Warum bin ich ständig müde? Zwischen Erschöpfung und Erholung
Resilienz Morgens abgehetzt ins Büro, mittags Kaffee gegen das Tief, abends auf die Couch: Unsere Autorin fühlt sich ausgelaugt – wie die Hälfte aller Deutschen. Früher gab’s das nicht. Oder doch?
Sehen Sie auch so aus, wenn sie morgens in den Spiegel gucken? Sie sind nicht allein
Illustration: der Freitag
Über Erschöpfung sind eine Menge Lebensgeschichten zu hören oder zu lesen, allerdings sind es Erzählungen aus dem Nachher. Im Vorher finden sich kraftvolle Menschen, die ausgelaugt waren, fertig, ständig müde, und nun, nachher, wissen: So geht es nicht weiter. Dieser Text beschreibt das Dazwischen.
Nur die wenigsten würden aus meinem Alltagsverhalten darauf schließen, dass ich – nicht immer, aber oft – erschöpft bin. Die wenigsten würden bei meinem erschöpften Kreis von Freund*innen – und, oh, es sind viele! – denken: Ach Mensch, die sieht aber fertig aus. Sondern: Wow, der kommt aber gut durchs Leben. Denn alle haben einen Job, manche Kinder, es wird gesund gegessen und wenig getrunken, fast alle gehen zum Sport
zum Sport, sind nett mit sich und der Umwelt und überhaupt. Aber die pure Lebensfreude? Ich muss lange überlegen, wann ich das letzte Mal in meinem Umfeld davon gehört habe.Arbeiten wir einfach zu viel? Aber warum ist meinen Eltern die Erschöpfung dann so unbekannt? Mein Vater arbeitete in den 1980er Jahren im Drei-Schicht-System am Fließband, meine Mutter hatte zwei Jobs. Trotzdem war am Wochenende bei uns die Bude voll und wir hatten Besuch. Wir aßen und tranken und meine Eltern und ihre Freunde sangen lustige und traurige Lieder zusammen. Es sah aus wie jede Woche Party und es waren Momente der Lebensfreude. Im Rückblick erscheinen mir meine Eltern nie erschöpft, oder nur, wenn sie von der Arbeit kamen. Und auch sie selber würden sich nicht als überlastet sehen in ihren jungen Jahren. Dazu gab es auch nur zwei Fernsehsender und eine Reise im Jahr. Überschaubar. Hatten ihre Freunde und die Überschaubarkeit sie vielleicht vor dem bewahrt, was meine Generation hinterrücks beschleicht?Vergangenes Jahr befragte das Meinungsforschungsinstitut Civey 5.000 Menschen nach ihrem Grad der Erschöpfung und der Arbeitsbelastung. Rund die Hälfte gab an, sich erschöpft zu fühlen. Die Hälfte! Ist es also ein Generationending? Oder ist es eher ein Migranten- oder Schichtding? Dass wir dachten, wenn wir aufsteigen, wenn wir es doppelt so gut machen wie die weiße Mittelklasse, dann wird alles gut? Mittlerweile muss ich müde mit den Augen rollen, wenn ich solche Sätze von Aufsteigerinnen lese. Jaja, steigt mal schön auf. Ich bleibe lieber liegen. Und trotzdem lassen die Ansprüche an uns selbst nicht nach, oder? Müssen wir nicht Bescheid wissen, was alles auf der Welt passiert? Die angesagteste Diätidee (Noch Intervallfasten? Oder schon mediterrane Ernährung?), die neuesten Pläne der Regierung, die beste Kritik daran, die meistgesehene Netflix-Serie? Müssen wir nicht Bescheid wissen, wann die Nachrichten über Hunger, Elend, Krankheit und Krieg normales Hintergrundrauschen sind und wann es Zeit ist, sich auf die Straße zu begeben, sich zu empören und das Leid der Anderen nicht aus den Augen zu verlieren? Bloß wie?Dauerstress: Klimakrise, Krieg und SparenMein Umfeld und ich, wir sind die Gruppe der 40- bis 60-Jährigen, die sich wahlweise noch um die nicht mehr so kleinen Kinder kümmern oder schon um die noch nicht ganz so alten Eltern. Die schon ein paar Berufsjahre hinter, aber noch einige vor sich haben und deren