Einwanderer in Deutschland: „Wir brachten euch Musik, Politik und Arbeitskampf“
Interview Seit 61 Jahren leben türkeistämmige Einwanderer*innen und ihre Nachkommen offiziell in Deutschland. Ein Gespräch über „Gastarbeiter“, ihre Feierkultur und die Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft
Arbeitsniederlegung von migrantischen Arbeiter:innen beim Autozulieferer Pierburg in Neuss (links); überwiegend türkeistämmige Arbeitnehmer bestreiken das Kölner Werk des Autoherstellers Ford im August 1973 (rechts)
Foto: Hanns J. Hemann/dpa (links), Klaus Rose/dpa (rechts)
Vor 61 Jahren wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland unterzeichnet. 900.000 türkeistämmige Gastarbeiter*innen kamen in den folgenden Jahren zum Arbeiten in die Fremde. Was verbinden Türkeistämmige heute noch mit den ersten Einwanderer*innen? Drei prominente Vertreter*innen der nachfolgenden zweiten und dritten Generation über Arbeit, Leben und Tod in Almanya.
der Freitag: Das Anwerbeabkommen mit der Türkei jährt sich am 30. Oktober zum 61. Mal. Eine ungerade Zahl. Trotzdem ein Tag zum Erinnern?
Sevim Aydin: Mich erinnert es daran, wie ich mit sechs Jahren nach Deutschland kam, in der Schule saß und kein Wort Deutsch konnte. Welche Angst ich hatte, beim Sprechen Fehler zu machen. Meine Mutter konnte nicht lesen und schreiben,
hatte, beim Sprechen Fehler zu machen. Meine Mutter konnte nicht lesen und schreiben, sie hat gearbeitet und nebenbei drei Kinder erzogen. Mein Bruder war zwölf, als er hier angekommen ist. Er war erst auf der Hauptschule, dann ist er aufs Gymnasium und hat später Jura studiert. Diese Laufbahn muss man erst mal schaffen! Solche Erfolge wurden nie gesehen. Es geht nun darum, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft darüber redet, das anerkennt und würdigt. Ich bin es meinen Eltern schuldig, dass darüber geredet wird.Hatice Acikgoez: Durch deinen Dokumentarfilm, Cem, habe ich erst gesehen, was die erste Generation alles durchmachen musste. Mir war schon bewusst, dass es schlimm war, aber nicht, wie schlimm. In meiner Familie wird nicht so viel darüber geredet.Cem Kaya: Eigentlich hat nicht das Abkommen 1961 dazu geführt, dass die ersten sogenannten Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind. Es gab in den 1960er Jahren kein Visum für die Türkei und unterschiedliche Wege, um nach Deutschland zu kommen. Das heißt, deutsche Firmen haben bereits in Eigeninitiative Arbeitskräfte aus der Türkei rekrutiert. Oder man konnte als Tourist hier einreisen und nach Arbeit suchen. Dadurch, dass die deutsche Wirtschaft es versäumt hat, Investitionen in die Automatisierung zu tätigen, haben sie, ich sage es mal mit Marx, diese „industrielle Reservearmee“ ins Land geholt. Das Abkommen mit der Türkei kam später. Das war der Versuch des Staates, die Migration nach Deutschland zu kontrollieren.Es gab ja mehrere solcher Abkommen mit anderen Ländern ...Kaya: Eben. Wenn wir sagen würden, wir rufen bald einen Bayram aus, einen Festtag für alle „Gastarbeiter“ am 31. Oktober – was ist dann mit den Jugoslawen? Mit den Tunesiern, Algeriern, Marokkanern, Koreanern, Italienern, Griechen, Spaniern und den Vertragsarbeitern in der DDR, was mit den Vietnamesen, Angolanern, den Kubanern? Wir haben viele solcher Abkommen und müssten uns einigen, welches Datum eigentlich gefeiert werden soll.In Ihrem Film „Liebe, D-Mark und Tod“, Herr Kaya, wurde die Feierkultur sehr ausführlich dargestellt. Kennen Sie drei das auch aus den eigenen Familien: hart arbeiten und hart feiern?Acikgoez: Meine Mutter wird es