Der Nahostkonflikt in der Mitte Europas – das Dokument

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wird auf vielen Ebenen ausgetragen. Der Sprach- sowie Argumentegebrauch sei beispielhaft dokumentiert anhand eines öffentlichen Schriftwechsels zwischen Umberto Eco (78, Semiotiker und Schriftsteller) und Gianni Vattimo (74, Schriftsteller und Politiker). Er beginnt mit einer „Bustina di Minerva“, der jahrzehntealten Glossenkolumne von Eco in der Wochenzeitschrift l’Espresso, in Deutschland bekannt unter dem Titel Streichholzbriefe. Sämtliche Texte sind von mir übersetzt; wer Fehler entdeckt, darf sie behalten. Dort, wo Begriffe/Namen/Umstände fremd sein könnten, habe ich zum Einstieg einen Link und/oder eine Fußnote gesetzt. Alle anderen Hervorhebungen entsprechen denen im Originaltext

in chronologischer Reihenfolge:

Sollen wir die israelischen Latinisten boykottieren? (Kolumne in l’Espresso)
von Umberto Eco

„Ich bin nicht mit meinem Freund Gianni Vattimo einverstanden, der den Appell unterschrieben hat, wonach „die israelischen Akademiker und Intellektuellen eine Unterstützerrolle gegenüber ihren Regierungen gespielt haben und spielen“.

(14. Mai 2010)

