Von Faschisten getrieben

Spanien Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind verwirrend – und bringen Menschen in Gefahr. Der Einfluss der rechtsextremen Partei VOX wird immer offensichtlicher
Die unmittelbare Folge des jüngsten Urteils des Obersten Gerichts: Inmitten einer dramatisch anwachsenden neuen Infektionswelle sind der Regierung nun für landesweite Maßnahmen die Hände gebunden
Die unmittelbare Folge des jüngsten Urteils des Obersten Gerichts: Inmitten einer dramatisch anwachsenden neuen Infektionswelle sind der Regierung nun für landesweite Maßnahmen die Hände gebunden

Foto: Pablo Blazquez Dominguez/Getty Images

Dieser Tage hat die linke Koalitionsregierung in Spanien einen neuen Schlag versetzt bekommen, und dieser zielt vor allem auf den Regierungschef, den Sozialisten Pedro Sánchez: Das spanische Verfassungsgericht hat die Mobilitätseinschränkungen im letzten Jahr anlässlich der Pandemie für verfassungswidrig erklärt. Diese waren von der Regierung auf dem Höhepunkt der ersten Pandemiewelle mit täglich über hundert Toten per Dekret verhängt worden, gestützt auf ein Gesetz für Alarmzustände.

Die Öffentlichkeit und die juristische Fachwelt sind verwirrt, denn das gleiche Verfassungsgericht hatte im letzten Jahr die Klage gegen ein Demonstrationsverbot unter Verweis auf den Alarmzustand abgewiesen. Die Verwirrung geht noch weiter: Die faschistische Partei VOX, die die Klage gegen den Alarmzustand eingereicht hatte, stimmte letztes Jahr seiner vom Parlament zu entscheidenden Verlängerung zu, verlangte sogar noch dessen Verschärfung. Auch damit ist die Verwirrung noch nicht am Ende: Das Verfassungsgericht hält die Einschränkungen durchaus für angemessen, meint aber, die Rechtsgrundlage dafür hätte die Verhängung des Ausnahmezustands statt des Alarmzustands sein müssen. Namhafte Juristen und selbst fünf der elf Verfassungsrichter fassen sich an den Kopf, ist doch der Ausnahmezustand für den Fall politischer Unruhen vorgesehen. Für seine Verhängung wäre eine zeitaufwendige Debatte im Parlament und dessen Zustimmung erforderlich gewesen. Das hätte damals zusätzliche tausende von Toten bedeutet. Andererseits schließt das Gesetz, das den Alarmzustand regelt, explizit den Fall einer Pandemie ein.

Die unmittelbare Folge des Urteils: Inmitten einer dramatisch anwachsenden neuen Infektionswelle (die fünfte!) mit erneut sich füllenden Intensivstationen – dieses mal mit jungen Menschen – sind der Regierung nun für landesweite Maßnahmen die Hände gebunden. Sie muss das Handeln den Regionen überlassen. Die regionalen Gerichte reagieren darauf widersprüchlich, spielen aber bisher in der Mehrheit mit.

Verfassungsgericht ist politisiert

Was soll das Ganze also? Um das zu verstehen, muss von der juristischen zur politischen Perspektive gewechselt werden. Dass das spanische Verfassungsgericht hochgradig politisiert ist, ist seit langem bekannt: Alle Medien wissen auswendig, welches die „konservativen“ und welches die „fortschrittlichen“ Richter sind. Zurzeit ist das Verhältnis 8 zu 3. Seit längeren wäre eine Angleichung an die veränderten politischen Mehrheiten im Lande fällig, aber die rechten Parteien und die Faschisten blockieren die Erneuerung. Ja mehr noch: Seit einiger Zeit nimmt die Rechtslastigkeit des Verfassungsgerichts und der Protagonismus der Faschisten in seiner Arbeit massiv zu.

