Den Fluchtweg nicht geplant

sexuelle Nötigung Das Urteil des Landgerichts Essen, mit dem eine bewiesene Tat mit Freispruch endet und die Empörung beginnt

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Von Fällen zu sprechen, wenn es um menschliche Schicksale geht, ist unangemessen und trotzdem Gewohnheit. Vor allem bei Juristen.
„Es war nicht in einer schutzlosen Lage. Es hätte weglaufen oder Hilfe rufen können, aber es hat alles über sich ergehen lassen. Das reicht nicht, um jemanden zu bestrafen“.

Es, das Mädchen, nicht sie, die junge Frau von 15 und zum Zeitpunkt des Verfahrens vor dem Landgericht Essen 19 Jahre alt. „Es“ wurde nicht vergewaltigt, so die Sentenz einer Richterin vom vorigen Montag, und die Medien des Mainstreams stimmen ein. „Ein erschreckend korrektes Urteil“ (Spiegel-online), „Mädchen (15) war nicht in schutzloser Lage“ (BILD-online) oder der mutmaßlich meistgelesene BLawg Deutschlands von Udo Vetter („Ein unverständlicher, aber richtiger Freispruch“), der sich zu dem Satz versteigt: „Dass die 15-Jährige sagte, sie wolle das nicht, wird vom Gesetz gar nicht für wichtig gehalten. Das mag irritieren, ist aber so.“

Ganz und gar nicht. Denn nach wie vor steht über den einschlägigen Strafvorschriften im 13. Abschnitt als Überschrift „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“. Reden wir also über die Verletzte und ihr Selbst.

Als sie sich Ende Juli 2009 mit zwei weiteren Frauen in einem Raum der Wohnung des Täters befand, wurde sie in Teilen Zeugin, wie der Mann eine der beiden Frauen schwer verprügelte. Das brachte ihm später eine Haftstrafe von über 3 Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung ein.
Später kamen die beiden Frauen (eine von ihnen ist die Ehefrau des Täters) dessen Aufforderung widerspruchslos nach, die Wohnung zu verlassen. Aber nicht, weil -wie es der Pressespiegel des Landgerichts suggeriert- er allgemein wegen seiner Alkoholisierung und Drogensucht „wenn man seinen Aufforderungen nicht nachkam, sehr aggressiv reagierte“. Sondern weil er an diesem Abend bereits eine Straftat mit äußerster Brutalität begangen hatte, seine Enthemmung und Gewalttätigkeit kurz vorher unter Beweis gestellt hatte.
Hier fiel es dem Täter ein, sich noch einmal zu bedienen, bei der Verletzten, obwohl sie deutlich gesagt hatte: „Nein, ich will nicht.“ Das wird, anders als im Strafverfahren gegen einen bekannten Wettermoderator, von dem Täter nicht bestritten. Gleichwohl wird er frei gesprochen unter Hinweis darauf, dass die Verletzte sich nicht in einer schutzlosen Lage befunden habe.

Wann aber wäre eine ohnehin körperlich unterlegene junge Frau einem Mann schutzloser ausgeliefert, wenn dieser betrunken ist, unter Drogeneinwirkung steht und eine solche Atmosphäre von Gewalt, Angst und Schrecken verbreitet, dass er ohne Duldung von Widerworten seinen Willen auch mit äußerster Gewalt durchzusetzen vermag?

Eine Entwicklung am Gesetzgeber vorbei

So zumindest hatte es der Gesetzgeber 1997 gesehen. Er wollte mit der Strafvorschrift des § 177 Abs. I Nr. 3 StGB auch die Fälle erfassen, in denen „das Opfer starr vor Schrecken oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen läßt, ohne daß Gewalt ausgeübt oder zumindest konkludent mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gedroht wird“.
Daraus hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in rund 15 Jahren etwas ganz anderes gemacht. Schutzlos ausgeliefert sei nur, wer „über keine effektiven Schutz- oder Verteidigungsmöglichkeiten mehr verfügt und deshalb nötigender Gewalt des Täters ausgeliefert ist.“ Hiervon sei auszugehen, „wenn das Opfer bei objektiver ex-ante-Betrachtung keine Aussicht hat, sich den als mögliche Nötigungsmittel in Betracht zu ziehenden Gewalthandlungen des Täters zu widersetzen, sich seinem Zugriff durch Flucht zu entziehen oder fremde Hilfe zu erlangen.“

Was übersetzt bedeutet: Ist eine Frau mit einem Mann zusammen, hat sie von vorneherein mit dem Plan der Wohnung vertraut zu sein, sich zu versichern, wie und ob die Türen (nicht) abgeschlossen sind, welche und wie viele Menschen im Haus möglicherweise anwesend sind, bevor Sie wirkungsvoll zu ihm „Nein!“ sagen kann.

Diese Rechtsprechung ist dem Landgericht Essen bestens bekannt. Denn erst im März hatte der Bundesgerichtshof (Beschluss vom 20. März 2012, Az. 4 StR 561/11, via hrr-strafrecht.de -> online) eine anderslautende Entscheidung in einem vergleichbaren Fall aufgehoben und zur Neuverhandlung nach Essen zurückgeschickt. Begründung: Das Landgericht habe unzureichend die Fluchtmöglichkeiten des Opfers -einer Ehefrau- oder die Chancen lauten Schreiens geprüft und deswegen den -notorisch gewalttätigen- Ehemann zu Unrecht verurteilt. Man verstößt nicht zwei Mal hintereinander offen gegen Maximen des Höchstgerichts in Strafsachen.