„Im Januar 2003 bedauerte ich in einem Streichholzbriefchen, dass die englische Zeitschrift „The Translator“, geführt von Mona Baker, geschätzte Kuratorin einer Encyclopedia of Translations Studies, entschieden hatte (um gegen die Politik von Sharon zu protestieren), die israelischen universitären Institutionen zu boykottieren und aus diesem Grund zwei israelische Wissenschaftler, die Mitglieder des Aufsichtsrates der Zeitschrift waren, aufforderte, zu demissionieren. Bekannt war, dass die beiden Wissenschaftler sich kritisch zur Politik ihrer Regierung geäußert hatten, was allerdings Mona Frank gleichgültig ließ.
Dabei merkte ich an, dass man unterscheiden müsse zwischen der Politik einer Regierung (oder sogar einer Verfassung eines Staates) und den kulturellen Gärvorgängen, die ein bestimmtes Land aufwühlen. Implizit stellte ich fest, dass es eine Form von Rassismus sei, alle Bürger eines Landes für die Politik ihrer Regierung verantwortlich zu halten. Zwischen denen, die sich so verhalten und jenen, die behaupten, man müsse alle Palästinenser bombardieren, weil einige von ihnen terroristische Attentate verüben, besteht kein Unterschied.
Nun ist in Turin ein Manifest der Italian Campaign for the Academic & Cultural Boycott of Israel vorgestellt worden, in dem, nach wie vor als Akt der Verurteilung der israelischen Regierungspolitik, behauptet wird, dass „die israelischen Universitäten, Akademiker und Intellektuellen in beinahe ihrer Gesamtheit eine Rolle der Unterstützung ihrer Regierungen gespielt haben und spielen und Komplizen derer Politik sind. Die israelischen Universitäten sind auch die Orte, in denen einige der wichtigsten Forschungsarbeiten zu militärischen Zwecken geleistet werden, zu neuen Waffen auf der Grundlage von Nanotechnologie und zu technologischen und psychologischen Systemen zur Kontrolle und Unterwerfung der Zivilbevölkerung.“
Folglich wird aufgefordert, sich jeder Beteiligung an akademischer und kultureller Kooperation oder an verbundenen Projekten israelischer Institutionen zu enthalten und einen globalen Boykott der israelischen Instiutionen auf nationaler und internationaler Ebene zu unterstützen einschließlich der Einstellung aller Formen von Finanzierung oder Unterhalt an diese Institutionen.
Ich teile keinesfalls die Linie der israelischen Regierungspolitik, und mit großem Interesse habe ich das Manifest zahlreicher europäischer Juden (JCall) gegen die Ausweitung israelischer Siedlungen gelesen (was zusammen mit der Polemik, die das Manifest provoziert hat, zeigt, wie lebendig die Dialektik um diese Probleme doch in der jüdischen Welt ist, innerhalb und außerhalb Israels). Aber ich finde es verlogen, zu behaupten. dass „die israelischen Akademiker und Intellektuellen in beinahe ihrer Gesamtheit eine Rolle der Unterstützung ihrer Regierungen gespielt haben und spielen“, weil wir alle wissen, wie viele israelische Intellektuelle zu diesen Themen polemisiert haben und polemisieren.
Sollen wir auf einem Philosophenkongress jeden Chinesen ausschließen, weil die Regierung in Peking Zensur über Google ausübt?
Ich könnte es verstehen, und darum von dem peinlichen israelischen Argument fortzukommen, wenn die Abteilung für Physik der Universität in Rom oder Oxford bei der Nachricht, die Abteilung für Physik der Universität Teherang oder Pyongyang würden aktiv am Bau der Atombombe dieser Länder mitwirken, es vorzögen, jede institutionelle Beziehung zu jenen Forschungseinrichtungen zu unterbrechen. Was ich aber nicht verstehe, ist, warum man die Beziehungen zu den Abteilungen für koreanische Kunstgeschichte oder für antike persische Literatur abbrechen sollte.
Ich sehe, dass an der Vorstellung des neuen Boykottaufrufs auch mein Freund Gianni Vattimo teilgenommen hat. Nehmen wir also einmal an, so absurd es auch ist, dass sich im Ausland das Gerücht verbreite, die Regierung Berlusconi würde gegen das heilige demokratische Prinzip der Gewaltenteilung verstoßen, indem sie die Richterschaft entlegitimiert und sich der Unterstützung einer dezidiert rassistischen und xenophoben Partei versichert. Würde es Vattimo, der sich im Streit mit dieser Regierung befindet, gefallen, nicht mehr von amerikanischen Universitäten als Visiting Professor eingeladen zu werden oder dass besondere Komitees zur Wahrung des Rechts für die Entfernung all seiner Publikationen aus u.s.-amerikanischen Bibliotheken sorgten? Ich denke, dass er umgehend das Unrecht anprangern und behaupten würde, das solches Tun dem gleich käme, alle Juden der Gottestötung zu zeihen, nur weil das Synedrium an jenem heiligen Freitag schlecht gelaunt war.
Es ist nicht wahr, dass alle Rumänen Vergewaltiger, alle Priester pädophil und alle Kenner von Heidegger Nazis sind. Und deswegen darf keine politische Position, keine Polemik gegen eine Regierung dazu führen, ein Volk und eine Kultur in ihrer Gesamtheit in Mitleidenschaft zu führen. Und das gilt insbesondere für die Republik des Wissens, wo die Solidarität zwischen Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftsteller der ganzen Welt immer der Weg gewesen ist, jenseits sämtlicher Grenzen die Menschenrechte verteidigen.“

Antwort von Gianni Vattimo im Kommentarbereich von l’Espresso, 19.Mai 2010 um 16:04 Uhr (zweiter Teil im Original hier)

