Der Erfinder der Rebellion

Spanien Für Richter Pablo Llarena bedeutet die deutsche Entscheidung zur Auslieferung von Carles Puigdemont eine Niederlage
Ausgabe 29/2018

Gerade recht zur Urlaubszeit hat der rastlose Richter Llarena noch einige für die Zukunft Spaniens wichtige Entscheidungen getroffen. Nach Einreichen seiner Anklageschrift hat er sechs am 21. Dezember 2017 gewählte Abgeordnete des katalanischen Parlaments aus ihren Rechten und Funktionen enthoben, darunter Carles Puigdemont. In einem beispielhaften Akt der Mäßigung räumte er jedoch dem katalanischen Parlament zugleich das Recht ein, die sechs frei gewordenen Sitze mit anderen Kandidaten der Wahlen im Dezember zu besetzen. Die Madrider „Separatistenjäger“ sind darüber enttäuscht, hatten sie doch gehofft, mit Llarenas Hilfe die Mehrheit der Unabhängigkeitsparteien in der Legislative Kataloniens endlich brechen zu können.

Zur Mäßigung des Richters könnte beigetragen haben, dass unverhofft seine Rolle als Protagonist der Regierungspolitik in Gefahr geraten ist. Der neue Premier Pedro Sánchez vom Partido Socialista Obrero Español (PSOE), hervorgegangen aus einem Misstrauensvotum gegen die an der Korruption förmlich erstickte Regierung von Mariano Rajoy und seinem Partido Popular (PP), trat mit der Absicht an, die „Judizialisierung“ der Katalonienfrage zu beenden und eine politische Lösung zu suchen. Erste Schritte sind getan: Nachdem Rajoy jahrelang Gespräche verweigert hatte, gab es kürzlich ein erstes Treffen zwischen dem neuen katalanischen Regionalpräsidenten Quim Torra und Sánchez in Madrid – und das ohne Vorbedingungen. Nach den Fotos zu urteilen, verlief es in vergleichsweise freundlicher Atmosphäre. Dabei wurde trotz des Festhaltens von Torra am „procés“ (Unabhängigkeitsplan) über konkrete Themen gesprochen wie die Finanzierung von Madrid zugesagter und auf Eis gelegter Projekte, die Freigabe einer Reihe durch die Rajoy-Regierung blockierter Verordnungen und Gesetze, etwa das Gesundheits- und Schulsystem betreffend.

Kampfmittel Aktenflut

Kurz darauf fand ein weiteres Treffen zwischen den Vizepremiers der katalanischen Regierung und der Zentralregierung statt. Die Aufforderung von Pedro Sánchez, sich nicht länger hinter den Richterroben „zu verstecken“, dürfte Llarena als direkte Anspielung auf seine Person verstanden haben. Umso wichtiger wäre es für „Seine Hochwürden“ (Übersetzung seines spanischen Titels „Ilustrísimo“) gewesen, noch vor Fertigstellung seiner Anklageschrift Carles Puigdemont hinter Gitter zu bringen und seiner Sammlung von bisher neun katalanischen Untersuchungshäftlingen hinzuzufügen (der Eifer der jetzigen Regierung hat hier nachgelassen: kürzlich erklärte Josep Borrell, der neue Außenminister, Spanien würde auch die Entscheidung für eine Nicht-Auslieferung Puigdemonts akzeptieren). Aber hier hatte sich Llarena selbst ein Bein gestellt: In seinem Eifer, das Oberlandesgericht in Schleswig-Holstein doch noch vom Anklagepunkt „Hochverrat“ zu überzeugen, überschüttete er die Kammer mit Tausenden von Seiten Beweismittel (laut El País insgesamt 38 Megabyte), sodass diese die Entscheidung über eine Auslieferung immer wieder hinausschieben musste und es erst jetzt geschafft hat, sich aus all dem Material hervorzugraben, mit einem für Llarena enttäuschenden Ergebnis: Puigdemont darf nicht wegen „Rebellion“ ausgeliefert werden.

Llarena hatte vorweg zu verstehen gegeben, dass er einen solchen Beschluss als persönliche Beleidigung betrachten und eine Auslieferung nur wegen „Veruntreuung“ nicht akzeptieren würde. Einige spanische Juristen schlugen zwar inzwischen vor, dies einfach hinzunehmen und Puigdemont nach Verstreichen einer bestimmten Frist wegen Rebellion anzuklagen, doch hat es momentan eher den Anschein, als müsste der für Ende 2018 angesetzte Prozess gegen die Separatisten beim Hauptanklagepunkt „Rebellion“ ohne Puigdemont auskommen. Sollte der tatsächlich an Spanien überstellt und wegen Veruntreuung verurteilt werden, könnte er nach Zahlung der entsprechenden Geldbeträge – sie kämen durch Crowdfunding vermutlich schnell zusammen – bald wieder freikommen und dann sogar erneut für das Amt des Regierungschefs in Barcelona kandidieren, wahrlich ein Horrorszenario für Herrn Llarena. Aber damit nicht genug: Ein belgisches Gericht hat sich erdreistet, ihn für den 4. September vorzuladen. Der Grund ist eine Klage von Puigdemont und der seinerzeit mit ihm nach Belgien geflüchteten Ex-Minister wegen politischer Befangenheit und der Verletzung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren. Sollte Llarena der Vorladung folgen, wäre seine Funktion als Ermittlungsrichter bedroht. Angesichts einer solchen „Majestätsbeleidigung“ hat sich Spaniens Oberstes Gericht wie eine Mauer vor ihn gestellt. Dessen Präsident Carlos Lesmes hat die PSOE-Regierung aufgefordert, direkt bei der belgischen Justiz zu intervenieren.

