Dancing Auschwitz

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Gestern Abend habe ich im Fernsehen Ausschnitte aus einem kleinen Film gesehen. I will survive – Dancing Auschwitz. Er sei umstritten, sagte die Nachrichtensprecherin der ZIB3 im österreichischen Fernsehen. Heute früh‘ habe ich nachgeschaut.

Den Film darf ich nicht sehen, weder auf youtube direkt, noch auf der Hompage von Jane Korman, die das Stück ins Netz gestellt hat. „Dieses Video ist aufgrund des Urheberanspruchs von APRA nicht mehr verfügbar“. An anderer Stelle heißt es, es sind die von SONY. Ich lese auf der englischen Seite der in Australien lebenden Tochter eines polnischen Juden, der ein deutsches KZ überlebt hat, in deutscher Sprache von in Deutschland geltenden Urheberrechten einer australischen Behörde und eines japanischen Konzerns, darunter ein Zitat:

Those who cannot remember the past are condemned to repeat it – George Santayana

Ich erinnere mich dunkel an das Lied von Gloria Gaynor, es hat mir nie gefallen. Hier ist es nicht deplatziert.

Gleichzeitig finde ich das Video, ohne irgendwelche Urheberrechtsansprüche beschnitten, von Menschen übernommen, die mit ihrer Sprache Alter und/oder Einstellung verraten: „jaja wolfsohn sowas ist abartig ger aber wenn kinder in palestina sterben dann ist es ok ausserdem kommt es mir so vor als ob die zionisten sich freuen würden das der holocaust passierte nur damit sie jerusalem kriegen und die länder von denn arabern klauen können der video ist der beweis sie tanzen ja schon mittlerweile vor auschwitz ist ja der hit in israel“ als Reaktion auf ein Interview mit Prof. Michael Wolffsohn: „Ich finde das Video geschmacklos. Die sogenannte Künstlerin kann den Verdacht nicht ausräumen, dass sie mit dem Video in Wahrheit nur Eigenwerbung betreiben will. So etwas tut man nicht auf Kosten von Ermordeten.“ Wer will, findet im Netz speziell in den Kommentarsträngen weitaus eindeutigere Interpretationen, in alle Richtungen.

Der Film wurde vor rund vier Wochen ins Netz gestellt, stelle ich fest. Das ist also die Vorlaufzeit dafür, dass ein weltweite Plattform für Plattitüden geschaffen wird, die sich vom Terror nährt. Terror an Adolek Kohn, der schlicht über sich und seine Tochter und seine Enkel sagt: „We are affirming our existence“ oder in einem anderen Video: „Du hast nicht wegen Deiner Cleverness oder Deiner Naivität überlebt, sondern aus Glück. Das ist alles. Nur aus Glück.“

Vor vielen Jahren führte Dario Fo seine Groteske „Gli imbianchini non hanno ricordi“ (Anstreicher haben keiner Erinnerungen) auf, in der eine Witwe vor der Renovierung ihrer Wohnung sagt: „…. Die Erinnerungen sind die einzige Freude, die uns an das Leben bindet ……. zumindest für mich ….. ich kann wirklich sagen, dass ich von Erinnerungen lebe …. Manchmal habe ich sogar Angst, die Fenster zu öffnen ..... ich habe Angst, dass etwas, das hier im Zimmer noch lebt, davon fliegt … für immer davon….. Deswegen öffne ich sie so wenig wie möglich.“

Ich glaube, Adolek Kohn und seine Familie, die es gibt, weil er überlebte, haben kräftig gelüftet. Die Frage stelle ich mir: Stirbt Goliardie mit den sog. Nachgeborenen aus?


Nachtrag am 13.09.2010:

In der heutigen Ausgabe widmet die SZ ihre Seite Drei Adolek Kohn, seiner Frau Marysia, deren Kindern, Enkeln, Urenkeln. Nicht nur Blickfang, sondern wie der befreiende Film „das Überleben mit Händen greifen“ ist das Titelphoto. Drei Generationen, die nicht, wie man hierzulande zu sagen pflegt, ein gemeinsames Kreuz tragen, sondern einen Stern; alt und jung, die gleichermaßen und jeder für sich wissend in die Welt schauen, dass ein Huhn, das Ei den Unterschied ausmacht; genauso den Unterschied wie das Winken an einer Rampe nach recht oder links; wissend, weil zwei überlebt haben und ihr Leben mitnehmen konnten, es weiterzugeben. Ein Bild der Menschlichkeit.

Die SZ sollte sich und uns allen einen Gefallen tun, den Artikel online zu stellen. Gratis, so wie „Dancing Auschwitz“ gratis zu sehen ist.

http://ed2murrow.files.wordpress.com/2010/09/dancin01.jpg

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Geschrieben von

ed2murrow

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