Das Warten auf die Urteile gegen die zwölf Angeklagten der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung wurde von den meisten Medien nicht mit Ungeduld, sondern fast festlicher Vorfreude begleitet. Stichwort: Professionalität, die der Richter, die der Sicherheitsorgane, die des Staats insgesamt. Als würde es sich um ein perfektes Militärmanöver handeln: mit Einkesselung des Gegners nach Punktlandung hinter seinen Linien.
Auch der Termin der Urteilsverkündung eine Punktlandung: optimal die gesetzliche Frist von zwei Jahren Untersuchungshaft ausgenutzt, minus einen Tag, denn einen Tag später wäre die Urteilsverkündung mit dem Jahrestag der standrechtlichen Erschießung des katalanischen Präsidenten Lluis Companys unter der Franco-Diktatur zusammengefallen. Von Zweifeln keine Spur. Geht es nicht auch um 2,5 Millionen Katalanen, die beim Referendum am 1. Oktober 2017 abgestimmt hatten?
Kein einziger Euro
Das Oberste Gericht hat sich zwischen den beiden Optionen „rebelión“ (gewaltförmiger Angriff auf die staatliche Ordnung = Staatsstreich) und „sedición“ (gewaltförmiges Stören und Lahmlegen der öffentlichen Ordnung = Aufruhr) für „sedición“ entschieden. Das mag zunächst als Abmilderung der ursprünglichen Anklage erscheinen. Und die meisten Medien, die die Angeklagten über zwei Jahre lang als „Putschisten“ beschimpften, werden jetzt – wenn auch nur kurz – etwas in Verlegenheit geraten. Doch auch der Tatbestand des Aufruhrs setzt Gewalt voraus, und diese wurde von über 300 spanischen prominenten Strafrechtsexperten in einem Manifest verneint. Das Gericht hilft sich hier mit künstlichen Konstruktionen: „Gewaltabsicht“ oder „in Kauf nehmen“ von Gewalt, das Ausnützen von – wenn auch von anderen – zu verantwortenden Gewalttaten für ihre Ziele.
Letztlich wird der mangelnde Wille bestraft, eine womöglich revolutionäre Dynamik mit allen Mitteln – auch mit Gewalt – zu ersticken. Diese Logik stellt das Gewaltproblem geradezu auf den Kopf. Mit dieser subjektiven Interpretation von Straftatbeständen ist der Vorsitzende Richter Marchena schon wiederholt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingebrochen. Auf ähnliche Konstruktionen stützt sich die Verurteilung wegen Veruntreuung, denn nicht der rechtswidrige Abfluss eines einzigen Euros für das Unabhängigkeitsprojekts konnte nachgewiesen werden. Ergebnis dieses Verständnisses von „Rechtsprechung“: Insgesamt neun Haftstrafen, zwischen 13 Jahren für den Ex-Vizepräsidenten Oriol Junqueras und neun Jahren für die Ex-Koordinatoren der zivilgesellschaftlichen Organisationen ANC und Omnium Cultural.
Kriminalisiert werden muss
Der spanische Staat hatte sich auf die Urteilsverkündung in einer Art Mobilmachung vorbereitet. Wie schon vor zwei Jahren anlässlich des Referendums sind die Truppen der Guardia Civil und Nationalpolizei in Katalonien massiv verstärkt werden. Und tatsächlich spricht vieles dafür, dass die Proteste und der Kampf für die Unabhängigkeit nun eine neue Qualität annehmen: massenhafter ziviler Ungehorsam, Blockieren der Autostraßen durch einen dreitägigen Sternmarsch nach Barcelona aus verschiedenen Regionen Kataloniens, ein „demokratischer Tsunami“. Auch ein Generalstreik ist geplant. Das Ziel aller Aktionen ist, Katalonien lahmzulegen. Dabei setzen sowohl die Führung von ANC und Omnium Cultural als auch die Unabhängigkeitsparteien nach wie vor auf Gewaltlosigkeit. Auch der radikalere Teil der Bewegung, die Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR), hat bisher der Versuchung widerstanden, mit nicht gewaltlosen Mitteln zu kämpfen,.
Umso mehr setzen Justiz und Polizeiapparat alles daran, die Kriminalisierung der Bewegung zu verstärken, die ja bereits den Prozess der jetzt Verurteilten bestimmt hatte. Seit Wochen weiten sich einschüchternde Aktivitäten der Polizei aus, wie Beobachter berichten. Ein Musterbeispiel ist die Polizeiaktion am 23. September gegen neun aus den CDR kommende Aktivisten aus Sabadell und weiteren Orten. Spezialeinheiten der Guardia Civil, ein Heer von 500 Mann, darunter Experten des TEDAX zur Entschärfung von Sprengstoff, nahmen diese Personen wegen Terrorverdacht fest, von denen zwei gleich wieder freigelassen werden mussten. In einem Video, das dem Genre „Terminator“ zu entstammen scheint, zertrümmert ein ganzer Trupp schwerbewaffneter Polizisten eine Wohnungstür, mit den panischen Schreien der Bewohner im Hintergrund.
