Internationale Experten und Institutionen sahen es kommen, und Gerichte, darunter deutsche, wiesen darauf hin: Die Strafverfolgung katalanischer Politiker und Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung während der letzten Jahre und deren Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen verletzte in der UNO, der Europäischen Union und der spanischen Verfassung verbriefte Grundrechte (etwa das Recht auf eine Berufungsinstanz nach einer Verurteilung). Ohne Erfolg: Neun Verurteilte sitzen seit Jahren in spanischen Gefängnissen, und bis heute besteht der spanische Richter Llarena auf der Auslieferung des ehemaligen katalanischen Präsidenten Puigdemont und seiner Weggefährten aus dem belgischen Exil.
Aber dann wurde es ernst: Zuerst bestätigte der Europäische Gerichtshof den Status von Puigdemont und seiner Ministerkollegen Comín und Ponsati als Abgeordnete des Europäischen Parlaments (und hat diesen Status nach Aufhebung ihrer Immunität durch dieses Parlament erneuert). Sodann bereitete die Parlamentarische Versammlung des Europarats einen vernichtenden Bericht zur Verfolgung der katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter vor. Und schließlich legten, trotz aller Verzögerungsversuche durch die spanische Justiz, die ersten politischen Häftlinge, nämlich Jordi Cuixart (ehemaliger Vorsitzender der katalanischen Bürgervereinigung Omnium) und Jordi Turull (einst die rechte Hand des Präsidenten Puigdemont) Berufung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein. Und alle, selbst die ärgsten Dämonisierer der katalanischen „Putschisten“, sind sicher, dass die Verfahren in Straßburg mit der Aufhebung der Urteile gegen die Katalanen enden werden, Schadenersatzansprüche eingeschlossen. Und wie reagiert Spanien angesichtsdieses zu erwartenden „Supergaus“ im Staats- und Justizapparat?
Pedro Sánchez, Chef der linken Koalitionsregierung von PSOE und Unidas Podemos, spricht plötzlich von Versöhnung und Eintracht und lässt erste Versuchsballons zu einer möglichen Begnadigung aufsteigen, die er noch im letzten Wahlkampf strikt abgelehnt hatte. Die Rechtspartei PP dagegen rennt weiter mit demagogischem Eifer, dieses Mal imGefolge der faschistischen Partei VOX, auf den Abgrund zu. Sie schließt sich dem Aufruf zu landesweiten Demonstrationen am 13. Juni in allen spanischen Städten gegen eine mögliche Begnadigung an. Der geplante Höhepunkt soll wie schon 2019 auf dem Plaza de Colón in Madrid stattfinden. Damals wurden das Ende der Kontakte mit den nationalistischen Parteien zwecks Investitur von Pedro Sánchez und dessen Rücktritt gefordert.
Ein nie dagewesener Tabubruch
Diese Erhebung der spanischen „Patrioten“ gegen die Regierung der „Vaterlandverräter“ endete dieses Mal aber eher in einem „Flop“ und für die Rechtspartei PP in einem Desaster: Nach (offiziell) 40.000 Demonstranten auf dem Plaza de Colón vor zwei Jahren fanden sich dieses Mal dort (nach Angaben der Nationalpolizei) nur 26.000 Menschen ein. Schlimmer noch: Protagonisten waren diesmal die Faschisten, deren „Dumpfbacken“ den Vorsitzenden Abascal zum nächsten Präsidenten ausriefen, während Pablo Casado, Führer der Rechtspartei, ausgebuht wurde. Blieb die Ankündigung, eine mögliche Begnadigung vom Obersten Gerichtshof aufheben zu lassen, was juristisch unmöglich ist. Der einzige Effekt dieser Ankündigung dürfte sein, dass die marginale Präsenz des PP in Katalonien noch weiter schrumpft. Die Partei fiel in den letzten neun Jahren von 13 auf 4 Prozent. Es gab dann noch die Drohung von Isabel Ayuso, neuer „shooting star“ des PP, gegen den spanischen König Felipe II für den Fall, dass er seine Unterschrift unter die Begnadigungen setzt (wozu er laut Verfassung verpflichtet ist). Das war ein nie dagewesener Tabubruch, und der PP pfiff Ayuso schnell zurück.
