Der perfekte Kreis

Pop Die Pet Shop Boys wohnen nun in Berlin und haben hier das vielleicht dunkelste Werk ihrer Karriere aufgenommen. Es ist großartig geworden
Ausgabe 04/2020

Wer auf der Flucht ist, läuft Gefahr, vom rechten Weg abzukommen. Alles ist unsicher, die Wahrnehmung verwischt und seltsame Geräusche dringen bedrohlich von überall ans Ohr. Sind das Stimmen oder Quetschlaute von gequälten Kreaturen? Warum ist das Leuchten da hinten plötzlich weg und kommt jetzt von ganz woanders? Es ist kein Zufall, dass das vierzehnte Studioalbum der Pet Shop Boys mit einem Irrlicht beginnt und mit weichgespülten Synth-Effekten aus dem Hochzeitsmarsch von Mendelssohn ausklingt, die über einen tackernden Disco-Beat gelegt sind, der aus irgendeinem harten Frühclub direkt bei der Kirche um die Ecke zu kommen scheint. Und obwohl Neil Tennant die Strophen von Wedding in Berlin wie ein Mantra in Selbsthypnose herunterbetet, „We’re getting married“, endet das Stück mit Glocken, deren Geläut bald in einem unheimlichen Soundbrei verebbt, der sich anhört, als hätte ihn jemand direkt und mit Tonspur vom Fernseher aus Twin Peaks abgefilmt.

Bei genauem Hinhören handelt es sich bei dem Hotspot betitelten Album um das vielleicht dunkelste Werk ihrer Karriere. Ob es am Genius Loci lag? Die Pet Shop Boys wohnen heute in Berlin und der Produzent Stuart Price ging mit ihnen ins berühmte Hansa-Studio in der Köthener Straße 38, aus dessen Fenster bereits David Bowie während der Aufnahmen seines unerreicht guten ersten Berlin-Albums auf die Mauer blickte. Das von Brian Eno aufgenommene Low, das ziemlich genau vor 43 Jahren im Januar 1977 erschien, ist ein zeitloses Stück Musik, so elitär und fremdartig wie der überlegene Blick von Bowie auf dem Cover. Wer nun Will O the Wisp hört, die Tanzhymne an das Irrlicht, mit der die Pet Shop Boys ihr Album eröffnen, wird bei der besungenen Sehnsuchtsfigur aus dem Lied, dem „handsome thing“ und „bright eyed eager chap“ mit der „battered leather cap“, vielleicht sogar an Bowie als Gigolo denken. Das Lied ist eine Ode an das Ausgehen, die Berliner Bahnlinie U1 als „party-train“, in dem man frühere Liebhaber wiedererkennt, die anscheinend inzwischen ein geregeltes Leben führen, aber als Versuchung immer noch weiter durch den Kopf irrlichtern. Und so melancholisch geht es auch weiter. Mit Vogelgezwitscher am frühen Morgen nach dem Ausgehen, dessen Echo von Häuserschluchten bei halb geöffnetem Fenster irgendwo in Berlin zurückgeworfen wird, beschwört die Ballade You are the one einen verlorenen Sommer der Liebe, draußen in Zehlendorf am See bei Kaffee und Kuchen und später nachts in den Kinos und Bars von Mitte. Als Resümee bleibt von all dem „loveydovey“ indes nur der Zweizeiler: „You are the one/I was the one.“ Und selbst die mäßig originell betitelten Happy People aus dem nächsten Stück, das ganz verhalten sphärisch anhebt und fast schon Kraftwerk zitiert, bevor es sich zu einem klassischen Disco-Stomper entfaltet, leben natürlich isoliert, weil sie umgeben sind von einer traurigen Welt. Obwohl sie es vielleicht schon gar nicht mehr merken, weil Neil in seinem an die West End Girls erinnernden Sprechgesang irgendwann konstatiert: „The soul was in the Hi-Hat“. Ob es ein gutes Omen ist, dass die unheimlich verzerrten Hochzeitsglocken schon dumpf am Ende der Happy People zu läuten beginnen, sei dahingestellt.

Freitagnacht. Allein daheim

Der bereits veröffentlichte Gassenhauer Dreamland, für das sich Neil Tennant vom Sänger der Band Years&Years, Olly Alexander, zum Duett in die höchsten Tonlagen herausfordern ließ, ist die verzweifelte Anrufung einer besseren Welt, die so weit weg ist, dass man sich ihr nur im Traum nähern kann. Ein Utopia, in dem alle frei und glücklich sein können, weil sie nicht nur ihre Sorgen, sondern auch alles andere hinter sich lassen, klingt freilich schon fast nach dem Jenseits. Das gibt dem entschiedenen Refrain „Dreamland, I love you“ zudem einen Hauch von Todessehnsucht. So heißt es auch am Schluss der in Moll gehaltenen Orgelfanfare: „Kiss me, hold me/ take my hand/ Sleep is a river/ that leads us to a better land.“ Wenn danach noch alles gut gehen soll, kann man nur noch auf ein Wunder hoffen. Und genau um die geht es im langsamsten und schönsten Stück des Albums. Der Held der in Moll traurig vor sich hin pulsierenden Modulation, die immer wieder Neils Stimme aus dem Off mit einem Vocoder verzerrt, hat nach einem vielversprechenden Start in Oxford nicht die erhoffte „miraculous career“ gemacht und hält als einsam Gescheiterter nur noch verrückte Monologe über die eigene Bedeutungslosigkeit auf einer Brücke im Nebel.