Seit Jahren leer
Sehr schnell berichten die Medien von „Beweismaterial“: Zwar kein Sprengstoff, aber Substanzen, aus denen pyrotechnische Gegenstände hergestellt werden können (Fundort ist ein Lager mit Feuerwerksmaterial des Festkomitees von Sabadell), eine Wahlurne aus der Zeit des Referendums sowie ein Plan des Quartiers der Guardia Civil in Canovellas (von dem einige Tage später zu lesen ist, es würde seit Jahren leer stehen).
Die Operation heißt „Judas“, wohl eine Anspielung darauf, dass die Festgenommenen von einem aus ihren Reihen „verraten“ worden sind. Wie in Spanien üblich, springen die Medien fast ausnahmslos auf das Narrativ eines im Entstehen begriffenen katalanischen Terrornetzwerks auf. Und nicht nur das: Kurz darauf wird berichtet, einer der Festgenommenen habe von direkten Verbindungen der Gruppe mit Carles Puigdemont und dem katalanischen Präsidenten Torra gesprochen. Interessanter noch als solche systematisch gestreuten „fake news“ sind die Einblicke, die das alles in das Agieren von Polizei und Justiz ermöglicht: Wieder mal tritt ein Richter als „Shooting Star“ auf die Bühne und füllt die Nachrichten: Manuel García Castellón, mit besten Aussichten, wie seinerzeit sein Kollege Llarena zu einer Art Primadonna der spanischen Justiz zu werden.
Trotz eines Untersuchungsgeheimnisses werden die antikatalanischen Medien aus seinem Haus ständig mit wenig kohärenten Informationen versorgt, während die Anwälte im Dunkeln tappen. Einigen Festgenommenen wird ein Verteidiger ihrer Wahl verweigert und ein Pflichtverteidiger aufgezwungen. Insgesamt zählt Gemma Liñan in der digitalen Zeitung elnacional.cat in einem Artikel zehn Verletzungen der Rechte der Festgenommenen auf. Nebenbei gesagt erfuhr der verantwortliche Innenminister erst nachträglich von der Operation und die zuständige katalanische Polizei wurde völlig übergangen.
Organisierter Terror
Einige „Randmedien“ erinnern sich an die staatsterroristische Organisation GAL, die in den 80-Jahren auf Mitglieder der baskischen ETA angesetzt wurde. Der spanische Staat weiß also durchaus, wie bei Bedarf Terror organisiert werden kann. Der verantwortliche sozialistische (!) Minister und sein Staatssekretär mussten seinerzeit von ihren langjährigen Haftstrafen nur einige Monate absitzen. Die Operation Judas jedenfalls gibt einen Vorgeschmack, wie der Staat mit den Urteilen gegen die Katalanen und den von diesen ausgelösten Reaktionen umzugehen plant.
Die Urteilsverkündung fällt in eine innenpolitische Situation, mit der der amtierende sozialistische Präsident Pedro Sánchez zunächst gar nicht so unzufrieden gewesen sein dürfte. Er konnte sich „schlaflose Nächte“ (Zitat) ersparen, die er in einer Koalition mit Unidas Podemos erlebt hätte, einer Partei, bei der er nicht sicher sein konnte, wieweit sie bei den bevorstehenden Zuspitzungen und Repressionsmaßnahmen stillgehalten hätte. Er versuchte nun stattdessen, sich als Hüter der nationalen Einheit zu profilieren. Kurz gesagt: er hoffte wohl darauf, dass bis zu den Wahlen im November die schlimmste „Drecksarbeit“ in Form „unvermeidlicher“ repressiver Maßnahmen erledigt und vergessen wäre und der Verlust linker Wähler durch patriotische Wähler kompensiert werden könne.
König läuft frei herum
In letzter Zeit hat sich die Situation für Sánchez allerdings kompliziert: Errejón, Mitgründer von Podemos, hat sich von dieser Partei entfernt und eine neue Partei mit dem Namen „Más País“ aus dem Boden gestampft. Es wird nun mit einer erheblichen Abwanderung von Wählern nicht nur von Podemos sondern auch von dem PSOE gerechnet, was der „Linken“ insgesamt wegen des spanischen Wahlsystems einen beträchtlichen Verlust von Abgeordneten bescheren könnte. Kurz: Die Vorteile, die sich Pedro Sánchez von den Neuwahlen versprochen hatte, sind dabei, sich in Luft aufzulösen. Er reagiert darauf nach und nach mit einem Schwenk nach rechts. Schon jetzt reizen seine Wahlkampfauftritte zum Zitieren von Tucholskys Gedicht über das „bescheidene Radieschen: außen rot und innen weiß“. Im Übrigen bleibt zu hoffen, dass Europa endlich gegenüber einem Mitgliedstaat Stellung nimmt, der eine demokratische Abstimmung mit 13 Jahren Haft bestraft und einen abgedankten König, der unter dem Verdacht schwerer Straftaten steht, dank seiner „Unantastbarkeit“ frei herumlaufen lässt.
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