Staat ohne Stopp

Spanien Der Prozess gegen die katalanischen Unabhängigkeitspolitiker hat begonnen. Damit findet ein absurdes Schauspiel seine Fortsetzung
Während in Madrid geklagt wird, wird in Barcelona demonstriert
Während in Madrid geklagt wird, wird in Barcelona demonstriert

Foto: Lluis Gene/AFP/Getty Images

Erster Verhandlungstag vor dem Obersten Gericht (Tribunal Supremo oder TS) in Madrid. Ein großes Polizeiaufgebot riegelt eine Bannmeile vor dem Gerichtsgebäude an der Plaza de las Salesas ab. Vor ihnen ein Pulk aufgebrachter Abgeordneter der katalanischen Unabhängigkeitsparteien, für die kein Platz mehr im Gerichtssaal ist. Seinen Platz dort hat dagegen Javier Ortega Smith gesichert, aus der Führungsriege der rechtsextremen Partei VOX, und zwar für die gesamte Verhandlungsdauer. Er ist nämlich Anwalt und Anklagevertreter der „acusación popular“, einer Art aus der Bevölkerung kommender Nebenanklage. Als erstes hat er schon vorweg gefordert, in Spanien wieder „lebenslänglich“ einzuführen, seines Erachtens die einzige für die Katalanen angemessene Strafe (immerhin fordert er nicht den Tod durch das Würgeeisen). VOX hat sich damit für die nächsten Monate eine ideale Plattform für die bevorstehenden Wahlkämpfe verschafft. Ebenfalls in einem Presseauftritt vor dem Gericht hat Abascal, der Parteichef von VOX, gefordert, die andauernde Gefahr eines Staatsstreichs mit den Wurzeln auszumerzen. Beweis für dieses Fortbestehen sei, dass Quim Torra, der gegenwärtige Präsident der katalanischen Regierung, im Gerichtssaal zwischen dem Publikum und nicht auf der Anklagebank sitze.

Der technische Grund für den Ausschluss vieler am Prozess Interessierter ist, dass der TS den kleinen aber feinen „Salón de los Plenos“ als Verhandlungsort ausgewählt hat, der ein wenig an den Aachener Krönungssaal erinnert und in dem die glitzernden Roben der Richter so richtig zur Geltung kommen. In ihm haben gerade einmal 100 Personen Platz, abzüglich 24 Angehöriger der Angeklagten (zwei pro Person). Wie sollen in diesen Raum noch die von Amnesty International und Trial Watch geforderten Beobachter hineinpassen? Natürlich wäre es indiskret, zu fragen, warum kein größerer Saal ausgewählt worden ist, von denen es im riesigen Gebäude des TS einige gibt.

Der Vorsitzende Richter der Strafkammer Marchena eröffnet die Verhandlung mit einigen Erklärungen zum Ablauf des heutigen Tages, etwa die Redezeiten, die den Prozessvertretern zustehen. Schon hier wird deutlich, wie stark das Gericht bereits auf die so gut wie sichere nächste Runde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte fixiert ist. Die Festlegung der Redezeiten folgt ohne Not streng der Praxis der europäischen Rechtssprechung. Als erste kommen die Anwälte der Verteidigung zu Wort, je ein Verteidiger für die in Gruppen eingeteilten Angeklagten. Die Ausführungen der ersten drei Anwälte füllen den gesamten Vormittag aus.

