Besuch in Ruinen

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(Aufgefasst und abgebissen: Worüber Italien in der 37. KW schweigt, weil es alltäglich ist und doch nicht)

Im Mahlstrom der Geschäftigkeit fühlt es nicht jeder wie Goethe, der zu Menschen und Natur Neapels sagte: „Zwischen einer so unzählbaren und rastlos bewegten Menge durchzugehen, ist gar merkwürdig und heilsam“. Otto Normalverbraucher dröhnt nach einer Weile der Kopf, ihm tun die Füße weh, weswegen er, je nach Klima und Witterung, ein Kaffeehaus, den Salon de Thé oder einen öffentlichen Park aufsucht.

Was liegt in Italien näher, als sich an einem Forum oder einem Circus unter einem Baum niederzulassen. Ohne gleich in den Ruinen herum klettern zu wollen. Wer käme auf den Gedanken, durch l’Aquila, der im vergangenen Jahr durch Erbeben völlig verwüsteten Landeshauptstadt der Abruzzen mit „Ah“ und „Oh“ zu turnen, obwohl die Stadt in ihrem jetzigen Zustand wenig von Pompeij oder Herculaneum unterscheidet; nur etwas schlechter erhalten. Stattdessen die Masse anonymer Gesichter, der der Überdruss gilt, gedanklich langsam in die leeren Straßen und Gebäude fließen zu lassen, so dass aus Artefakten lebendige Bühne wird. Um danach, nach dem Erkennen, dass Konsum- und Tempel sich nicht nur das Wort teilen oder dass Markthallen wahlweise als Macellum und Galeries Lafayette sich im Wesentlichen in ihrer Ausstattung mit elektrischem Strom unterschieden, die umtreibende Frage zu stellen: Warum sind das Ruinen?

Im antiken Pozzuoli bei Neapel, mitten in den Phlegräischen Feldern könnte man Antworten bekommen. Nicht nur, weil dort der Apostel Paulus als Gefangener den römischen betrat, sondern weil hier der Boden ganz besonders schwankt. Bradisismo nennt man das, bradyseismische Bewegung, ein schnelles Auf und Ab der Erdkruste wie am 28. September 1538 das nachberechnete Emporschnellen um mehr als sieben Meter. Oder zwischen 1982 und ’83 die 1,80 Meter, abzulesen am Muschelbewuchs der Säulen des Macellum, das immer noch offiziell als Tempel des Serapis ausgewiesen ist. Wenn Gebäude im Meer versinken und wieder emporsteigen, lassen Menschen alles stehen und liegen, das war in Antike und Mittelalter so und ist in der Moderne; als das neue Pozzuoli von den Bomben auf den Verkehrsknotenpunkt im zweiten Weltkrieg erschüttert wurde. Doch pulsiert immer wieder Leben auf, 83.000 Einwohner sind es zurzeit, und eher nicht grundsätzlich wie der Marquis de Sade beim Anblick von Neapel: „Die Zerstörung und das Chaos der Vulkane bringt die Seele dazu, die kriminelle Art der Natur nachzuahmen...‘Wir –sagte ich zu meinen Freundinnen- ähneln diesen Vulkanen und die tugendhaften Menschen der eintönigen und öden Ebene des Piemont‘.“

Natürlich kannte der morbide Adlige noch nicht die eigentliche Urkraft, die Plattentektonik. Seitdem das Fitzelchen Afrika sich Europa zuwandte und die Alpen auftürmt, ist Italien in Bewegung. Fünf Krustensegmente zerren am heutigen Staatsgefüge, so dass Erbeben nie eine Frage des Ob, sondern immer und überall eine Exklamation sind: Nicht schon wieder! Über 100 waren es alleine in den letzten drei Wochen, über das gesamte Land verteilt. Gleichwohl hat ENEL, der halbstaatliche Stromproduzent, 15 Standorte benannt, die für den Bau von Atomkraftwerken ab 2013 in Frage kommen; mit ihnen Zwischen- und ein Endlager sowie ein Institut zur Erforschung des Rückbaus von kerntechnischen Anlagen nebst Destinationdes Abrissmaterials. Wenn schon der Bürger, statt dort nur Obst und Gemüse zu pflanzen, an den Hängen des Vesuv sein Häuschen baut, warum sollte nicht sein Prinzipal in der gleichen Region Kampanien, in der Provinz Caserta Atomstrom produzieren?

Wer ungerecht sein will, negiert das Vorausschauende im Wesen der italienischen Politik, vor allem für den künftigen Tourismus: „Zur Rechten, meine Damen und Herren, sehen Sie die zwei Türme des Heiligtums. Wozu sie dienten, kann heute nicht mehr festgestellt werden. Wir wissen nur, dass sie mit Wasser gefüllt waren, weshalb die Archäologen vermuten, es handelt sich um Behältnisse für rituelle Waschungen. Das Heiligtum selbst steht etwas abseits und ist neuesten Erkenntnissen zufolge der Gottheit Enrico Fermi geweiht, die den Menschen ein besondere Form des Feuers (Chicago Pile N°1) gebracht haben soll. Der Glaube daran wurde hauptsächlich von einem Hohepriester namens Silvio Berlusconi verbreitet, hatte aber, so sagen es Historiker, nur kurze Dauer. Nach einer Katastrophe unbekannten Ursprungs ...“


[Ergänzung am 04. Oktober 2010: Bekanntlich übertrifft die Wirklichkeit die Phantasie, aber da zieht es einem die Schuhe aus. Die Besichtigung von Tschernobyl ist für Touristen möglich, Eintrittspreis pro Tag 122 Euro. „Am Eingang muss jeder Besucher unterschreiben, dass er die Regeln beachten wird, die eine Kontaminierung verhindern sollen: Kein Essen und Rauchen, kein Berühren von Gegenständen, kein Sitzen auf der Erde, kein Abstellen von Taschen. Die Besucher unterschreiben mit nervösem Lachenschreibt die SZ heute. Und dieser Blogger hat nicht mal abgekupfert]

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Geschrieben von

ed2murrow

e2m aka Marian Schraube "zurück zu den wurzeln", sagte das trüffelschwein, bevor es den schuss hörte

ed2murrow

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