Über einen zentralen Schwachpunkt der von Llarena verfassten Anklageschrift gegen die katalanischen Separatisten schweigen die spanischen Medien bisher weitgehend. Es geht um die Frage, ob das Oberste Gericht in Madrid überhaupt berechtigt war, das Verfahren an sich zu ziehen. Nach der geltenden Rechtsordnung und der darin eingebetteten katalanischen Verfassung wäre der Oberste Gerichtshof Kataloniens in erster Instanz dafür zuständig gewesen – erst in zweiter Instanz die Kammer in Madrid. Javier Pérez Royo, Verfassungsrechtler an der Universität Sevilla, spricht in einem Artikel für die digitale Zeitung eldiario.es von der „Achillesferse des Verfahrens“. Schließlich würden die Angeklagten der Berufungsmöglichkeit bei einer zweiten Instanz beraubt. Bleibt abzuwarten, wie das seit Langem rechtslastige, dem Partido Popular hörige Verfassungsgericht nun reagiert. Sollte diesem Einwand stattgegeben werden, wären alle Ermittlungen Llarenas „für die Katz“ gewesen, alles müsste wieder von vorn beginnen.

Für diesen Fall wäre damit zu rechnen, dass neues Material in die Ermittlungen Eingang findet. Dazu zählt zweifelsfrei der vor Tagen im katalanischen Fernsehkanal TV3 ausgestrahlte Dokumentarfilm 20-S von Jaume Roures. In diesem werden anhand von 20 verschiedenen Quellen (Videos, Interviews, Vernehmungen vor Gericht) die Ereignisse vom 20. September 2017 anlässlich der polizeilichen Durchsuchung der Abteilung Wirtschaft und Finanzen der katalanischen Regierung rekonstruiert.

Alles verlief friedlich

Die Aktion gehörte seinerzeit zu den letztlich erfolglosen Maßnahmen, mit denen das Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober verhindert werden sollte. Folge der Durchsuchung war eine Demonstration mit gut 40.000 Teilnehmern vor diesem Gebäude der katalanischen Regierung. Diesen Protest hat Llarena als gewaltsamen Umsturzversuch gedeutet, mit dem er die schon neun Monate andauernde Untersuchungshaft von Jordi Sánchez und Jordi Cuixart, Führer der zivilen Unabhängigkeitsbewegungen ANC sowie Omnium Cultural, rechtfertigt. Der Dokumentarfilm, der Interviews mit anonym bleibenden Polizisten einschließt, lässt erkennen, dass diese Demonstration, auch dank des Einsatzes vieler freiwilliger Ordner und nachdrücklicher Appelle zur Friedfertigkeit seitens der beiden Inhaftierten, bis zu ihrem Ende ohne gewalttätige Ausschreitungen blieb. Und das trotz wohl geplanter Provokationen, so versuchte die Nationalpolizei ohne jede richterliche Ermächtigung eine Stunde lang den Sitz der antikapitalistischen Partei CUP zu stürmen, stieß dabei allerdings auf die Barriere Hunderter friedlicher Demonstranten und zog sich schließlich zurück.

Der Journalist Marc Font untersucht in publico.es das Vorgehen Llarenas und zitiert die Meinung des Verfassungsrechtlers Joaquín Urías, der zu dem Ergebnis kommt: Da das Organisieren eines Referendums in Spanien keine Straftat ist, musste Llarena das Vergehen der Rebellion erfinden. Auf diese Erfindung stützt er seine Anklage nicht nur gegen die beiden „Jordis“, sondern gegen alle in Untersuchungshaft oder im Exil befindlichen katalanischen Politiker, vorrangig gegen Carles Puigdemont. Hätte das Oberlandesgericht in Schleswig Holstein Zugang zu diesem Material gehabt, wäre es womöglich früher zu seiner Entscheidung gelangt. Auf jeden Fall hat die deutsche Justiz mit der gerade ergangenen Entscheidung dazu beigetragen, Herrn Llarena den Urlaub noch weiter zu „vermiesen“. Trotz alledem: Möge er Kraft für die bevorstehenden neuen Herausforderungen tanken! Sie dürften unter anderem darin bestehen, mit Hochdruck daran zu arbeiten, das deutsche „Nein“ zur Auslieferung Puigdemonts wegen Rebellion demnächst vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu bringen.

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