bezaubernde erste Male (erstes Konzert, erste Liebe, erster Job) schon lange zurückliegen. Dafür kennen wir uns bereits etwas genauer und wissen, dass uns Kündigungen, Krankheiten, Tiefschläge, Trennungen und Tode lieber Menschen nicht zerstören, aber Spuren hinterlassen. Und dass das Leben und die Arbeit derweil weitergehen, immer. Immer! Meine Freundinnen, alleinerziehend und im Vollzeitjob, sind ausgebrannt – aber funktionieren trotzdem weiter. Arbeiten im Dauerstress. Leider ist diese Gruppe für die Arbeitgeber die beste, weil sie eben nicht so schnell kündigen werden. Es muss immer weitergehen, weil es weitergehen muss, für sie und ihre Kinder.Während ich das hier alles so aufreihe, und dabei noch gar nicht bei der Klimakatastrophe oder der rechtsextremen Bedrohung im Land angekommen bin, denke ich: Puh, ist das viel. Aber auch: Ist das viel? Darf ich das? Über meinen kleinen Kummer schreiben, während im Iran die Menschen seit September vergangenen Jahres auf die Straße gehen und für ihre Freiheit demonstrieren? Dabei sind sie ja nicht zu trennen, die großen und die kleinen Krisen. Empathie während einer Pandemie, Klimaschutz mitten auf dem Vier-Grad-Pfad, Antifa in Zeiten der Mobilisierung gegen Unterkünfte sind immer noch Handarbeit. Unsere Verantwortung. Gesellschaft, das sind wir. Und dazu, im Privaten, ist es eine Kulmination von Gleichzeitigkeiten, denen man sich nicht entziehen kann: Schulprobleme der Kinder, finanzielle Sorgen, Homeoffice, Lockdown, Überschwemmung und Krankheiten der Eltern kommen eben nicht schön nacheinander. Auf dem privaten Häufchen liegt immer noch das obendrauf, was gemeinhin als die „Zeit der multiplen Krisen“ bezeichnet wird. Die Coronapandemie, der Angriffskrieg in der Ukraine und ein schweres Erdbeben in der Türkei hinterlassen Spuren auf der Seele. Dieses Ermattetsein schon nach dem Aufstehen, die Müdigkeit zur Mittagszeit und das Wochenende, das auf dem Sofa liegend verbracht wird, sind eine körperliche und seelische Reaktion auf etwas, das auslaugt.Für Krisen gilt: Die Kraft, sie abzufedern, ist sozial ungleich verteilt. Laut der eingangs erwähnten Civey-Befragung fühlen sich Personen in Haushalten mit Kindern mit über 61 Prozent deutlich erschöpfter als in Haushalten ohne Kinder (47 Prozent). „Besorgniserregend“ nennen die Studien-Autoren auch die Einschätzungen von Studierenden und Auszubildenden, die sich zu 74 und 76 Prozent erschöpft fühlen. Um uns herum leben lauter ausgebrannte junge Menschen. Wahnsinn. Die Berliner Psychologin Aysin Inan erklärt das mit der Hoffnungslosigkeit für die Zukunftsperspektiven. „Bei den jungen Leuten ist ja gar nichts mehr sicher“, sagt sie. Sie betreut viele Patientinnen und Patienten, die mit Erschöpfungen zu kämpfen haben. Neben den schweren Fällen wie Burn-out oder der psychovegetativen Erschöpfung kennt sie die leichtere, schwelende Form auch aus ihrer eigenen Umgebung. „Die Erschöpfung, die wir erleben, ist im Grunde schon eine leichte Depression. Fragen wie: ‚Wo geht das hin? Was macht das mit uns?‘ haben uns ja alle vor allem während der Pandemie beschäftigt. Aber auch heute, angesichts politischer Prozesse, sind die Menschen wütend und fühlen sich machtlos.