„Ich bin froh, dass Eco nicht die Linie der israelischen Regierungspolitik „teilt“ (was das erst gäbe) – sie vom israelischen Staat zu unterscheiden, ist formal korrekt, aber historisch inhaltlos: Seitdem er existiert, hat der israelische Staat immer eine expansionistische Politik und oft eine solche des Genozids verfolgt. Auch ich kenne jüdische Intellektuelle, auch solche aus Israel, die gegen ihre Regierung opponieren, begonnen bei Chomsky und dann Ilan Pappe, Norman Finkelstein. Aber wie viele italienische Intellektuelle, Juden oder nicht, haben eine klare Stellung gegen das Blutbad in Gaza von vor zwei Jahren bezogen? Ich glaube, dass an dem Tag, an dem Berlusconi Nizza und Savoien flächig bombardieren würde, weil es historisch unser Land sei (es gibt zwar kein Grab von Rachel, schon klar; aber Mythos für Mythos …), die Bürger anderer Länder das gute Recht hätten, auf ihn Druck auszuüben, indem sie die Akademiker, die Wissenschaftler und die Vertreter einer Kultur isolieren, die so neutral sie auch sein mag immer noch eine Form von Werbung für das Land -Staat oder Regierung- ist; von dem auch Eco selbst stammt und sich weigerte, wenn ich mich nicht irre, vor einiger Zeit nach Frankreich zu gehen, um die italienische Kultur auf einer Veranstaltung zu repräsentieren, die die Regierung Berlusconi angeregt hatte. Auch sind das überwiegend symbolische Gesten, mit denen die Probleme einem breiteren Publikum vorgestellt werden sollen. Außerdem können Latinisten und Archäologen bestens per Videokonferenz kommunizieren oder sich Briefe schreiben. Es wäre einschneidender, wenn die gemeinsamen Arbeiten in den harten Wissenschaften verlangsamt oder unterbrochen würden. Aber da wissen wir, dass sie überwiegend auf militärische Zwecke gerichtet sind, von denen die menschliche Kultur und die Republik des geschriebenen Wortes, an die Eco noch so sehr zu glauben scheint, sich nichts anderes als weitere Zerstörungen erwarten können …“

Erwiderung von Umberto Eco, ebenda, 19. Mai 2010, 21:48 Uhr(1)

„Lieber Gianni Vattimo, Leidenschaft ist eine schöne Sache, hilft aber nicht immer beim Gebrauch der Vernunft. Natürlich, wenn es so wäre, wie Du es sagst, dass Berlusconi Nizza bombardierte, dann wäre das von ihm nicht nett; damit aber der Vergleich etwas weniger aus der Luft gegriffen wirkt, müsste es so sein, dass von Nizza schon lange Zeit Raketen und terroristische Infiltrationen ausgegangen sein müssten und dass in Paris eine Bewegung säße, deren Ziel die Zerstörung Italiens wäre und damit die Vertreibung oder Eliminierung der Italiener, um nicht von all den anderen Zuständen zu sprechen (tausendjährige Präsenz, Diaspora, friedliche Rückkehr), die das Bild stimmiger und weniger zum Instrument Deiner Überlegung machen würden und die hier fehlen. [Der andere Punkt, der der Nichtteilnahme an der kulturellen Veranstaltung, ist noch befremdlicher. Ich verteidige gerade das Recht jedes einzelnen, sich zu einem bestimmten Tun entscheiden zu dürfen, so wie es dort möglich war. Wenn die Dinge Deiner Logik gemäß ablaufen würden, hätten sich die Franzosen weigern müssen, die Veranstaltung abzuhalten, noch bevor sie eine Einladung an mögliche italienische Gäste abgelehnt hätten, selbst wenn diese in Gegnerschaft zu Berlusconi gestanden hätten. Wie Du siehst, sind das derart grobschlächtige Vergleiche, dass sie nicht einmal mit Stützgerüst halten. Es geht schon in Ordnung, dass Du der Champion des schwachen Gedankens bist, aber so … Was die anderen fröhlichen Kommentatoren betrifft, die kreuz und quer sogar Popper zitieren nur um sagen zu können, dass Israel schlimmer sei als Nazideutschland, erwarte ich mir, dass sie zumindest ihr Domizil in Casa Pound(2) aufgeschlagen haben. Und dass die Allokutionen gegen das Haus von Satan nur noch eine Sache von Minuten sein werden.]“

Offener Brief von Vattimo an Eco, undatiert, aber lt. Autor vor dem 27. Mai 2010 abgesandt, gleichzeitig als Kommentarfolge bei l’Espresso unter dem Datum 29. Mai 2010 erschienen