Immerhin schafft er es noch vor die Tür, anders als der verstörte Verweigerer in I don’t wanna, den keiner versteht, weil er schüchtern und voller Selbstzweifel zu Hause sitzt und selbst Freitagnacht nicht tanzen gehen will. Und obwohl sich der verkapselte „head in the cloud“ in einem kurzen Moment der Hoffnung auf Kontakt zur Außenwelt inspiriert von einem besonders guten Song dann fast aufraffen kann, bleibt er doch am Ende zu Hause. Macht auch nichts, wie der nächste selbst für die Pet Shop Boys extrem funky geratene Ausschnitt aus dem Nachtleben zeigt: Was da in der Regel noch rumhängt, sind großspurige Desperados auf der gelangweilten Suche nach Monkey Business, die nur die Tanzfläche auschecken wollen und sich dabei abwechselnd mit „Margaritas, Champagne and Red Wine“ abschießen. Dann doch lieber draußen bleiben, vor dem Club, und eine verschüchterte Seele beruhigen, die Angst vor der Dunkelheit hat. Wenn der einzige Trost der Finsternis ist, dass man nur vor ihrem Hintergrund die hellen Sterne scheinen sehen kann, dann muss diese wenig originelle Pointe schon als Höhepunkt der vor sich hin murmelnden und extrem unaufgeregten Meditation Only the Dark gelten.

Warum die nonchalant von Bernard Butler (vormals bei der Band Suede) an der Gitarre begleitete Herbstballade Burning the Heather als Single ausgekoppelt wurde, wird erst im Kontext des Albums deutlich. Das Stück handelt auf den ersten Blick von einem alten Mann, der irgendwo auf dem Land in einem Gasthof um ein Quartier für die Nacht bittet, kann aber auch ebenso gut als Metapher für die Situation des alternden Popstars gelesen werden: „You’ve got me all wrong/I’m not that guy/I’m just the singer of the song/in my mind‘s eye/If I thought what you think/I wouldn‘t even be here.“ Chris Lowe ist mittlerweile 60 und Neil Tennant ist 65 Jahre alt, der angespielte Topos des missverstandenen und vom Publikum entfremdeten Entertainers am Lebensabend bekommt hier eine fast an die Smiths reichende Ironie.

Wie Morrissey, der meinte, er würde schon eine Weile bleiben, wenn denn noch ein wenig Platz für seine Rückenbürste wäre, endet Neil Tennant hier ganz ähnlich: „There’s a few things I need/but I’ve money for paying/and if you’ve enough room/I’ll consider staying.“ Mit dem erstaunlich glatten Hotspot schließt sich eine von Produzent Stuart Price angelegte Trilogie, die 2013 mit dem eher sperrigen Electric begann und in deren Zentrum das grandiose Dance-Album Super mit der Rave-Hymne The Pop Kids steht. Bereits das verwischte neueste Cover aber nimmt Abschied von der grafischen Pop-Serie der Vorgänger und markiert eine Zäsur. Es weist direkt zurück auf das einzig andere unscharfe Porträt des Duos, das vor zwanzig Jahren in der New Yorker Metro von Alexei Hay fotografiert wurde. Es zierte 1999 das Album Nightlife. Im Englischen gibt es den schönen Begriff „going full circle“, und es wird beim Hören von Hotspot ziemlich schnell deutlich, dass sich hier ein Kreis schließt, den der Produzent Stuart Price, der bereits für Madonnas Confessions on a Dance Floor verantwortlich zeichnete, absichtlich so eingerichtet hat. Unter seiner Ägide sind die Pet Shop Boys wieder beim Elektro-Pop angekommen, mit dem sie berühmt wurden, markiert durch ihren vielleicht besten Song des Jahrzehnts, Vocal, und das Video dazu, in dem wir ravende Engländer in der „British countryside“ sehen, glücklich grinsend und unterlegt mit den Worten: „I like the people/I like the song/This is my kind of music/They play it all night long/I like the singer/He’s lonely and strange/Every track has a vocal/and that makes a change.“

Fade to Grey

Als Produzent hat sich Stuart Price mit dieser Trilogie einen Kindheitstraum verwirklicht, denn seine erste musikalische Erinnerung war ein Trauma: der Verlust eines Sony-Walkmans, den er mit Klebeband an seinem BMX-Rad befestigt hatte, damit er immer und überall die Pet Shop Boys hören konnte. Vielleicht ist es die Leere nach der Erfüllung eines großen Wunsches, die Hotspot seine mentale Grundfarbe eingeschrieben hat. Wie lautete noch die Devise, die der von den Pet Shop Boys und ihrem Produzenten bewunderte Steve Strange mit Visage ausgerufen hat? Fade to Grey.

Info

Hotspot Pet Shop Boys x2 2020

Eckhart Nickel ist Schriftsteller und Journalist. Für seinen Roman Hysteria (Piper Verlag 2018) erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis

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