bestimmt doof finden, wenn ich das jetzt sage ... Aber meine Mama hat richtig abgefeiert. Wenn Besuch kam, hat sie ihr Bauchtanz-Hüfttuch rausgeholt und einen Battle mit den Gästen veranstaltet. Mein Gott, wie peinlich! Und natürlich gingen wir auf Hochzeiten und feierten mit irgendwelchen Leuten, die ich gar nicht kannte. Das fand ich schön an dem Film, dass eben nicht nur das Leid gezeigt wurde, sondern auch diese Seite unserer Kultur, wo wir tanzen und feiern.Aydin: Ich kann mich noch erinnern, dass jedes Wochenende Bekannte und Verwandte bei uns zusammenkamen, es war Party. Wir hatten in der Familie Sänger, die Saz spielten. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie meine Mama das geschafft hat: Vollzeit arbeiten und am Wochenende kochen, putzen und Gäste bewirten. Ich habe sehr viele positive Erinnerungen daran, dass die Menschen zusammensaßen. Diese Gesellschaft ist ja irgendwann weggebrochen. Das haben wir jetzt nicht mehr.Kaya: Eher ist das Klassenbewusstsein nicht mehr so da.Aydin: Wie meinst du das?Kaya: Warum gab es denn solche Nächte und Abende, wie du sie beschreibst? Das war oft in den alevitischen und kurdischen Wohnungen oder bei den links Politisierten. Und wenn du an die Zeit denkst, an die 1970er und 1980er Jahre – da kamen stark politisierte Migrant*innen. Leute wie Baha Targün zum Beispiel, der den Ford-Streik 1973 angeführt hat, oder wie Aşık Şah Turna, eine politische Volkssängerin, die die Türkei verlassen musste und in Berlin lebt. Diese Art von Kultur hat sich in den 2000er Jahren aufgelöst. Eben deshalb, weil das Klassenbewusstsein verschwunden ist. In der gewerkschaftlichen Arbeit waren ja die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter viel stärker involviert, das ist heute vermutlich auch nicht mehr so.Es wurde nicht anerkannt, wie politisch die Menschen waren, die damals kamen. Die migrantischen Kämpfe in den 1970ern werden noch immer als „wilde Streiks“ bezeichnet, weil sie von der IG Metall nicht unterstützt wurden. Bemühen sich die Gewerkschaften heute mehr um ihre migrantischen Mitglieder?Kaya: Da bin ich überfragt. Von meinen Recherchen für den Film weiß ich: Das Jahr der Ölkrise 1973 war eine Zäsur mit über 300 wilden Streiks und vielen Frauenstreiks. Das vergisst man, da die migrantische und die Gewerkschaftsgeschichte stark männerdominiert sind. Die Streikserie beginnt aber mit dem Streik der Frauen bei Pierburg, der dazu führte, dass deutschlandweit die Lohngruppe zwei, also die Frauenlohngruppe „Weniger Geld für die gleiche Arbeit“, abgeschafft wurde.Warum bei Pierburg?Kaya: Weil bei Pierburg 80 Prozent aller Vergaser in Deutschland hergestellt wurden. Hätte Pierburg stillgestanden, hätte die ganze Autoindustrie stillgestanden. Genau da waren aber weniger türkische, sondern mehr jugoslawische und griechische Gastarbeiterinnen. Und die haben den Streik zusammen mit den deutschen Arbeiterinnen organisiert. Beim Ford-Streik später gab es diese Solidarität nicht. Es waren nur wenige Deutsche bei dem Streik, abgesehen von ein paar Studenten, die mitgestritten haben.Aydin: Es gab bereits in den 1970er Jahren aktive Migrant*innen in den Gewerkschaften. Heute gibt es Gremien wie Migrantenbeiräte.Kaya: Früher konntest du dich ja gar nicht gewerkschaftlich engagieren. Mit dem Ausländergesetz ...Das Gesetz, das 1965 erlassen wurde und aufenthaltsrechtliche Fragen regulierte ...Kaya: ... hatte der Staat Befugnisse dafür, auch die politischen Aktivitäten zu dokumentieren. Die Arbeit war gekoppelt an die Aufenthaltserlaubnis, du hattest also viel zu verlieren: Job und Aufenthalt. Und dennoch haben sehr viele Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen da mitgemischt. Warum? Weil Südeuropa bis Mitte der 1970er Jahre von Diktaturen regiert wurde, in Spanien, Portugal und Griechenland. