Nach vielen Jahren der Besuche in dem Land, wo der Pfeffer wächst, kommt es zunehmend vor, dass ich einen Umweg nehme. Das hängt nicht nur mit dem zeitweisen Landeverbot für dessen staatliche Fluggesellschaft Air Madagascar in Europa zusammen. Auch das Rückflugticket ist es, das mich zur Zwischenlandung auf La Réunion veranlasst. Selbst wenn es im Ergebnis wohl nicht viele Vorteile bringen würde, da es darum ginge, schnell die Zelte in einem politisch äußerst labilen Land abzubrechen – das Gefühl, nur 90 Flugminuten von Europa entfernt zu sein, hat doch etwas seltsam Beruhigendes. Und bringt, während des Aufenthaltes, genügend Zeit mit sich, mir die Frage zu stellen: Wo bin ich hier, eigentlich?
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Europa im Indischen Ozean?
Dass die 2.500 km² große Insel heute tatsächlich die östlichste Außengrenze der Europäischen Union ist -im bürokratischen Jargon der EU-Verträge ist sie ein Gebiet in äußerster Randlage-, nämlich als Département Nr. 974 Frankreichs, könnte ein Zufall genannt werden oder ein Zusammentreffen besonderer, vielleicht glücklicher Umstände. Aimé Césaire hat es in seinem Plädoyer bezeichnet als „das Ergebnis eines historischen Prozesses und die logische Folgerung einer Doktrin.“
Im Februar 1946 war das und Césaire gerade einmal 32 Jahre alt, aber bereits bekannter wie profilierter Autor der Négritude (Cahier d'un retour au pays natal, 1939). Und er saß für seine Heimat Martinique als Abgeordneter in der verfassunggebenden Nationalversammlung Frankreichs, die das Land vom Ausnahmezustand des Krieges in die Normalität zurückführen sollte. Ihm, dem Sprachgewaltigen, fiel die Aufgabe zu, vor dem Parlament die Causa der sogenannten „alten“ Kolonien Martinique, Réunion, Guadeloupe und französisch-Guyana zu vertreten. Flankiert von deren Vertretern, hauptsächlich Léopold Bissol, Gaston Monnerville und Raymond Vergés, trat Césaire nicht für eine staatliche Unabhängigkeit der Gebiete ein, sondern für die Transformierung ihres Status‘ als politische wie rechtliche Sondergebiete in die gleichberechtigter Départements Frankreichs.
Denn obwohl zunächst der Sklavenhandel und schließlich 1848 die Sklaverei selbst verboten worden waren: Der Hauptteil der kolonialen Bevölkerungen, die Freigelassenen („Affranchis“) und ihre Gebiete blieben nach wie vor einem Sonderrecht unterworfen, dem Code de l’Indigénat, dessen Anwendung zudem praktisch in das Belieben von in ihrer Machtfülle kaum begrenzten Gouverneuren gestellt war. Der Historiker Olivier Le Cour Grandmaison (De l'indigénat. Anatomie d'un "monstre" juridique, Paris 2010, online) weist diesem Ensemble aus Verwaltungsvorschriften, Erlassen und Direktiven die ausdrückliche Funktion zu, die betroffenen Menschen von den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der französischen Revolution auszuschließen. Es galt vielmehr, so Grandmaison, noch als Leitmotiv bis in die Algerien-Krise hinein der Grundsatz: „Das Gesetz darf nicht für alle gleich sein.“
Diese Handhabung war aber nicht nur konstitutiv für das, was sich als in der Verwaltungs- und Rechtstradition des Empire stehend verstand, sondern gleichzeitig eine alles durchdringende Haltung der Culture Coloniale, wie es Pascal Blanchard, Sandrine Lemaire und Nicolas Bancel (Culture coloniale en France de la Révolution francaise à nos jours, Paris 2008) nennen. In ihrer Einführung (online) beschreiben sie diese in Fleisch und Blut übergegangene Einstellung so: „Der Platz der kolonialen Domäne in unseren Institutionen, unserer politischen Kultur und unserer Vorstellungswelt ist nicht die ausschließliche Frucht einer staatlichen Propaganda, sondern das Ergebnis eines Bündels an Einflüssen, Überlieferungen und Interaktionen, deren Bedeutung erst heute begonnen wird, gemessen zu werden. … Die Exotische Literatur wie das koloniale Liedgut oder die Durchdringung der Schulen sind wesentliche Schnittstellen dieser Kultur.“
[wird fortgesetzt]
zuerst veröffentlicht bei die Ausrufer
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