Der Lockvogel

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Lockvogel ist die freundlich klingende Übersetzung für den juristisch so genannten Agent provocateur. Im üblichen Ermittlungsumfeld eine meist anonym bleibende Person, ist es neuerdings etwas ganz Prominentes: Dank RTLII ist das gesamte Schwadron, gruppiert um Frau Stephanie zu Guttenberg vom Mitwisser zum potentiellen Mittäter geworden.

Die SZ berichtet in ihrer heutigen Online-Ausgabe („Caritas-Mitarbeiter verschwindet nach ‘Tatort-Internet‘-Folge“) darüber, dass der in einer Aussendung ausgefasste Leiter eines Kinderdorfes der Caritas nach seiner Entlassung am vergangenen Donnerstag spurlos verschwunden sei. Die Besonderheit dieser Nachricht: Die Folge war bereits im Mai aufgenommen worden, aber niemand bei RTLII hatte sich in den vergangenen fünf Monaten die Mühe gemacht, den Caritas-Verband zu informieren. Man muss fragen, wie das zusammen passt. Einerseits den „Tatort Internet“ reißerisch als Hort des Übels für Kinder zu stilisieren, um daraus „potentielle Täter“ in einer Reality-Show oder einer Scripted (doch nicht ganz) Reality vorzuführen. Andererseits die Parallelen im ganz realen, konkreten Leben zu einer künstlich herbeigeführten Situation vollständig zu ignorieren.

Die Hände in Unschuld gewaschen

Den „Kinderkanal“ RTLII zu befragen, hätte wenig Sinn. Er traktiert jeden Nachmittag die Kleinsten mit kriegerischen Cartoons aus Fernost unter Vermittlung so fragwürdiger Inhalte wie Ehrenkodizes von Samurai oder die Waffenfähigkeit von Ninjas, um auf Quote zu kommen. Alles andere als eine glattzüngige, gegebenenfalls Verständnis heischende Antwort wäre ein schieres Wunder. Interessanter wären Stellungsnahmen der Damen zu Guttenberg und Krafft-Schöning sowie des ehemaligen Polizeipräsidenten Udo Nagel: Wie stellen sie sich dazu, dass das moralisierende Konzept ihrer Sendung bereits jetzt, für alle sichtbar, am Ende ist?

Denn die subliminale Botschaft des Plots ist nicht etwa der Aufruf zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Medien, der vor allem von Erwachsenen so erlernt sein sollte, dass sie ihn ihren Kindern vermitteln könnten. Es ist vielmehr der Pranger („Schützt endlich unsere Kinder“), ein Schaut her, der Staat (und die staatlichen Sender) können das nicht, aber wir, wenn wir die Sache in die Hand nehmen. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Nach der Offenlegung der Umstände um betroffene Personen ist es an jenem Tatort Internet zu regelrechten Hetzjagden (vor allem bei Facebook und Twitter) gekommen, was netzpolitik.org vergangenen Dienstag zu der treffenden Frage veranlasste: „Nehmen die Veranwortlichen Lynchjustiz, oder zumindest die Zerstörung von Existenzen jenseits rechtsstaatlicher Strafverfahren billigend in Kauf?“ Lynchen aber hat mit Justiz rein gar nichts zu tun, es ist die Vollendung eines Aufrufs an die niedersten Instinkte: Sensationslust, Gerechtigkeitswahn, Mordlust.

Verführung zu einer anderen Wirklichkeit

Ob die Entfesselung solcher Kräfte das Anliegen ist, wird sich noch zeigen. Im Augenblick wiegt weitaus schwerer, dass zu Guttenberg & Co. bei aller Bemühung moralischer Rechtfertigungen ihres Treibens dem eigenen Anspruch selbst nicht genügen: Möglichen Gefahrenlagen vorzubeugen. Denn wer die potentielle Gefährlichkeit nicht nur einer Situation, sondern gar die einer Person in den Mittelpunkt der sog. virtuellen Welt stellt, müsste konsequenterweise die Erkenntnisse im Hier und Jetzt umsetzen. Von ihrem eigenen Standpunkt aus hätte das selbstgerechte Team aus Prominenz, ehemaligen Ordnungskräften und Journalisten also zumindest die Obliegenheit gehabt, den Zusammenhang zwischen potentiellem Kindesmissbrauch und dem möglichen Deliktsort eines Kinderdorfes herzustellen. Eine Informative hätte genügt. Diesen Schritt wollte man ersichtlich nicht tun, zum Bild der selbstlosen Kämpfer für die kindliche Unschuld passte das Image von Vollstreckern nicht. Die Aufgabe überlässt man vielmehr anderen, weltlicheren Händen und dem Zufall. Dies ist eine Instrumentalisierung nicht nur des Rechtsstaates, sondern der gesamten Bevölkerung hin auf eine fragwürdige und gefährliche Rezeption von dem, was Recht ist und Gerechtigkeit sein sollte.

Der Agent provocateur darf, so der Regelsatz hierzulande, viel wissen und ist verpflichtet, dieses Wissen weiter zu geben. An rechtswidrigen Taten darf er sich nicht beteiligen, da er keine Immunität genießt. Das sind klare Regeln, die oft genug übertreten werden. Alles verschwinden zu lassen unter dem ansprechenden Äußeren der Gattin eines deutschen Verteidigungsministers als Lockvogel, ist nicht Weiterentwicklung im Rechtsbewusstsein, sondern dessen Perversion. Absetzen! ist die einzige Antwort darauf.


[Aktualisierung 17.10., 19:30 Uhr: www.sueddeutsche.de/medien/tv-sendung-tatort-internet-ein-mann-taucht-ab-der-staatsanwalt-ermittelt-1.1012949]

[Aktualisierung 17.10, 20:00 Uhr: Der Träger des diesjährigen Publikumspreises im Grimme Online Award, der Fernsehkritik-Tv Blog hat sich nun auch für eine Abesetzung des Programms ausgesprochen, fernsehkritik.tv/blog/2010/10/stoppt-tatort-internet/]

[Aktualisierung 17.10., 21:30 Uhr: Leider jetzt erst entdeckt, die Genese zur Erkennungsjagd im Netz bei www.netzpolitik.org/2010/tatort-internet-zwischenstand-und-danksagung/]

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Geschrieben von

ed2murrow

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ed2murrow

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