Wer das Wahlergebnis in Spanien analysiert, muss früher oder später die Frage beantworten, wie das gute Abschneiden von Pedro Sánchez und der Sozialisten zu erklären ist. Der brutale Wahlkampf der Rechten gegen ihn („Hochverräter“, Komplize de katalanischen „Staatsstreichs“ usw.) hat offenbar nicht funktioniert. Andererseits konnte der PSOE keinerlei kohärente Antworten auf die massiven Krisen in Spanien geben: Weder zum Problem Katalonien (im Wahlkampf, angesichts rechter Angriffe, versteifte sich Sánchez immer mehr auf eine kategorische Ablehnung jeder Art von – auch „nicht-bindendem“ – Referendum, und das Thema „Verfassungsreform“ verschwand vollends von der Agenda) noch zum Problem Baskenland. In beiden Gebieten sind die Unabhängigkeitsparteien mit der Wahl deutlich erstarkt, im Baskenland durch Zuwächse der Partei BILDU.
Auch zum „Handling“ einer möglichen Verurteilung der katalanischen Unabhängigkeitspolitiker durch das Oberste Gericht fehlt dem PSOE scheinbar jede Strategie, genauso wie zu den dringend erforderlichen Reformen des Wirtschaftssystems. Die Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei 14 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 35 (!). Es gibt nach wie vor Arbeitsverträge für weniger als sieben Tage. Ebenso wenig fällt dem PSOE etwas zu einer Rentenversicherung ein, die vor dem finanziellen Zusammenbruch steht, oder zum Kampf gegen die Korruption.
Wahlkampfthemen des PSOE waren der Mindestlohn, den Sánchez erst auf massiven Druck von Podemos heraufgesetzt hatte, ein Inflationsausgleich für Rentner, ein Gesetz für eine straffreie Euthanasie und wenig mehr. Vieles spricht dafür, dass die Angst vieler Wähler vor einer Rückkehr zu einem Spanien im Geist Francos größer war als die Angst vor einem Ausscheiden von Regionen des Landes aus dem Staatsverband als Folge einer PSOE-Regierung. Das würde eine Rekord-Wahlbeteiligung von 76 Prozent nach 67 Prozent bei den letzten Wahlen erklären. Angst als Motiv, PSOE zu wählen?
Mit allen reden
Wie steht es in diesem Moment um die Chance, eine Koalition von PSOE und UP (Unidos Podemos) mit Unterstützung kleinerer Parteien zu bilden, die Sánchez vor zehn Monaten ins Amt verholfen hatten, etwa des baskischen PNV (sechs Abgeordnete) und Compromis (ein Abgeordneter). Sánchez war bereits im Wahlkampf dem wiederholten Angebot von Pablo Iglesias (UP) zu einer Koalition beharrlich ausgewichen. Mehr noch: Er verweigerte hartnäckig eine Antwort auf die Frage von Iglesias, ob er eine Koalition mit der Rechtspartei Ciudadanos denn wirklich ausschließe.
Die Ambivalenz von Sánchez gipfelte in den letzten Tagen vor der Abstimmung in der Aussage, er wäre bereit, mit allen Parteien zu reden, die auf dem Boden der Verfassung stehen. In dieser Ambivalenz von Sánchez mischt sich eine naive Arroganz mit Angst vor seinen rechten Parteibaronen: etwa García Page in Castilla la Mancha, Lambán in Aragón und Susana Díaz in Andalusien. Die naive Arroganz gründet auf den Verlusten von Unidos Podemos, gemessen an der Zahl der Abgeordneten. Dabei verschweigt Sánchez geflissentlich den Effekt eines ungerechten Wahlsystems: dem PSOE reichten für einen Abgeordneten 60.819 Wählerstimmen, UP dagegen benötigte 88.879. Auf der Basis des PSOE-Schlüssels wäre UP auf 61 statt 42 Abgeordnete gekommen. Eine Reform des ungerechten Wahlsystems haben PSOE und Volkspartei seit vielen Jahren immer wieder blockiert.
Kein "weiter so"
Abgesehen von den spezifischen Motiven von Sánchez darf aber nicht vergessen werden, dass sich der PSOE ähnlich wie die SPD in Deutschland zuletzt immer mehr einer wirtschaftsliberalen Linie angenähert hat. Oder – wie es ein Abgeordneter von Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) formulierte: Im Zweifel setzen sich am Ende die Interessen des IBEX 35 (das Äquivalent zum DAX in Deutschland) und des Unternehmerverbands CEOE durch. Diese Nähe manifestierte sich in der Vergangenheit immer wieder im sogenannten „Drehtür-Prinzip“: Frisch ausgeschiedene PSOE-Minister hatten kurz darauf üppige Verträge mit IBEX 35-Unternehmen.
