Das Internet und die Medien – 4. Journalismus in Zeiten des Webs

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„Stammtisch“ oder „Marktplatz“ oder „Waschsalon“ hat der eine oder andere Kritiker die neuen Formen des sozialen Nachrichten- und Meinungsaustauschs („social media“) im Internet genannt, und so ganz falsch lag er damit auch nicht, wenn man es etwas genauer ohne den polemischen Unterton betrachtet. Denn diese traditionellen Klatschbörsen hatten eine Eigenschaft, die kluge Analytiker jetzt auch am Web diagnostizieren: Kommunikation spielte sich an, auf und in ihnen nämlich nicht nach dem Broadcastingmodell der klassischen Medien ab, als „one-to-many“-Kommunikation, sondern in Form des „many-to-many“. Nicht mehr nur ein kluger, gut recherchierender Kopf oder eine einzige Redaktion „sprechen“ zu ihren vielen Tausenden oder Millionen Lesern, Zuschauern, Usern, sondern alle sprechen mit allen – der Journalist mit den Usern, diese unter- oder auch durcheinander und dann wieder mit ihm – und tauschen Informationen, Meinungen, Quellen, Dokumente aus.

Das „many-to-many“ fügt der journalistischen Arbeit eine neue Komponente hinzu, eröffnet ihr neue Chancen, stellt aber auch eine Herausforderung an sie dar. Das permanente Feedback, das die neuen Netzwerke mit ihren Tools potenziell generieren, führt dazu (sollte dazu führen!), dass der (Web)Journalist nicht mehr nur in einem quasi singulären Akt berichtet, was er andernorts erfahren hat – sei es aus Nachrichtenagenturen, durch persönliche Recherche, durch Zuarbeit von Kollegen –, sondern dass das Zuhören und Mitlesen zum integralen Bestandteil seiner Kommunikation selbst werden. Aus dem Broadcastingmodell ist ein stark dialoglastiges Modell geworden.

Solche Feedbacks können seinen eigenen Recherchen wichtige Aspekte hinzufügen, können auf Fehler aufmerksam machen (das allerdings hat der eine oder andere wohl doch nicht so gerne), können Recherchen über ihren ursprünglichen Horizont hinaus erweitern – Recherche und Darstellung verschmelzen dabei zu einem Kontinuum, vorausgesetzt natürlich, der Journalist akzeptiert diese Veränderung seiner Sicht- und Arbeitsweise, baut die neue Art der „many-to-many“-Kommunikation gewinnbringend in die eigene journalistische Arbeit ein.

Zu glauben jedoch, wie es immer wieder gerne postuliert wird, die neue „many-to-many“-Kommunikation werde schon in absehbarer Zeit das „one-to-many“ verdrängen oder ersetzen, dürfte sich aber dann doch als ziemlich luftige Träumerei entpuppen. Denn das „many-to-many“ leidet unter dem selben strukturellen Problem, das ich bereits in Teil 3 bei der Diskussion der Schwächen von Wikipedia angedeutet habe: Je mehr Teilnehmer auf dem „Marktplatz“ oder am „Stammtisch“, je weiter „entfernt“, d. h. weniger bekannt sie dem Einzelnen sind, desto weniger sind ihre Interventionen im Netzwerk transparent. Wer ist der „friend“, der „follower“ wirklich? Was weiß er, ist er vertrauenswürdig? Solche Zweifel spielen vielleicht kurzfristig, unter dem Eindruck des Faszinosums „Web-Gemeinde“ keine Rolle. Das Dazugehören übertönt sie. Aber ob der Vertrauensvorschuss, der notwendigerweise am Anfang jeder Teilnahme am „sozialen Web“ steht, auch nachhaltig ist, ob er auch Krisen überlebt, wage ich zu bezweifeln. Meine Erfahrungen auf Facebook, Xing oder Twitter haben diese Zweifel in den letzten Monaten bestärkt.