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die von dort kamen, waren arg politisiert.Das müsste doch eigentlich in allen Geschichtsbüchern für die Oberstufe stehen.Kaya: Genau wie der Frankfurter Häuserkampf. Eine linke deutsche Geschichte des Widerstands gegen Gentrifizierung – die ohne die unglaublich gut organisierten italienischen Gastarbeiter nicht vorstellbar gewesen wäre. Diese Geschichte wird nicht erzählt.Aber Sie erzählen diese Geschichten in Ihrer Dokumentation „Liebe, D-Mark und Tod“. Wie reagieren denn die biodeutschen Mitbürger*innen auf den Film?Kaya: Oh, großartig! Die sagen: „Das haben wir nicht gewusst.“ Klar, sie haben es ja auch nicht gewusst. Oder: ignoriert. Die sollen schon das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben.Die ersten Einwanderer aus der Türkei teilten das Gefühl des Fremdseins. Was verbindet die nachfolgenden Generationen, also uns, miteinander?Kaya: Die Musik!Aydin: Die Kultur!Acikgoez: Eigentlich schon viel. Auch eine Sache, die in Cems Film vorkam: Am Ende kam es immer wieder zurück auf den Rassismus. In meiner Generation und auch der Generation nach mir, wir tragen dieses Leid, die Trauer und auch die Wut der ersten und zweiten Generation in uns.Placeholder infobox-1Verwenden Sie diese Gefühle auch in Ihrer literarischen Arbeit?Acikgoez: Ich schreibe viel über meine Familiengeschichte und über den Rassismus, der immer noch stattfindet. Dass sich die Dinge noch nicht zum Guten gewendet haben, auch wenn es so scheint. Das verbindet uns.Frau Aydin, auf Ihrer Website steht der Claim „Aufstieg durch Bildung“, Leitsatz Ihrer Partei, der SPD. Gilt er immer noch für alle?Aydin: Für mich persönlich traf das zu, aber ich glaube nicht, dass der Satz für alle gilt. Ich habe nach meinem Studienabschluss vor etwa 20 Jahren etwa 100 Bewerbungen geschrieben. Ich kenne viele, die auch studiert haben und trotzdem keine Arbeit gefunden haben, die heute Spätis besitzen oder Taxifahrer sind. Das muss nichts Schlechtes bedeuten und das betrifft auch nicht nur die Einwanderer*innen. Es war die schlechte Arbeitsmarktlage.Acikgoez: Ich finde den Satz „Aufstieg durch Bildung“ schwierig. Mir wurde das in der Schule auch gesagt: Wenn ich mich anstrenge, könne ich alle Hürden überwinden! Aber das stimmt ja nicht. Das ist eine große Lüge. Ich habe auch 80 Bewerbungen geschrieben und viele Absagen oder gar keine Antwort bekommen. Manche Hürden sind für die Gesellschaft nicht sichtbar, wie Rassismus oder körperliche Einschränkungen. Werden sie nicht gesehen, hilft auch viel Bildung nichts.Kaya: Was ist denn mit „Aufstieg“ gemeint?Ein Klassenaufstieg?Kaya: Lassen wir die Arbeiterklasse dann hinter uns und sind auf einmal Mittelklasse? Und dann Bourgeoisie? Wollen wir Bourgeoisie sein? Ich nicht. Ich bin gebildet und fühle mich immer noch ganz arg Arbeiterklasse. Bildung ist schon wichtig, klar. Aber du kannst gebildet sein und in deiner Klasse verweilen. Und das ist ja genau das, was wir in den 1970ern hatten oder in den 1980ern: eine gebildete, eine bewusste Arbeiterklasse.Aydin: Ich meine natürlich den beruflichen Aufstieg. Wenn man einen besseren Job hat, dann verdient man auch besser. Aber du merkst das schon, wenn du dich für einen Job bewirbst. Wenn du gewisse Voraussetzungen nicht erfüllst, kriegst du den Job