Danach überstürzten sich die Dinge: Das einflussreiche katholische Episkopat Kataloniens sprach sich für eine Begnadigung aus, und kurz darauf der katalanische Unternehmerverband und die Gewerkschaften. Das Begnadigungsvorhaben der Regierung, vor kurzem noch nur eine Idee von Pedro Sánchez, nahm Fahrt auf und – oh Wunder – wurde von ihm am gleichen Tag positiv entschieden, als der Bericht des Europarats erschien. In diesem wird die sofortige Freilassung der katalanischen Gefangenen gefordert und die Streichung des Aufruhr-Paragrafen aus dem spanischen Recht, auf den sich die Verurteilungen stützen. Wie El País berichtet, hatten die spanischen Vertreter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats bis zum Schluss versucht, den Bericht zu entschärfen: ohne Erfolg. Hinter dem Versöhnungsgerede steht offensichtlich der Versuch, den Schaden für den internationalen Ruf Spaniens etwas abzumildern. Darüber hinaus geht es wohl darum, den Skandal der zu erwartenden Aufhebung der Urteile durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schon jetzt etwas abzufedern. Ob das gelingt, darf bezweifelt werden, handelt es sich doch lediglich um eine „partielle“ Begnadigung: Sie bedeutet zwar eine umgehende Haftentlassung, den Freigelassenen ist aber über Jahre der Zugang zu öffentlichen Ämtern verboten.
Die spanische Justiz auf der Anklagebank
Das führt einmal mehr zu einem anderen alarmierenden Aspekt des Geschehens, nämlich dem Zustand der spanischen Medien. Dass die 47 Mitgliedstaaten des Europarats mit großer Mehrheit einenkritischen Bericht verabschieden, erschüttert nicht im Geringsten die Überzeugung von El País, dass das spanische Oberste Gericht mit seinen Urteilen richtig lag. Andere Medien wie Voz Populi ergehen sich sogar in einer antieuropäischen Rhetorik. In einem Kommentar schreibt José Alejandro Vara: „Das Urteil im Prozess (gegen die Katalanen) wird in Straßburg nicht eine Minute Bestand haben. Sie werden es begraben, kassieren, uns den Vogel zeigen. In der Familie der Togaträger (Richter) des Obersten Gerichtshofs wird keine Panik ausbrechen. Sie haben es bereits abgehakt. Es wird eine kolossale Ohrfeige sein, die das gesamte rechtliche, politische und gesellschaftliche Gerüst um die Putschanklage zusammenbrechen lässt. Sánchez rechnet bereits damit und predigt europaweit seine einzigartige Theorie von Dialog vs. Revanche. Das Wort „Revanche“ war nicht zufällig. Es sollte zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangen, der sich zu den Strafen der Putschisten äußern wird. Munition aus erster Hand, um das Urteil des Obersten Gerichts in die Luft zu jagen. Wenig haben bisher die europäischen Richter, ob in Deutschland, Belgien oder europäischen Institutionen, die Entscheidungen der spanischen Gerichte bezüglich des brutalen Angriffs auf unseren Rechtsstaat geschätzt. Sie haben Auslieferungsersuchen, europäische Haftbefehle … abgelehnt. In eineinhalb Jahren wird das Urteil aus Straßburg kommen, kurz vor den nächsten Wahlen“.
Bleibt abzuwarten, ob die katalanische Politik auf dieses „gezinkte“ Versöhnungsangebot der spanischen Regierung eingeht oder lieber den „Supergau“ abwartet: die Aufhebung der Urteile durch Straßburg, also den spanischen Staat und die spanische Justiz auf der Anklagebank.
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