Notfalls muss die Verfassung dran glauben

Spanien Der Rechtsstaat kapituliert vor der Rechtsprechung, wenn Politiker aus Katalonien vor Gericht stehen
Ausgabe 01/2019
Santiago Abascal, Vorsitzender der rechtsextremen Partei VOX, will Katalonien „zurückerobern“
Santiago Abascal, Vorsitzender der rechtsextremen Partei VOX, will Katalonien „zurückerobern“

Foto: Jorge Guerrero/AFP/Getty Images

Anfang Dezember gewann bei der Wahl in Andalusien die neue Partei VOX, rechtsextrem bis ins Mark, zwölf Sitze im Regionalparlament, vorhergesagt war ein Mandat. Über Nacht bekam Spanien seine Version der AfD. Die Rechtsparteien feiern diesen Anachronismus als „Untergang des Sozialismus“ – der sei nach fast 40 Jahren in Andalusien besiegt, wenn auch in Madrid mit dem sozialdemokratischen PSOE noch immer an der Macht. Andalusien gilt als eine Art spanisches Nordrhein-Westfalen mit großem Gewicht bei nationalen Wahlen. Ist bei der nächsten Abstimmung über die Cortes Generales landesweit eine erdrutschartige Verschiebung nach rechts – oder gar hin zu rechtsextrem – denkbar?

Statt zu erschrecken, sprachen sich die Führungen des konservativen Partido Popular (PP) und der Ciudadanos (Cs) sofort für Verhandlungen mit VOX aus, um in Andalusien mit deren Stimmen einen Machtwechsel auszulösen. Es war keine Rede mehr von irgendeiner „roten Linie“, die rechtsliberale Ciudadanos zögerte noch wegen des Images, aber dann war die Koalition besiegelt.

Das Programm der von Santiago Abascal, einem lange vom Partido Popular ausgehaltenen Dandy, geführten Partei VOX ist mit „Reconquista“ (Wiedereroberung) überschrieben. So will man das Gesetz zur historischen Erinnerung ebenso wie das gegen Gewalt an Frauen (Feminismus wird als „Herrschaft der Weibchen“ verunglimpft) kassieren und im Gegenzug Dekrete zum Schutz des Stierkampfs, zur Schließung von Moscheen und zur Abschaffung der Steuer auf Vermögen, Erbschaft und Gewinne beschließen. Pablo Casado, neuer Führer und „Hallodri“ des PP, versucht inzwischen, VOX rechts zu überholen. In täglichen medialen Exzessen erklärt er, das Gesetz zur historischen Erinnerung störe den Konsens zwischen Franco-Anhängern und -Gegnern, der 1978 den Übergang zur Demokratie ermöglicht habe. Überdies seien viele Hinterbliebene von Franco-Opfern durch eine Rente entschädigt worden, mit der sie längst die Suche nach sterblichen Überresten ihrer Angehörigen in Massengräbern hätten finanzieren können.

Unisono fordern Partido Popular, Ciudadanos und VOX zudem, sofort den Artikel 155 der spanischen Verfassung geltend zu machen, um die katalanische Regionalregierung zu entmachten. PP-Chef Casado geht so weit, Premier Pedro Sánchez (PSOE) als „Komplizen“ eines in Katalonien versuchten „Staatsstreichs“ und als „Verräter“ zu denunzieren. Statt Kante zu zeigen versichert der Angegriffene prompt, ihm werde „nicht die Hand zittern“, auf Artikel 155 zurückzugreifen. Das Problem: Dessen Anwendung müsste diesmal unbefristet erfolgen, um einen erneuten Wahlsieg der Unabhängigkeitsbefürworter wie im Dezember 2017 zu verhindern. Was auf einen Bruch der Verfassung hinausliefe, wäre doch die Autonomie der Regionen als Grundlage des spanischen Staats aufgehoben. Ein den „Separatisten“ vorgeworfener „Staatsstreich“ fände dann tatsächlich statt – als Putsch der Zentralregierung.

Am Wettlauf um mehr Repression gegen Katalonien beteiligen sich auf regionaler Ebene auch Sozialisten. So verlangen Emiliano García-Page, Präsident der Regionalregierung in Castilla-La Mancha, und Javier Lambán, Präsident in Aragón, das Verbot der katalanischen Unabhängigkeitsparteien. Nach Javier Pérez Royo, einem Verfassungsrechtler in Sevilla, wäre ein solches Verbot klar verfassungswidrig, und das Verbot einer Partei, die einen solchen Verfassungsbruch fordert, zwingend.

Provokation in Barcelona

Um Härte gegenüber den katalanischen „Separatisten“ zu zeigen, gab die PSOE-Regierung in Madrid kurzfristig bekannt, am 21. Dezember eine seit Längerem geplante Sitzung des Ministerrats in Barcelona abzuhalten. Für viele Katalanen eine gezielte Provokation, handelte es sich doch um den ersten Jahrestag der von der letzten Regierung des Partido Popular in Madrid angeordneten Neuwahlen. Entsprechend heftig war der Protest, sodass ein massiver Polizeieinsatz (Kosten: eine Million Euro) stattfand. Um diesen Aufwand zu rechtfertigen, wurde im letzten Moment der katalanische Regierungschef Quim Torra zu einem kurzen Treffen mit Pedro Sánchez in Barcelona genötigt. Ungeachtet dessen gab es 25 blockierte Verkehrstrassen im Großraum der katalanischen Metropole, dazu Zusammenstöße mit der Polizei und 77 Verletzte.

Gleichzeitig ging die Selbstdemontage des Obersten Gerichts weiter. Vor den Prozessen gegen katalanische Politiker wurde im Schnellverfahren der Befangenheitsantrag der Angeklagten gegen den Vorsitzenden Richter Manuel Marchena abgebügelt. Der Sprecher der PP-Fraktion im Senat jubelte daraufhin vor Parteikollegen: Mit der Bestätigung dieses Juristen als Vorsitzenden der Obersten Justizbehörde sei die zuständige Zweite Kammer voll unter PP-Kontrolle. Ebenfalls abgeschmettert wurden Einsprüche gegen die Zuständigkeit des Obersten Gerichts. Doch gibt es auch Lichtblicke: Vier katalanische Häftlinge waren in einen Hungerstreik getreten, weil das Verfassungsgericht ihre Klage vor dem Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte blockierte. Als sich ihr Zustand dramatisch verschlechterte, lenkte die Kammer schließlich ein.

Kurz vor dem Jahreswechsel erschien ein Bericht, dem zu entnehmen war, dass Spanien 2018 achtmal vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt wurde. Mit den Prozessen gegen katalanische Politiker – soviel ist sicher – dürfte sich das wiederholen.

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