nicht.Kaya: Wir glauben, Leistung sei Bildung und Bildung sei gleich Aufstieg. Und wenn man nicht privilegiert ist und diese Chancen nicht hat? Wenn es kein Geld und kein Netzwerk gibt, dann gibt es auch keine Chancengleichheit. Eltern aus der Arbeiterklasse können dich nur bedingt unterstützen. Weil unsere Eltern damals mit dem Pappkoffer hierhergekommen sind und wir, also die zweite und dritte Generation, diesen Unterbau nicht haben, wissen wir doch, dass Bildung allein das oft nicht schafft.Bedingt durch die Diskriminierung, die im Schulsystem steckt?Aydin: Strukturelle Hindernisse sind ein Fakt, Früher haben die Migranten nie darüber nachgedacht, in die Verwaltung zu gehen. Heute gehen viele junge Leute in die Verwaltungen und kommen dort voran. Diese Stellen waren bisher für die Mehrheitsgesellschaft vorgesehen. Das ändert sich gerade.Kaya: Wenn jemand studiert hat, dann hat die ganze Familie einen Kraftaufwand dafür erbracht. Denn es fehlte jemand, der Geld verdient – und man musste ihn oder sie auch noch finanzieren. Das Studium musste deshalb eine Funktion erfüllen: Man musste damit Geld verdienen können. Also keine zehn Semester Philosophie!Da wir gerade bei der Arbeitsmarktsituation sind: Heute werden ja wieder Menschen angeworben, etwa als es im Sommer einen Engpass bei Mitarbeiter*innen an Flughäfen gab, oder in der Pflege. Was muss nun anders laufen als im Jahr 1961?Aydin: Auf jeden Fall muss mehr Wertschätzung gezeigt werden – die der ersten Generation gefehlt hat. Es kommen Ärzte und Ingenieure und Hilfskräfte. Für mich sind sie gleichberechtigt, weil wir auch diese Menschen brauchen. Wir können auf beide Gruppen nicht verzichten.Acikgoez: Ich finde schwierig, dass wir jetzt wieder Menschen für Arbeiten aus dem Ausland holen, die sonst keiner machen möchte.Kaya: Das Problem liegt doch eher darin, dass man glaubt, man könne eine Masse von Menschen einfach so von da nach da verschieben. Das ist schon wieder das gleiche Konzept. Aber die kommen wieder mit ihrer Kultur, mit ihren Gefühlen, und die lassen wieder ihre Kinder drüben. Die Menschen, die kommen, sind ja gut ausgebildet. Diese Ausbildung hat den deutschen Staat nichts gekostet, die hat der andere Staat bereits finanziert. Die Rechnung finde ich immer sehr lustig: Sie kosten uns nichts, sie zahlen in unsere Systeme ein, wovon sie meistens nichts zurückbekommen, und wir dürfen sie dann abschöpfen.Aydin: Ganz zu vergleichen ist die heutige Situation mit der der ersten Generation von Gastarbeiter*innen nicht. Sie erhalten Sprachkurse, teilweise schon in ihrem Herkunftsland.Und treffen hier auf Menschen, die diesen Weg bereits gegangen sind und helfen könnten. Um ihrer zu gedenken, möchten Sie ein Gastarbeiter*innen-Denkmal in Berlin-Kreuzberg errichten lassen, Frau Aydin.Aydin: Ja, mir sind die Lebensgeschichten dieser Menschen, ihre Erlebnisse und Erfahrungen sehr wichtig. Es gab eine Zeit, da sind die Kinder der Gastarbeiter in den Herkunftsländern bei den Großeltern aufgewachsen, weil es hier keine Betreuung für sie gab. Später wurden sie dann hierhergeholt und kannten ihre Eltern kaum. Solch ein Gedenkort würde die Möglichkeit schaffen, diese Erinnerungen und Erfahrungen, auch das Leid, das die erste Generation der Einwanderer*innen erlebt hat, in der Mehrheitsgesellschaft zu diskutieren – aller Gastarbeiter*innen, nicht nur der türkeistämmigen. Bisher passiert das ja nicht.Acikgoez: Ich hoffe, das entsteht auch wirklich. Steht schon fest, dass es diesen Ort geben wird?Aydin: Ich habe die Initiative gestartet, als ich noch