„Wenn nicht jetzt, wann dann?“

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Die letzten Wochen haben es in das Bewusstsein vieler Europäer gehoben: In Italien ist einiges in Unordnung geraten. Der immer rascher aufeinanderfolgende Schlagabtausch zwischen Ministerpräsident Berlusconi und der Justiz ist die erkennbare Spitze eines Missbehagens, das tief geht und das ganze Land erfasst hat. Das Volk begehrt auf, heute: Zurzeit mehr als fünfzigtausend je in Rom, Mailand und Turin, Demos in hundert anderen Städten Italiens, in Brüssel, in Paris.

Symptom ist der „Fall Ruby“, wie Karima el-Mahroug genannt wird, einer exotischen Tänzerin, derentwegen Silvio Berlusconi sein Amt als Ministerpräsident missbraucht haben soll. So lautet der Vorwurf der Mailänder Staatsanwaltschaft, die den 74-jährigen deswegen und wegen Prostitution mit Minderjährigen auf schnellstem Weg vor dem Strafrichter anklagen will. Eine saftige Geschichte oder wie es die bekannte Autorin und Journalistin Petra Reski bezeichnet, ein Dramolett. Und die Italienexpertin fragt sich Ende Januar zurecht („Non capisco“), warum es in einem Augenblick wie diesem keine öffentlichen Proteste gebe.

Die Frage haben sich sehr viele gestellt, vor allem sehr viele Frauen. Sie geben darauf Antworten, mit immer stärkerem Wiederhall. Angefangen bei Jugendrichterin Annamaria Fiorillo. Deren Entscheidung, Ruby als Minderjährige ohne festen Wohnsitz nach einer Diebstahlsanzeige vergangenes Jahr nicht einfach laufen zu lassen, war durch die telefonische Intervention des Ministerpräsidenten konterkariert worden. Unbeeindruckt von Einschüchterungsversuchen von Innenminister Roberto Maroni erstattete sie Anzeige beim Consiglio Superiore della Magistratura, dem höchsten Selbstverwaltungsorgan der Richter und Staatsanwälte.

Ein anderes Gesicht ist das der Fernsehschauspielerin Lunetta Savino. In einem Interview mit der in Rom erscheinenden Tageszeitung Il Fatto Quotidiano sagt sie: „Man hat uns bezichtigt, moralsaure Hexen zu sein. [Die Wahrheit ist] Dass Frauen durch Politik lediglich ein Trostpflästerchen spendiert worden ist, sie sind zu wenige und nur in untergeordneter Rolle. Italien ist in den Händen von Männern, die auch noch alt sind.

Ideen, die wieder in Idealen Wurzeln schlagen

Es ist eine „Traurigkeit in einer Welt, in der Wünsche verlöschen“, Streben nur noch über möglichst kurze Schleichwege geht, die im Juli 2009 zur Gründung der Bewegung „di nuovo – libere“ (dt. etwa: Von Neuem – Frei) geführt hat. Mitinitiatorin Cristina Comencini: „Im Laufe der 60er und 70er Jahre haben wir uns Rechte erobert, die wir heute weder individuell noch kollektiv ausüben. Wir aber wollen bedeuten, in der Zuneigung, der Familie, der Gesellschaft und in der Politik, und wir wollen das als Frauen tun.“ Die Wirtschaftswissenschaftlerin, Schriftstellerin, dreifache Mutter und ausgezeichnete Filmregisseurin (u.a. Nominierung Ihres Films La Bestia nel Cuore nach eigener Romanvorlage als bester fremdsprachiger Film zum Oscar 2006) hat dafür zahlreiche Mitstreiterinnen gefunden. Sie benennen, ganz im Gegensatz zur offiziellen Politik, den Zustand des Landes nicht als einen moralischen, sondern als einen des fehlenden Selbstverständnisses. Und sie vernetzen sich, nicht zuletzt mit den Fähigkeiten einer Arianna Ciccone, Gründerin des Festivals des Journalismus in Perugia, über ihren Blog „Valigia blu“, die Kommunikation zu dem macht, was es sein sollte: Mit den Menschen sprechen, sie ansprechen.

Die politische Wirklichkeit Italiens, wo jede(r) mittlerweile die eigene Haut zu Markte trägt, mobilisiert deswegen alle. Die Jungen, weil sie von Massenarbeitslosigkeit und Prekariat betroffen sind; die Alten, weil die Mindestrente zu hoch zum sterben, zu niedrig zum leben ist; Wissenschaftler, weil sie nur existieren mit Seilschaften oder Zeitverträgen; die Arbeiter unter dem Diktat, sich beugen zu müssen oder der Arbeitgeber verschwindet ins Ausland. Der Ruf „Wenn nicht jetzt, wann dann“, der am heutigen Tag auf zahlreichen Plätzen in Städten Italiens und der Welt ein Echo finden wird, ist einer der Wiederbelebung und Rückeroberung. Auch des neuen Erlernens von vergessenen Fähigkeiten: Die eigene Meinung gerichtet zu artikulieren, sich zu solidarisieren, einzutreten für Überzeugungen. Wieder frei und ohne staatstragende Begreifer.

[Ergänzung, 20:00 Uhr: Videos, Photos und Berichte verlinkt auf La Repubblica unter www.repubblica.it/cronaca/2011/02/13/news/_se_non_ora_quando_cortei_in_tutti_italia_tutti_i_volti_delle_donne_in_piazza-12406192/ ]

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Geschrieben von

ed2murrow

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