In Spanien sind die Spielregeln der Demokratie schon seit längerem teilweise außer Kraft gesetzt. Nachdem die PP-Kandidatin Isabel Díaz Ayuso, die Siegerin in den jüngsten Regionalwahlen in Madrid, den Anfang vom Ende der spanischen Linksregierung unter Pedro Sánchez proklamiert hatte, schreiten Rechtspartei und Faschisten nun zur Tat. Ayuso, von den Madrider Gastronomen zur „Heiligen Isabel“ ernannt, hatte sie doch trotz explodierender Corona-Inzidenzwerte auf der Offenhaltung der Bars bestanden, konnte trotz eines katastrophalen Corona-Managements, trotz nicht endender Skandale und trotz Fehlen auch nur eines einzigen vorzeigbaren Erfolgs ihrer zweijährigen Regierung ihre Parlamentssitze verdoppeln. Das Mysterium dieser „Erfolgslogik“ konnten Politologen bis heute nicht erklären. Es scheint eher ein Thema für Psychologen und Psychopathologen zu sein.
Trotzdem nahmen Beobachter ihren Plan, nach Pablo Iglesias als nächstes die gesamte Linksregierung aus dem Amt zu verjagen, zunächst nicht so recht ernst. Sie schrieben das eher einer Art von infantiler Egomanie und politischer Dummheit zu. Hinzu kam, dass sie sich mit ihrem Wahlsieg als Rivalin zum offiziellen Führer der Rechtspartei, Pablo Casado, in Stellung gebracht hatte. Außerdem hatte Pedro Sánchez klargestellt, dass er sein Regierungsmandat bis zu den nächsten regulären Wahlen 2023, gestützt auf seine parlamentarische Mehrheit verschiedener Parteien, ausschöpfen werde. Er erteilte jedem Gedanken an vorgezogene Wahlen eine Absage. Mehr noch: Er nutzte die Situation, um der Umsetzung von Kernpunkten seines Regierungsprogramms einen neuen Impuls zu geben. Zu diesen Kernpunkten gehört eine politische Lösung des Katalonienproblems. Konkret: Er dachte laut darüber nach, die zu langjährigen Haftstrafen verurteilten katalanischen Politiker und Führer der Unabhängigkeitsbewegung zu begnadigen, als unumgänglicher erster Schritt in Richtung auf einen Dialog.
Das „gefundene Fressen“ für die spanische Rechte. Umgehend bezichtigte diese, mit Pablo Casado vorneweg, Pedro Sánchez des Vaterlandsverrats: Er sei bereit, die territoriale Integrität des spanischen Staats an die „Separatisten“ zu verkaufen. Für den Fall einer Begnadigung kündigte Pablo Casado landesweite Protestkundgebungen, die Mobilisierung der von seinen Parteifreunden geführten regionalen Regierungen und die Anrufung der obersten spanischen Gerichte an.
Alles das ähnelt der Situation im Jahr 2004, als der Sozialist Luís Zapatero spanischer Regierungschef war. Das katalanische Parlament hatte mit großer Mehrheit ein neues Statut (eine Art Verfassung für diese Region) verabschiedet, die Katalanen hatten dieses in einem Referendum mit über 70 Prozent bestätigt, und es wurde schließlich von den beiden Kammern des spanischen Parlaments abgesegnet. Daraufhin sammelte die Rechtspartei landesweit vier Millionen Unterschriften gegen dieses neue Statut und brachte dieses schließlich durch eine Klage vor dem Verfassungsgericht zu Fall. Das gab damals der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung massiven Auftrieb. Der politische Nutzen dieser Kampagne der Rechtspartei blieb damals aus, denn die nächsten Wahlen 2008 gewann Zapatero erneut.
Können die spanischen Wähler*innen ihre politische Rationalität zurückgewinnen?
Und dieses Mal? Kurz nach Start des Feldzugs gegen eine mögliche Begnadigung, über die noch gar nicht entschieden ist, teilten Staatsanwaltschaft und Oberstes Gericht, (seitens der gleichen Richter, die die Katalanen ins Gefängnis gesteckt hatten) mit, eine solche Begnadigung sei nicht akzeptabel. Die Rechtspartei erntet hier die Früchte einer langjährigen Platzierung rechter Richter in den entscheidenden Strafkammern des Obersten Gerichts. In der Kammer, die die Katalanen verurteilt hatte, stehen inzwischen 11 von 13 Richtern der Rechtspartei nahe, während es 1998 noch 5 von 14 waren.
So konnte seinerzeit Ignacio Cosido, Sprecher der PP-Fraktion im spanischen Senat, anlässlich der geplanten Ernennung des Richters Marchena (Vorsitzender Richter im Prozess gegen die Katalanen) zum Präsidenten des CGPJ seinen Parteikollegen in einer Whatsapp zujubeln: „Mit ihm werden wir die Zweite Kammer aus dem Hintergrund kontrollieren.“
Umgehend stimmten Ex-Präsident Felipe González und die unverwüstlichen rechten Barone der sozialistischen Partei in den Chor der Sánchez-Gegner ein. Die Pointe: Die Richter begründeten ihre Ablehnung mit der fehlenden Reue der katalanischen Häftlinge, wohl wissend, dass bei den umstrittensten Begnadigungen in der Nach-Franco-Zeit, so von Antonio Tejero, Anführer des gescheiterten Putschversuchs von 1981, keinerlei Reue zu finden war. Zudem möchte Felipe González vergessen machen, dass er selbst hartnäckig bis zum Erfolg die Begnadigung der Verantwortlichen der gegen die baskische ETA eingesetzten staatsterroristischen GAL, Innenminister José Barrionuevo und Staatssekretär Rafael Vera, betrieben hatte. Beide genehmigten und finanzierten unter seiner Regierung Morde und 60 Attentate. In all diesen Fällen handelte es sich um Verbrechen, die auch nach spanischem Recht weit schwerer wiegen als der „Aufruhr“, mit dem die langjährigen Haftstrafen der Katalanen gerechtfertigt wurden. Als Gipfel der Schamlosigkeit haben die beiden begnadigten Organisatoren des Staatsterrors auch noch gleich ihre Ablehnung der Begnadigung der Katalanen öffentlich gemacht. Wie zu erwarten, haben sich auch die spanischen Medien in die Einheitsfront der Gegner einer Begnadigung und den Feldzug gegen die Linksregierung eingereiht.
Andererseits unterstützen alle Parteien der Parlamentsmehrheit, auf die sich die Regierung von Pedro Sánchez nach wie vor stützt, dessen Begnadigungspläne, und das aus einem einfachen Grund: Ohne eine solche Begnadigung wird sich im Katalonienkonflikt nichts in Richtung auf eine politische Lösung bewegen. Bleibt abzuwarten, was diese politische Vernunft gegen eine „marodierende“ rechts-faschistische Rhetorik noch ausrichten kann. Und bleibt zu hoffen, dass im schlimmsten Fall vorgezogener Neuwahlen die spanischen Wähler wie 2008 bei der Wiederwahl des Sozialisten Zapatero die demokratischen Spielregeln nutzen, um dem Spuk ein Ende zu setzen und eine gewisse politische Rationalität zurückzugewinnen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.