Im spanischen Verfassungsgericht wird aus der rechten eine linke Mehrheit

Meinung Spaniens Judikative hat das Land über Wochen in Atem gehalten. Nun jedoch hat die Linke durch taktisches Geschick eine Blockade durchbrochen – mit einigen politischen Folgen
Selbst König Felipe sprach in seiner Fernsehansprache zum Jahresende von einer „Erosion“ staatlicher Institutionen
Selbst König Felipe sprach in seiner Fernsehansprache zum Jahresende von einer „Erosion“ staatlicher Institutionen

Foto: Casa de S.M. el Rey/Spanish Royal Household via Getty Images

Kaum eine Woche ist vergangen, seit das spanische Verfassungsgericht in einer nie da gewesenen Entscheidung die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt hatte: In ein laufendes Gesetzgebungsverfahren eingreifend, war es dem Senat als der Zweiten Kammer der Legislative untersagt worden, über ein Gesetz zur Judikative abzustimmen. Es sollte der durch die spanische Rechte seit Jahren blockierten Erneuerung eines Schlüsselorgans des Justizapparats – des Generalrats der rechtsprechenden Gewalt (CGPJ) und eben des Verfassungsgerichts – ein Ende setzen.

Dieser Angriff auf den Rechtsstaat war so brutal, dass selbst König Felipe in seiner Fernsehansprache zum Jahresende von einer „Erosion“ staatlicher Institutionen sprach. Bisher hatten sich seine Reden bei dieser Gelegenheit immer in Belanglosigkeiten und patriotischen Phrasen erschöpft. Obwohl es die Medien der wiedergewonnenen Autorität der Monarchie zuschreiben, ist das, was nun passiert ist, kaum damit zu erklären: Plötzlich und unerwartet hatte sich der CGPJ einstimmig auf zwei Kandidaten geeinigt. Sie sollen die ihm zustehenden Sitze im Verfassungsgericht besetzen.

Es handelt sich um den „konservativen“ Richter César Tolosa und die „fortschrittliche“ Richterin Maria Luisa Segoviano (spanische Medien ziehen die Worte „konservativ“ und „fortschrittlich“ einer Spezifizierung wie „der Rechtspartei PP nahestehend“ bzw. „der Sozialistischen Partei PSOE nahestehend“ vor).

Keine neuen Tricks

Der seit jeher respektierte Proporz „rechts-links“ war nicht überraschend, wohl aber, dass die acht fortschrittlichen „Vokale“ des CGPJ ihren Kandidaten Manuel Bandrés fallenließen und der von den neun Konservativen vorgeschlagenen fortschrittlichen María Luisa Segoviano ihre Stimme gaben. Genau wegen dieser Alternative war die Entscheidung lange blockiert gewesen.

Es ging bei alledem – wie bei dem skandalösen Eingriff des Verfassungsgerichts in die Tätigkeit der Legislative gerade noch einmal vorgeführt – der Rechten gar nicht um das Profil des einen oder des anderen Bewerbers, sondern schlicht und einfach um die Fortsetzung der Blockade. Es sollte eine Anpassung der Mehrheitsverhältnisse im Verfassungsgericht an die veränderten politischen Mehrheiten im Land verhindert werden.

Hätte der „fortschrittliche Block“ sein Einlenken vorab öffentlich gemacht, wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit ein neuer Trick zur Fortführung der Blockade gefunden worden. Der „Gegentrick“ der Fortschrittlichen: der Schwenk, das Akzeptieren der Kandidatin Segoviano, wurde bis zur Abstimmung in der Sitzung des CGPJ streng geheimgehalten. Mit der einstimmigen Wahl der von der rechten Mehrheit des CGPJ nominierten Kandidaten wurde diese also völlig überrumpelt. Für neue Blockadetricks war es zu spät. Das hindert die spanischen Mainstream-Medien nicht daran, die Sache auf den Kopf zu stellen. Tenor: Das institutionelle Verantwortungsbewusstsein der rechten Richter habe die Blockade der linken Regierung beendet.

Mit der Wahl dieser zwei Kandidaten war aber auch automatisch der Weg frei für die Neubesetzung der beiden weiteren von der Regierung neu zu besetzenden Richterstellen des Verfassungsgerichts. Dort scheiden jetzt drei konservative und ein fortschrittlicher Richter wegen Ablauf ihres Mandats aus. Dafür treten drei fortschrittliche Richter/Richterinnen und ein konservativer Richter neu ins Gericht ein. Aus der rechten Mehrheit von 6:5 wird eine linke Mehrheit von 7:4.

Pannen wieder ausbügeln

Dieser „Überraschungscoup“ ermöglicht zwar jetzt dem Verfassungsgericht die Rückkehr zur Verfassungsmäßigkeit. Der eigentliche Skandal, nämlich das seit über vier Jahren abgelaufene Mandat des CGPJ, ist davon aber nicht berührt. Dessen Erneuerung müsste zwischen Regierung und dem rechten Partido Popular (PP) ausgehandelt werden. Deren Vorsitzender Alberto Núñez Feijóo hatte unter starkem Druck der rechten Medien vor einigen Monaten eine unterschriftsreife Einigung in letzter Minute platzen lassen und öffentlich verkündet, mit der gegenwärtigen Sozialistischen Partei und ihrem Vorsitzenden, dem Regierungschef Pedro Sánchez, keinerlei Verhandlungen mehr führen zu wollen.

Die Veränderung der Mehrheitsverhältnisse beim Verfassungsgericht hat trotzdem politisches Gewicht, denn dort stehen wichtige Entscheidungen an wie die Anfechtung der liberalen Gesetzgebung zur Abtreibung und zur Euthanasie durch die Rechte (neben dem PP die faschistische Partei Vox). Auch das neue Gesetz zur Reform des Schulsystems LOMLOE, das u.a. die staatliche Finanzierung der meist katholischen Privatschulen durch den Staat an strengere Bedingungen und das Akzeptieren säkularer Fundamente knüpft, steht auf der Agenda des Gerichts.

Bei alledem darf nicht vergessen werden, dass der Partido Popular nach allen Umfragen die Wahlen Ende nächsten 2023 gewinnen könnte, um dann – mit oder ohne die faschistische Partei Vox in der Regierung – die Spuren der Linksregierung und ihrer Reformen zu schnell wie möglich auszulöschen. Dazu wird gehören, „Pannen“ wie den Verlust ihrer Mehrheit im Verfassungsgericht wieder „auszubügeln“.

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