“ Schon im ersten Semester Psychologie lerne man, dass Machtlosigkeit und Wut leicht zu einer depressiven Verstimmung führen können, so Inan.Dabei ist die Erschöpfung kein Kind unserer Zeit, auch wenn der Kapitalismus mit seinem menschenfeindlichen Akkumulationsgeist einiges dazu beigetragen hat, dass sich weitaus mehr Leute von ihrer Umgebung entfremdet fühlen. In den Nachkriegsjahren hieß Erschöpfung „Managerkrankheit“, die sich Angestellte einer Firma erwerben konnten, indem sie sich bis zum Umfallen verausgabten. Aber schon im Mittelalter durften sich christliche Mönche nicht einfach erschöpft zeigen. „Acedia“, so der lateinische Name für die Krankheit der Mönche, stand für ein Leben in finanzieller Sicherheit, während man sich nicht mehr am Geschenk des Lebens erfreuen konnte. Die Trägheit des Geistes – eine Todsünde im Christentum. Noch weiter zurückliegend, hatte sich der bekannte persische Arzt Avicenna (Ibn-i Sina), geboren 980 nach Christus, mit der Erschöpfung des Geistes auseinandergesetzt und Kräuter und Musiktherapie empfohlen.Tipps gegen Erschöpfung: „Gehen Sie doch ins Grüne!“Auch heute gibt es vielerlei Angebote zur Bekämpfung der Erschöpfung. Von Gewichtsdecken, die mit einer Schwere von mehreren Kilogramm eine schützende Umgebung simulieren, bis hin zu teuren Resilienz-Wokshops. Und die Ärztinnen? Verschreiben nach einigen Untersuchungen nur seufzend Eisen. Sie kenne das Problem, meinte meine Hausärztin dann noch: Diese Abgeschlagenheit, das hätten viele, vor allem in einer Großstadt. Gehen Sie viel ins Grüne, pachten Sie sich einen Garten. Ist es also die Großstadt? Das bewusste oder unbewusste Ausblenden des Alltags mit dem Verkehr, den Menschen und den schnellen Abläufen, das Energie frisst? Wohl dem, der einen Garten hat und am Wochenende auf seine Möhren oder den Apfelbaum schaut – ist das jene Hälfte der Unerschöpften, die die Studie ausgemacht hat? Also gut, ins Grüne. Dahin fahre ich oft, schön quer durch Berlin, natürlich mit den Öffentlichen. Auf dem Rückweg in der S-Bahn, vor mir wahlweise ausgelaufene Bierflaschen oder Kotze, verwandele ich mich dann aber wieder in eine innerlich keifende Großstadtmotzerin. Und den eigenen Garten musste ich mir verkneifen: Die Kleingartenvereine sind seit der Pandemie überlaufen und antworten auf Anfragen noch nicht einmal. Erschöpfung angesichts der Bewerber-Mailflut bei den Vereinsleuten, vermute ich. Wenn ich also morgens das Kind heulend im Kindergarten abliefere, mir einen verbalen Fight mit dem Teenie liefere, auf dem Weg zur Arbeit einen Zahnpastafleck auf dem Kleid entdecke, während ich in der U-Bahn zerquetscht werde – dann bin ich schon erschöpft, ohne auch nur eine Minute am Schreibtisch gesessen zu haben. In den 1950ern, lese ich, haben die Frauen dann „Frauengold“ genommen: „Frauengold schafft Wohlbehagen – wohlgemerkt an allen Tagen!“, so ging der Marketingslogan für das alkoholhaltige Muntermachergetränk. Es wurde dann allerdings 1981 verboten, da es krebsfördernd war. Und überhaupt sind wir ja heute klüger: Alkohol und andere Drogen geben, wie wir alle wissen, nur kurzzeitige Entspannung.Kein Frauengold, kein Managergehalt, dafür todessündige Erschöpfung. „Das Gefühl annehmen und loslassen“, rät die Psychologin Inan. Und muss gleichzeitig zugeben, dass auch sie das nicht immer schafft. „Wir kennen das ja gar nicht, in meiner Alterskohorte“, sagt die 60-Jährige und meint „eine gesunde Art von Egoismus“. Wie kann der aussehen? An das eigene Gefühl solle man herankommen, sagt Aysin Inan, mit anderen darüber reden und sich selbst fragen: „Wie geht es mir eigentlich gerade?“Okay, also ich fühle, dass mein Körper sich anfühlt wie eine bunte, halb aufgepustete Luftmatratze, die versucht, auf der Oberfläche zu schwimmen, aber schon halb im Wasser hängt. Es geht nicht runter, aber auch nicht nach oben. Give me a break.