Auch die mathematischen Modelle (Metcalfe’sches und Reed’sches Gesetz), die zum Nachweis der enormen Leistungsfähigkeit solcher Netzwerke gerne herangezogen werden, lösen diese Zweifel nicht auf. Der Nutzen, den sie nachweisen, ist wohl ein Nutzen für das Netzwerk, aber nicht zwangsläufig auch einer für den individuellen Teilnehmer an ihm. Es ist wie bei der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Wenn die Gefahr, bei einem Flugzeugabsturz umzukommen, bei 1:10 Millionen liegt (dieses Verhältnis habe ich jetzt mal erfunden), dann ist dies für die Betrachtung der gesamten Menschheit (des gesamten Netzwerks) von Bedeutung. Für den Einzelnen aber mitnichten. Es ist ein verbreiteter Irrglaube, anzunehmen, nach einem Flugzeugabsturz müssten erst mal wieder 10 Millionen Menschen in einen Flieger steigen, bevor man selbst in Gefahr gerät. In Wahrheit beginnt die „Zählung“ der Wahrscheinlichkeit bei jedem Flug, den jeder Einzelne antritt, aufs Neue, quasi bei Null. Und ob dann der erste oder der Zehnmillionste Passagier umkommt, vermag auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht zu prognostizieren.

Erneut – wie schon beim Thema Aktualität und Schnelligkeit – entpuppt sich eine der starken Seiten des Internets als ein Element, das letztlich nur zwei Gruppen von Menschen zu Gute kommt: Denen, die ihre Netzwerke – seien sie beruflicher oder privater Natur – ausschließlich oder vorwiegend mit Menschen bilden, die sie bereits persönlich, aus anderen Zusammenhängen kennen, und denen, die diese Netzwerke beruflich nutzen, darunter die Journalisten.

Synergien zwischen Print und Web

Das „many-to-many“ wird den klassischen Journalismus also nicht ersetzen, sondern ihm zuarbeiten, ihn bereichern. Und wie es scheint, haben das auch die Leser inzwischen verstanden. Selbst in den USA, dem Land des grausamsten Zeitungsmassakers der letzten Jahrzehnte, beziehen die Menschen ihre Nachrichten und Informationen noch immer hauptsächlich aus den traditionellen Medien, wie man erst kürzlich hier nachlesen konnte. Noch immer setzen Zeitungen die Themen – die dann auch im Web aufgegriffen werden – (s. hier), und so ist der Londoner Zeitschriftenmacher Tyler Brûlé wohl auch nicht ganz zu Unrecht der Meinung: „Seriöse Information hat Zukunft!“

Was ich in Teil 2 über die Schwächen und Stärken der Printmedien gesagt habe, gilt dabei im Prinzip auch für den Journalismus im Web. Er muss seine Arbeit so strukturieren, dass er die Stärken des Internets nutzt, darf den Bildschirm nicht nur als Zeitungs- oder TV-Ersatz benutzen. Er muss, die Schnelligkeit, die Vielseitigkeit (Text, Ton, Bild, Video) des Webs beherrschen, er muss die „many-to-many“-Kommunikation Ernst nehmen, er muss seine „Marke“ richtig definieren und dafür sein Zielpublikum kennen. Sein Content muss lokaler, investigativer, dokumentierter werden. Das 57. immergleiche Newsportal, die 174. Sammlung von Rezepten, der 83. Reise- oder Medienblog dagegen werden schon nach kurzer Zeit niemanden mehr interessieren.

Und natürlich muss er – das gilt natürlich vor allem für Redaktionen, die offline und online vertreten sind – die möglichen Synergien mit den Printmedien nutzen. Warum nicht, wenn im Print ein längerer Wirtschaftsartikel stand, im Web die Dokumente dazu aufarbeiten und anbieten. Warum nicht im Web einen kurzen Artikel mit dem Hinweis beenden, dass die Printausgabe eine lange, zum Schmökern geeignete und wunderschön bebilderte Geschichte bringen wird. Um diese Synergie herstellen zu können, müssten allerdings beide (!) Seiten ihre jeweiligen Vorbehalte gegenüber dem andern erst einmal über Bord werfen, ihre Scheuklappen ablegen, sich gegenseitig stärken statt zu schwächen.