Nur Empörung? Eine Generationenfrage

In rund 15 Jahren, so alt wie die Verletzte zum Zeitpunkt der Tat war, hat die Rechtsprechung Stück für Stück die sexuelle Nötigung ausgehöhlt, die „unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist“, begangen wird.
Jene „objektive ex-ante Betrachtung“, die es jeder Frau auferlegt, sich über Orte und Sachverhalte kundig zu machen, etwa stammt aus dem Jahr 2006 (BGH, Urteil vom 25. Januar 2006, Az. 2 StR 345/05, via hrr-strafrecht.de, -> online). Mit ihr ist wiederum eine veröffentlichte Rechtsmeinung gewachsen, die mindestens zynisch den Willen der Frau überhaupt für unmaßgeblich erachtet.
Es kann dahinstehen, ob die Interpretationen des Gesetzes durch die Rechtsprechung richtig sind oder ob das Gesetz selbst Strafbarkeitslücken aufweist. Oder ob nicht vielleicht doch die Rechtsprechung diese Strafbarkeitslücken erst selbst geschaffen hat. In diesem Sinne ist es lohnend festzustellen, dass der Bundesgerichtshof in Strafsachen in den fünf Senaten mit Männern und Frauen im Verhältnis 7 zu 1 besetzt ist. Im Großen Senat sind Frauen praktisch nur auf Stellvertreterposten bei Verhinderung ihrer männlichen Kollegen relegiert.

Die gültige Praxis selbst ist es, die als unerträglich empfunden wird. Sie ist unerträglich. Dafür stehen die zahllosen Tweets wie die von @SeeroiberJenny, @ClaravonHeidi oder @laprintemps. Oder Blogs wie tapferimnirgendwo aka @Buurmann, wo eine Autorin schreibt: „So wie es aussieht, werden in Zukunft wohl alle Frauen in dem Moment des sexuellen Übergriffs so lange auf die Täter einschlagen müssen, bis sie sich nicht mehr bewegen.“

Junge Frauen, die die Gesetzesdebatten 1997 natürlich nicht bewusst mit erlebt haben können, aber wie die Frauen, die es damals taten, sich fragen, in welcher Welt sie eigentlich leben. In der ein in jeder Hinsicht versiffter Mann Furcht und Schrecken verbreiten darf, um sich dann bequem bedienen zu können. Oder, um es mit dieser Rechtsanwendung zu sagen, die Frau selbst schuld ist, wenn sie nicht rechtzeitig die Flucht plant. Eine Wirklichkeit, die im Rechtsverkehr das „Nein!“ als rechtverbindliche Willenserklärung seit je her anerkennt, im intimsten aber die Schwerhörigkeit des Erklärungsempfängers fördert.

Diese Frauen schauen jetzt genauer hin. Und sie werden sich Gehör verschaffen; sie haben es bereits unter Beweis gestellt.e2m

[Der besseren Übersichtlichkeit geschuldet, hier die im Kommentar verstreuten Updates:

15.09.2012 15:29 Nach Medienberichten soll sich die Staatsanwaltschaft Essen nun doch entschlossen haben, gegen das Urteil in Revision vor den BGH zu gehen

16.09.2012 10:55 Thomas Stadler (Internet-Law) hat den Ball aufgenommen und weiter gereicht: „Der Gesetzgeber muss beim Tatbestand der Vergewaltigung dringend nachbessern“. Der dortige Link zur rechtlichen und politischen Lage gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ist empfehlenswert.
Die Präsidentin des Landgerichts Essen hatte in einer ersten Presseaussendung die Berichterstattung zu dem Urteil in das Reich der Kolportage verwiesen („Bei der Urteilsbegründung waren nach Erinnerung der Vorsitzenden weder Presse noch Zuschauer anwesend.“). In einer weiteren Stellungnahme stellt sie das richtig: „Tatsächlich waren jedoch zwei Pressevertreter und eine Zuschauerin bei der Urteilsverkündung zugegen. Ich bitte, das Versehen zu entschuldigen.“

18.09.2012 13:49 zu Überlegungen in Deutschland zur Zeit des in Bezug genommenen BGH-Urteils 2006 und der Rechtslage in Norwegen http://www.frauennotruf-leipzig.de/index.php?page=193641254&f=1&i=154197080&s=193641254

22.09.2012 Interview mit dem Opfer und dem Anwalt u.a. http://www.rtl.de/cms/news/punkt-12/15-jaehrige-hat-sich-nicht-genug-gewehrt-vergewaltiger-wird-freigesprochen-270cf-9851-19-1266538.html ]

zuerst veröffentlicht bei die Ausrufer

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Geschrieben von

ed2murrow

e2m aka Marian Schraube "zurück zu den wurzeln", sagte das trüffelschwein, bevor es den schuss hörte

ed2murrow

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