„Lieber Umberto, Deine letzte Antwort auf l’Espresso überrascht mich und damit untertreibe ich. Ich fühle mich wie jemand, dem der falsche Gebrauch eines Konjunktivs in einer Diskussion um die Prügelei in der Diaz(3) zum Vorwurf gemacht wird -wobei ich verstehe, wie wichtig für Dich als Semiotiker Worte und Syntax sind. Den Fehler habe ich begangen, als ich die grotesken Hypothesen über die Bombardierung Nizzas aufstellte, aber den noch größeren begehst Du beim daran Festhalten. Die wesentliche Frage war: Welche italienischen Intellektuellen Deines Kalibers oder, entschuldige, kaum darunter, haben sich öffentlich zum Massaker von Gaza positioniert? Und jetzt, wie viele sind es, die wegen Chomsky protestieren, der an der Grenze aufgehalten worden ist? Auch Deine (freundschaftliche, Danke) Reaktion auf meine Beteiligung am Boykott ist für mich ein Zeichen, dass es in der italienischen Kultur -noch viel mehr als in anderen Ländern wie Großbritannien, Frankreich (siehe beispielsweise die Position von Morin), sogar in den Vereinigten Staaten (Judith Butler, Chomsky)- es Grenzpfosten gibt, für „vernunftbegabte“ Personen unüberwindbar (aus deren Kreis Du mich gerade deswegen ausschließt, über das schwache Denken hinaus) und mehr oder weniger so beschaffen wie die, die Zweifel über das große schwarze Loch in der Mauer des Pentagon, durch das am 11. September ein ganzes Passagierflugzeug gepasst haben soll, verhindern, weil es unvernünftig sei. Ach ja?
Meine Freunde von der Boykottkampagne haben ein Flugblatt vorbereitet, auch das in aller Freundschaft, das sie am 20. Mai bei Gelegenheit Deines Besuches in Alessandria verteilen wollen. Dort wirst Du an viele Aspekte des Problems erinnert, das Du zu ignorieren scheinst oder nur in die Klammern (siehe das Ende Deines Stücks) einer Anklage des Antisemitismus, casa Pound etc. herunter brichst. Seitdem es existiert, hat Israel nicht einen Tag lang aufgehört, mit Waffengewalt auf Kosten Palästinas zu expandieren, sämtliche Beschlüsse der UNO missachtend (obwohl es ihr seine Geburt als Staat verdankt). Seit je her benutzt es dabei Waffen, die von internationalen Konventionen geächtet sind, Waffen die es nicht fertig hergestellt gekauft, sondern selbst entwickelt hat und zwar mit Hilfe seiner Wissenschaftler und seiner Universitäten. Auf die Raketen der Palästinenser hat es immer mit Massakern als Repressalie geantwortet und dabei ganze Stadtviertel eingeebnet, von wo aus die Raketen kamen (hast Du Dir je die Proportion zwischen den israelischen und den palästinensischen Toten überlegt? Weitaus schlimmer als die Dezimierung durch die Nazis in den Ardeatine). Es hat Vorschläge „für Frieden“ gemacht, die provokant absurd sind (denk an die Aufteilung des Territoriums, der einen Palästinenserstaat „in Scheiben“ vorsähe, mit ständigen Passierposten und nun die Mauer). In Gaza versucht es, das Palästinenserproblem auf seine Weise mit einem veritablen Genozid zu lösen, in dem alle Versorgungswege für Nahrung, Medikamente, Trinkwasser geschlossen und alle Arbeitsmöglichkeiten, beginnend bei der Fischerei, unterbunden werden. Der Kehrreim der zwei Völker und der zwei Staaten wird nun seit Jahrzehnten gesungen, ohne je Wirklichkeit werden zu können und nur die Zeit verschaffend für eine immer deutlich werdende Ausrottung.
Wollen wir über Vernunft sprechen? Ist es vernünftig, jeden, der von diesen Umständen bewegt wird, des Antisemitismus‘ anzuklagen (nach casa Pound, nach casa Pound)? Antisemiten wären die vielen antizionistischen Juden, die ihre jüdische Religiosität gerade von dieser Machtpolitik bedroht fühlen? Ich glaube, es ist wahrscheinlicher, dass sie sich wie heute viele Katholiken fühlen, die versucht sind, nicht mehr in Jesus Christus zu glauben, wenn nicht der Vatikan verschwindet. Ahmadinejad droht Israel mit Vernichtung? Ja glaubt denn da wirklich jemand daran? Wo liegt denn das Risiko, dass sich der Holocaust wiederholt?
Niemand von uns Antizionisten (ist gleich Antisemit, Napolitano dixit) denkt auch nur im Traum daran, auf die Leugner zu hören. Aber sollte nicht der Respekt gegenüber der Erinnerung an die Toten von Auschwitz gerade Israel dazu veranlassen, deren Martyrium nicht zur Rechtfertigung einer völkermordenden Politik zu benutzen, die in Ermangelung noch weniger hoch fliegender Motive nur noch von einem (biblischen?) Bedürfnis nach Rache getrieben zu sein scheint?
Gianni Vattimo“