Betrachtet man die aktuellen Reichweiten der großen News“marken“ wie Spiegel, Zeit oder Bild im Print und im Internet, so scheinen die Entwicklungspotenziale auf beiden Seiten ausgereizt. Das mag nicht für jeden Titel gelten, und sicher gibt es noch Spielräume für geringes Wachstum, für Verschiebungen zwischen dem Gedruckten und dem Virtuellen, aber es ist beispielsweise schlecht vorstellbar, dass sich einmal substanziell mehr als 5 Millionen Deutsche – das sind die aktuellen Reichweiten – für eine der beiden Varianten des Spiegels interessieren sollten.

Wo aber noch Potenziale verborgen sind, das ist dagegen der Bereich der Schnittmenge zwischen Print- und Weblesern. Eine Allensbacher Untersuchung von 2008 ergab, dass es selbst unter den Lesern eines „Titels“ nur etwa 10 – 15 % gibt, die sowohl das Offline- wie auch das Onlineangebot nutzen. Vielleicht hat sich dieser Anteil inzwischen etwas erhöht, aber er dürfte immer noch alles andere als zufriedenstellend sein. Hier liegt zumindest für einige Pressemarken auf absehbare Zeit weit mehr Wachstumspotenzial als in der Vergrößerung der singulären Reichweite eines der beiden Angebotstypen. Damit aber sind wir schon mittendrin in der letzten Frage: Wie kann sich dieser „neue“ Journalismus finanzieren, wie verdient man mit ihm Geld?

Wer soll das bezahlen?

Jammern ist „in“! Das betrifft nicht nur Hartz-IV-Empfänger oder Banker, denen die Boni gestrichen wurden, sondern auch Verleger, ganz gleich, ob die nun Döpfner oder Burda heißen. Nein, das Online-Geschäft ist wirklich keine Freude für sie! Man mag daran zweifeln, ob wirklich fast keine der großen Gratispublikationen Gewinne erzielt haben, und in letzter Zeit behaupteten ja auch verschiedene Kommentatoren das Gegenteil. Aber es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass Content im Internet – von wenigen, sehr spezifischen Ausnahmen abgesehen – auch auf absehbare Zeit nicht zu verkaufen sein wird, ganz gleich, wie groß die Illusionen des einen oder anderen Murdochs diesbezüglich sein mögen. Dass auch das Anzeigengeschäft im Web eine wesentlich mühseligere Angelegenheit ist als im Print.

Die fehlenden Einnahmen – der Content umsonst, das Anzeigengeschäft, insbesondere in der Krise, nicht zufriedenstellend – sind einer der wesentlichen Gründe dafür, dass einige Verleger derzeit so ungemein nervös und aggressiv gegen echte und vermeintliche Gegner ins Land ziehen. Wenn ich zwischen echten und vermeintlichen Gegnern unterscheide, dann besonders in Erinnerung der jüngsten Polemik gegen Google News, denen man vorwarf, durch Schmarotzertum am wertvollen, durch die Verlage geschaffenen Content, Millionen zu verdienen.

Aber ist Google – eine Firma, für die ich persönlich übrigens recht wenig Sympathie habe – wirklich der richtige Gegner? Ich meine nein! Bemühen wir noch einmal ein Bild aus der Printwelt. Da wäre Google im Grunde ja nichts anderes als der Verkäufer, der dem Kunden im überreichen Angebot des Zeitungs- und Zeitschriftenhändlers Empfehlungen, Tipps, Hinweise gibt. Wenn der Kunde darauf anspringt, dann kauft er, wenn nicht, lässt er’s sein. Dass dieser „Verkäufer“ sich (im Falle von Google) nicht direkt bezahlen lässt, sondern von dritten Firmen, deren Werbeprospekte er im Laufe des Gesprächs verteilt, oder deren Logo er am Hemdkragen trägt, mag lästig sein, ist aber sein gutes Recht, da ihn ja niemand direkt bezahlt: Weder der Verleger für das Empfehlen seiner „Titel“, noch der Kunde für die guten Tipps.