Bezirksverordnete in Friedrichshain-Kreuzberg war. Als Landtagsabgeordnete verfolge ich das weiter. Übrigens nicht nur für die sogenannten Gastarbeiter*innen, sondern auch für die Vertragsarbeiter*innen der DDR. Unser Bezirk besteht ja aus einem Ost- und einem Westbezirk. Und die Vertragsarbeiter lebten im Ostteil der Stadt, in Friedrichshain. Deshalb macht es Sinn, dies dezentral zu planen. Also in einem Teil des Bezirks an die Vertragsarbeiter und im anderen Teil an die Gastarbeiter zu erinnern.Kaya: Wie soll so ein Denkmal am Ende aussehen? Wer macht das?Aydin: Mein Vorschlag ist, dass man das ausschreibt, dass man Ideen entwickelt und dabei, soweit es möglich ist, die erste Generation mit einbezieht. Es soll ja vor allem ein Denkmal für sie sein. Das wird sicher zu breiten Diskussionen führen, aber die sind ja auch schon ein wichtiger Teil einer solchen Erinnerungskultur.Wir haben nun häufiger über die Mehrheitsgesellschaft und die ignorierte Kultur der Einwanderer*innen gesprochen. Gibt es denn Begegnungspunkte, an denen diese Trennung aufbricht?Kaya: Ich glaube nicht, dass wir überall so arg voneinander getrennt sind. Es ist eher so, dass zum Beispiel Hochzeiten deutschfreie Räume waren, wo man endlich mal unter sich sein konnte. Weil: Die sind ja überall, die Deutschen! Und wir müssen uns die ganze Zeit mit deren Kultur beschäftigen. In die eine Richtung findet das also statt.Also bewusste Abgrenzung statt Ausgrenzung?Kaya: Das sind tatsächlich noch große Themen, Ausgrenzung und das Leben in der Fremde. Bei meinen Filmvorführungen merke ich das. Danach kommen die Menschen zu mir, und man merkt, die Wunden sitzen ganz schön tief. In allen drei Generationen. Erst gestern war ich in Düsseldorf und habe gemerkt, wie unverstanden sich die Leute fühlen. Das finde ich erstaunlich, ich selbst kenne das nicht.Aydin: Also ich erlebe das tatsächlich nicht mehr so. Das Miteinander ist stärker geworden. Es gibt zum Beispiel viele, viele deutsch-türkische Beziehungen.Acikgoez: Jetzt nennen sich die meisten Deutschen ja nicht mal mehr Deutsche. Sie nennen sich Alman. Irgendwie krass, die kennen viele Begriffe aus unserem Sprachgebrauch, das sind aber jetzt Jugendwörter oder auch Beleidigungen ...Kaya: Wie zum Beispiel „Mach keine Harekets“.Was so viel bedeutet wie „Mach keinen Scheiß“.Acikgoez: ... die kennen auch „Mashallah“ und so. Das wird einfach benutzt und manchmal sogar richtig angewendet.Und wie finden Sie das?Acikgoez: Ehrlich gesagt nicht so gut. Das ist irgendwie schon kulturelle Aneignung. Erst als die Dominanzgesellschaft gesagt hat, diese Sprache ist jetzt hip und modern, erst dann hatten sie Interesse, unsere Sprache zu lernen und uns nicht ihre aufzuzwingen. Ich finde aber schon auch, dass die Kulturen sich mehr in der Mitte treffen.Kaya: Wenn die Frage lautet: Sind wir kulturell angekommen oder nicht angekommen, sind wir durchmischt oder vermischt? Haben die Deutschen was gelernt oder nichts gelernt? Dann würde ich sagen: Gesamtgesellschaftlich geht es uns nicht gut.Warum?Kaya: Wir haben dieses Gespräch mit dem Jahrestag des Anwerbeabkommens angefangen, und damit, was er uns bedeutet. Ich habe aber nur Jahrestage von Anschlägen, von Mord und Totschlag in meinem Kalender stehen. Am Tag der Einheit war es Hünxe, der Brandanschlag 1991 mit den zwei libanesischen Mädchen, die unglaublich schlimme Verbrennungen erlitten. Hoyerswerda war gerade. Was jetzt kommt, ist Mölln. Dann der NSU. Der systemische Rassismus geht weiter, die Polizei mordet weiter. Wir haben kein Happy End.Placeholder authorbio-1