Das funktioniert so: Das Anwachsen der Partei VOX auf 52 Abgeordnete im spanischen Parlament bei den Wahlen im Jahr 2019 gibt ihr das Recht, als Kläger vor den obersten spanischen Gerichten aufzutreten. Waren sie beim Prozess gegen die katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter noch auf die Rolle eines Nebenklägers beschränkt, geht die Partei seit den letzten Wahlen „in die Vollen“: Allein beim Verfassungsgericht hat VOX neben der Klage gegen den Alarmzustand neun weitere Klagen eingereicht, über deren Mehrzahl noch nicht entschieden ist: so gegen die Schulreform der Regierung, gegen die Reform des Mieterrechts, gegen das Euthanasiegesetz usw. usf. Nicht nur, dass die Faschisten sich auf diesem Weg eine Dauerpräsenz in den Medien verschafft haben, die bisherige Bilanz kann sich durchaus sehen lassen: Kurz vor dem Brandmarken der Regierungspolitik durch das Verfassungsgericht als „verfassungswidrig“ hatte VOX erreicht, dass die Berufung des damaligen Vizepräsidenten und Podemos-Generalsekretärs Pablo Iglesias in eine Kommission zur Kontrolle des Geheimdienstes CNI vom Verfassungsgericht annulliert wurde – ohne Effekt, denn Pablo Iglesias war inzwischen zurückgetreten. Insbesondere der zur beinharten Rechten gezählte Verfassungsrichter Pedro González Trevijano ist für die Argumente der Faschisten sehr empfänglich.

Dabei ist eine Tradition des Verfassungsgerichts, nämlich doch immer noch irgendwie einen Kompromiss zwischen den „Konservativen“ und den „Fortschrittlichen“ zu suchen und somit nach außen einheitlich aufzutreten, inzwischen „entsorgt“ worden. Schon bei seiner letzten brisanten Entscheidung, nämlich über die Berufung der beiden Katalanen Jordi Cuixart und Jordi Turull gegen ihre langjährigen Haftstrafen, kam es zu einem Minderheitsvotum von zwei „fortschrittlichen“ Richtern, die die Strafen für „unangemessen“ hielten.

Und der letzte Sieg von VOX gegen die linke Regierung ging äußerst knapp aus: 6 gegen 5. Fünf Richter, darunter zwei des „konservativen“ Blocks, einer davon der Präsident des Gerichts, gaben ein Minderheitsvotum ab. Mit nur einer Stimme Mehrheit, der der Richterin Ercarna Roca, die früher einmal irrtümlich von den Sozialisten dem „fortschrittlichen“ Block zugerechnet wurde, kam also das Urteil zustande. Diese Richterin hatte immerhin eine absurde Änderung im Urteilsentwurf erreicht: Schadenersatzansprüche an die Regierung wegen der finanziellen Folgen der Mobilitätseinschränkungen werden ausgeschlossen. Die Verurteilung ist damit zu einer rein politischen und ansonsten folgenlosen Abstrafung der Regierung mutiert. Aber darum ging es ja schließlich im Kern. Der so knappe Sieg tat dem Triumphgeheul der Faschisten, vermischt mit Schmähungen gegen die „Weicheier“ der Rechtspartei PP, keinen Abbruch.

Eine weitere juristische Bühne, auf der die Faschisten agieren, ist der Oberste Gerichtshof. Bei diesen haben sie inzwischen, diesmal mit der Rechtspartei PP im Schlepptau, Klage gegen die von der Regierung vorgenommenen Begnadigungen der Katalanen eingereicht. Obwohl es nach bisheriger Rechtssprechung für diese Klagen keine rechtliche Basis gibt, wurden diese vom Obersten Gericht erst einmal angenommen.

PS: Gerade geht durch die Medien, dass das Verfassungsgericht den nächsten Schlag gegen die Regierung vorbereitet: Einer weiteren Klage von VOX folgend, soll auch die seinerzeitige vom Parlament bestätigte Verlängerung des Alarmzustands für verfassungswidrig erklärt werden

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