Den Anfang macht Andreu Van den Eynde, der Oriol Junqueras und Raül Romeva vertritt. Er geht schärfer als die übrigen Anwälte mit den im bisherigen Verfahren begangenen Verletzungen von Grundrechten ins Gericht. Erstens der Verlust des Recht auf eine Berufungsinstanz, das mit dem Übergehen des Obersten katalanischen Gerichts TSC und der Übernahme der causa durch den TS beseitigt worden ist. Zweitens die Amtsenthebung seines Mandanten Junqueras als Vizepräsident einer demokratisch gewählten Regierung mittels Verhaftung. Drittens die Erfindung der Anklage wegen Rebellion durch den Ermittlungsrichter Llarena, und das obendrein mit „Verspätung“: ein ganzer Monat nach den Massendemonstrationen vor dem Gebäude der Abteilung Wirtschaft und Finanzen der katalanischen Regierung am 20.9.2017. Er weist darauf hin, dass das spanische Verfassungsgericht bereits vor vielen Jahren als Schlüsselelement der Rebellion den Gebrauch von Waffengewalt oder Sprengstoff festgelegt hatte. Und als wäre das noch nicht genug: Rebellion wird von der Anklage praktisch mit Terrorismus gleichgesetzt. Dieses Abdriften begann mit der Ausweitung des Gewaltbegriffs auf das typische Geschehen während einer Protestdemonstration. Van den Eynde fragt: Hebt ein geworfener Stein etwa das Demonstrationsrecht auf? Seine Antwort: Nicht ein Stein und nicht einmal 1000 Steine ändern etwas am Grundrecht der Demonstration. Denn dieses ist nichts anderes als ein letztes demokratisches Recht, nämlich das auf Protest, wenn die Meinungen der Betroffenen auf andere Weise ungehört bleiben. Viertens die Nichtzulassung von Beweismitteln, die die Nichtexistenz von Gewalt belegen (etwa der Dokumentarfilme zu den Ereignissen). Das Ergebnis dieser Manipulationen ist, dass das Verfahren zu einem Attentat auf das Grundrecht des Protests und zu einem Angriff auf die politische Dissidenz, die Verfechter des Selbstbestimmungsrechts, degeneriert ist. Van den Eynde wiederholt den Antrag auf Vorladung des damaligen Innenministers Zoido, der als Verantwortlicher für die Polizeieinsätze aus erster Hand über Art und Umfang der Gewalt an den fraglichen Tagen Auskunft geben könnte. Er war vom Gericht als Zeuge abgelehnt worden, während Expräsident Rajoy vorgeladen wurde.

„Seien Sie Richter und nicht Retter des Vaterlands!"

Abschließend fragt Van den Eynde das Gericht: Warum geben Sie nicht wie seinerzeit das Gericht in Kanada (im Zusammenhang der Unabhängigkeitsbewegung in Quebec) das Problem an die Politik zurück?

Die beiden anderen Anwälte, Xavier Melero und Jordi Pina, gehen mehr in die konkreten Details, was die Verletzung von Grundrechten betrifft. So waren ihren Mandanten willkürlich ihre Notebooks im Gefängnis abgenommen worden (vom Internetzugang waren sie ohnehin abgeschnitten), während ihre Leidensgenossen in einem anderen Gefängnis dieses für die Vorbereitung der Verhandlungen wichtige Werkzeug behalten durften. Eine besondere Grundrechtsverletzung erlebte übrigens Oriol Junqueras, praktizierender Katholik: ihm wurde die Teilname an der Messe verweigert, Des weiteren wurde denjenigen ihrer Mandanten, die in der katalanischen Sprache besser als im Spanischen zuhause sind, eine Simultanübersetzung abgeschlagen. Abschließend appelliert Jordi Pena an die Richter: „Seien Sie Richter und nicht Retter des Vaterlands, denn in diesem Prozess geht es nicht darum.“

Nach der Mittagspause geht es weiter und die Reihe kommt schließlich an die Anwältin Olga Arderiu, Verteidigerin der Ex-Parlamentspräsidentin Carme Forcadell. In ihren umfangreichen Ausführungen, auf die der Vorsitzende Richter Marchena mit Ungeduld reagiert, legt sie weitere Verletzungen von Grundrechten ihrer Mandantin dar. Der erste Verhandlungstag, für den die Angeklagten um 7 Uhr morgens aus dem Bett geholt wurden und der sich bis zum Verhandlungsende um 18 Uhr ausdehnte, endet in einer allgemeinen Erschöpfung, die alle Prozessbeteiligten milde zu stimmen scheint, so sehr, dass keiner mehr die Kraft zu protestierte hat, als die Angeklagten sich in langen Umarmungen von ihren Familienangehörigen für heute verabschieden. Trotzdem spricht bisher nichts dafür, dass die Argumente der Verteidiger bei den Richtern irgendetwas bewegt hätten. Immerhin kam immer wieder der Eindruck auf, dass sie sich in ihrer Haut nicht so recht wohl oder zumindest unsicher fühlen.

Um mit einer Ironie des Zufalls zu schließen: Parallel zum Prozess gegen die Katalanen brachte die sozialistische Regierung ihren Haushalt in den spanischen Kongress ein. Zu dessen Verabschiedung benötigte sie die Stimmen der katalanischen Unabhängigkeitsparteien. Nicht einmal die unverwüstlichsten Optimisten hielten es für möglich, dass diese dem Haushalt zustimmen, während ihren Kollegen einige hundert Meter entfernt von spanischem Staat der Prozess gemacht wird. Und so wurde der Haushalt vom Parlament dann auch abgelehnt. Präsident Pedro Sánchez hat für den 28. April Neuwahlen angesetzt.

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