Wie sieht die aktuelle Situation aus? Die noch amtierende Vizepräsidentin hatte kurz nach der Wahl verkündet, der PSOE würde vorziehen, aus eigener Kraft zu regieren. Dieser Aussage folgte umgehend der Applaus des Unternehmerverbandes. Mit einigen Tagen Verspätung hat sich nun Pedro Sánchez gemeldet: er schlägt Pablo Iglesias einen „programmatischen Pakt“ ohne Eintritt in die Regierung vor. Damit will er wohl einen „Sicherheitsabstand“ gegenüber einer linken „Ansteckungsgefahr“ garantieren. Es ist unwahrscheinlich, dass sich UP damit abspeisen lässt. Auch bei der Basis junger Wähler, die in der Nacht nach dem Sieg des PSOE vor dessen Parteisitz in Madrid massenhaft für einen linken Wandel demonstrierten, dürfte dieser Vorschlag keine Freude auslösen (die Demonstration war so massiv, dass der ehemalige uruguayische Präsident Mujica in der gleichen Nacht per Twitter Sánchez aufrief, den Willen der Basis zu respektieren). Letztlich wird wohl doch die rechnerische Seite ihr Gewicht haben, denn ein „weiter so“ wird auch der katalanistischen ERC nicht ausreichen, sich bei der Wahl von Sánchez der Stimme zu enthalten oder ihn gar zu unterstützen.
Kommentare 1
Sanchez vorzuwerfen, er habe kein Konzept für die Separatisten in Katalonien, dem Baskenland, den Kanaren, Navarra und Valencia, ist vermessen. Wie soll er das denn anstellen? Als spanischer Ministerpräsident ist es seine wichtigste Aufgabe, den Laden zusammenzuhalten. Welche Lösung hätte denn Podemos anzubieten? Und wovon soll Sanchez soziale Wohltaten bezahlen, wenn ihm seine separatistischen "linken" Unterstützer den Haushalt verweigern? Eine "große Koalition" von PSOE und Cds ist rechnerisch die einzige Möglichkeit, eine stabile Regierung zu bilden. Daher muss Sanchez das auf jeden Fall versuchen. Dass sich Cds ziert, ist nachvollziehbar: Wie die PP mit ihrem Gürtel Korruptions-Skandal leidet PSOE am ERE Korruptionsskandal im sozialistischen Kernland Andalusien. Vielleicht gelingt es Sanchez, die Verantwortung dafür auf Susana Diaz und ihren Vorgänger Manuel Chaves abzuwälzen und sich selbst den Cds als Saubermann zu präsentieren? Schließlich steht Sanchez erst seit 2014 an der Spitze von PSOE.
Dass sich PSOE mit seinem Parteiprogramm der deutschen SPD annähert, scheint einem großen Teil der spanischen Wähler gefallen zu haben, während Podemos mit seinen wechselnden Klein-Koalitionen sie eher verschreckt hat. Dass Podemos mehr Stimmen für einen Parlamentssitz benötigt als PSOE, ist dem spanischen Wahlgesetz geschuldet (was soll da erst die Tierschutzpartei PACMA sagen?), lenkt aber vom eigentlichen Problem, nämlich der fehlenden Glaubwürdigkeit der Führung von Podemos, ab. Wie wenig Anziehungskraft Podemos auf die Wähler ausübt, konnte man bei den Senatswahlen sehen: Null neue Senatoren für Podemos.
Die einzige Möglichkeit, in Spanien wieder eine handlungsfähige Regierung zu ermöglichen - egal ob links oder rechts , liegt in einer Reform des Wahlgesetzes. Die fünf großen Parteien - PSOE, PP, Cds, UI-Podemos und VOX hätten allen Grund, dem zuzustimmen, denn keine von ihnen müsste wegen einer 5-Prozent Sperrklausel um ihren eigenen Bestand fürchten. Da Sanchez im Senat über eine solide absolute Mehrheit verfügt, sollte er das jetzt in die Wege leiten. Andernfalls werden wir bald wieder Neuwahlen erleben mit demselben chaotischen Ausgang wie 2016 und 2019. Und täglich grüßt das Murmeltier...