämen sie in die EU, könnten sie ihre Rechte als Flüchtlinge wahrnehmen. Infolgedessen schafft dieses Abkommen große wirtschaftliche und soziale Probleme in der Türkei. Die EU will diese Probleme außerhalb ihrer Grenzen halten.Das wusste Erdoğan zu nutzen.Mit dem Trumpf der Flüchtlinge hat Erdoğan bei seinem autoritären Abenteuer die EU in jeder Angelegenheit zum Schweigen gebracht. Selbst die Liberalen sagten, dass sie dieses Abkommen wollten, um keine faschistischen Bewegungen in der EU zu provozieren. Mit anderen Worten: Die EU vertraut ironischerweise der Inklusivität und Toleranz der türkischen Gesellschaft mehr als ihrer eigenen. Schließlich tritt die Opposition in der Türkei heute unter diesen Umständen gegen eine nationalistische, religiöse und autoritäre Regierung an und hat sehr gute Chancen, zu gewinnen. Ich bin mir nicht sicher, ob die EU will, dass die Opposition in der Türkei diesen Kampf gewinnt. Schließlich wissen sie, dass dieses Abkommen wieder auf den Tisch kommen wird. Die EU wird sich erneut fragen müssen, warum und wie dieses Abkommen zustande gekommen ist und was es für die Werte bedeutet, an die die EU so sehr glaubt. Die EU will die Flüchtlinge nicht, und sie will diese Konfrontation nicht.Interessant: Gerade in Zeiten starker Migration erstarkt in der Türkei eine Opposition gegen eine nationalistische Regierung.Wenn die Opposition gewinnt, wird die Türkei nicht nur sehen, dass eine autoritäre Regierung durch Wahlen besiegt werden kann. Sie wird auch zeigen, ob rechte Ideologien, die sich seit den 2000er Jahren weltweit radikalisiert und damit die nationale und internationale Politik unberechenbar gemacht haben, die Fähigkeit haben, sich zu erneuern. Die Türkei wird die Frage beantworten, ob die rechtskonservative Politik wieder ein Zentrum hervorbringen kann, das offen für Verhandlungen mit allen ist. Deshalb sind die Wahlen nicht nur für die Türkei, sondern für die ganze Welt von Bedeutung.Placeholder infobox-1