Dass Verleger und Kunde nichts zahlen, heißt aber noch lange nicht, dass sie ungeschoren davonkämen. Der Verleger zahlt, das liegt auf der Hand, für die redaktionelle Arbeit (inklusive des Programmierens) – je besser die ist, desto höher die Kosten –, für Server und Bandbreite. Aber auch der Kunde zahlt, und zwar nicht zu knapp, was die Mär vom angeblich kostenlosen Content, den die Web-Kommunisten bei den Verlagen schnorren, ins Reich der Fabeln verweist. Er zahlt zwar nicht an den Verleger, aber an seinen Provider, seine Telekommunikationsgesellschaft, an seinen Computerhändler und an seinen Papierlieferanten –von wegen papierlose Gesellschaft! Um im obigen Bild zu bleiben, hieße das, dass der Verleger und der Kunde beide den Besitzer des Zeitschriftenhandels bezahlten (der davon nichts an seinen Verkäufer weitergibt) – der Verleger verschenkt seinen Content also nicht an den User, sondern an den „Kioskbesitzer“, der sich dagegen seinerseits vom Kunden fürstlich für das Ausliefern belohnen lässt – eine aberwitzige Situation.

La phantaisie au pouvoir!

Auf die Frage, warum unsere Herren Verleger ihre Brandreden nicht gegen die eigentlichen Schmarotzer, Provider und Telekommunikationsgesellschaften, sondern gegen User und Google richten, habe ich leider noch keine schlüssige Antwort. Dazu ist womöglich ein wenig mehr tiefenpsychologische Kenntnis notwendig, als ich sie selbst habe. Tatsache bleibt: Es ist ausschließlich der Phantasielosigkeit der Verleger – nicht Google und nicht den Web-Kommunisten – geschuldet, wenn sie mit ihren Online-Angeboten keine Gewinne erzielen, sich stattdessen an Kämpfen gegen Windmühlenflügel („paid or free content“) ergötzen. Ein schlüssiges Modell fürs Geldverdienen im Web hat jedenfalls noch kaum einer von ihnen (öffentlich) präsentiert.

Dabei wäre das die Voraussetzung für den erfolgreichen „Betrieb“ journalistischer Angebote im Web. „paid content“ kann die Lösung – das hat Dirk Manthey kürzlich zu Recht noch einmal deutlich festgestellt – alleine nicht sein und funktioniert wohl nur in ganz spezifischen Ausnahmefällen. Das Anzeigengeschäft seinerseits auch nicht! Es reicht, sich die aktuellen Anzeigenpreise gängiger Werbenetzwerke im Internet vor Augen zu halten: Bei Preisen von einem Euro und weniger für 1.000 aufgerufene Seiten erlauben es erst Zugriffszahlen ab 10 Million Page Impressions im Monat – illusorisch für die meisten kleineren Special-Interest-Titel –, überhaupt über die Einrichtung einer Mini-Mini-Mini-Redaktion nachzudenken.

Im Rahmen der Debatte um den „paid content“ wurden allerdings in den letzten Monaten viele Modelle der (Re)Finanzierung journalistischer Arbeit im Web diskutiert. Dabei kamen Vorschläge wie Regierungssubventionen, Spenden, Stiftungen, Zwangsabgaben wie bei den Öffentlich-Rechtlichen (mit angesagtem Hauen und Stechen bei der Verteilung), Bezahlmodelle für Premium Content (das praktizieren einige Verlagshäuser ja schon erfolgreich) und Zusatzgeschäfte (Web-Shops etc.) auf den Tisch.

Was auch immer die Gesellschaft insgesamt oder jeder einzelne Verleger für sich aus diesem Potpourri auswählt, wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen. Fakt ist, dass das bisherige, im Print wie im Web hauptsächlich auf das immer prekärer werdende Anzeigengeschäft gestützte Ertragsmodell allein in Zukunft nicht tragen wird. „Die Phantasie an die Macht“, hieß es 1968 auf den Barrikaden von Paris. Wäre schön, wenn dieser Aufforderung endlich mal jemand folgte!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Eckhard Supp

Journalist, Buchautor und Herausgeber von ENO WorldWine (www.enobooks.de)

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