Konjunktive und Prügel, Kolumne in l‘Espresso
von Umberto Eco

„Vattimo halte ich nicht vor, Konjunktive falsch zu benutzen. Aber wenn man für die Fehler Einzelner eine ganze Kategorie oder ein Volk verurteilt, dann ist man vielleicht kein Antisemit, aber ganz sicher ein Rassist.“

(28. Mai 2010)

„Vor fünfzehn Tagen habe ich gegen eine Einladung zum Boykott der akademischen Institutionen und der Intellektuellen in Israel protestiert, die auch von meinem Freund Gianni Vattimo unterzeichnet worden war. Dabei stellte ich nicht Frage, dass man gegenüber der israelischen Regierungspolitik anderer Meinung sein kann, sondern sagte, dass man nicht behaupten könne, wie es aber der Appell getan hat, dass „die israelischen Akademiker und Intellektuellen in beinahe ihrer Gesamtheit eine Rolle der Unterstützung ihrer Regierungen gespielt haben und spielen“. Wir alle wissen, wie zahlreich die israelischen Intellektuellen sind, die zu diesen Themen polemisieren.
Nun erhalte ich einen freundlichen Brief von Vattimo und zeitgleich auch andere Mitteilungen von Lesern, die seine Ideen teilen. Vattimo schreibt: „Ich fühle mich wie jemand, dem der falsche Gebrauch eines Konjunktivs in einer Diskussion um die Prügelei in der Diaz zum Vorwurf gemacht wird -wobei ich verstehe, wie wichtig für Dich als Semiotiker Worte und Syntax sind … Die wesentliche Frage war: Welche italienischen Intellektuellen Deines Kalibers oder, entschuldige, kaum darunter, haben sich öffentlich zum Massaker von Gaza positioniert? Und jetzt, wie viele sind es, die wegen Chomsky protestieren, der an der Grenze aufgehalten worden ist?“.
Allerdings hielt ich Vattimo nicht einen falschen Gebrauch des Konjunktivs im Zusammenhang mit der Prügelei in der Diaz vor, sondern dass er zur Revanche alle italienischen Polizisten verprügeln würde. Ein Gedanke, so stelle ich mir vor, der von jeder Person mit Verstand zurückgewiesen werden sollte. Wenn man für die Fehler eines Einzelnen eine ganze Kategorie oder ein ganzes Volk verurteilt, ist man vielleicht keinen Antisemit aber ganz sicher ein Rassist. Die grundlegende Frage, von der er spricht, war nicht, warum man nicht von Gaza spricht (ein grausamer Vorgang) oder das verabscheuungswürdige Transitverbot gegen Chomsky (der sich im Übrigen gegen den Boykott ausgesprochen hat). Die wesentliche Frage betraf den Boykott.
Alle Briefe, die ich erhalten habe, bemühten sich, mir sämtliche Argumente gegen die israelische Regierungspolitik aufzuzählen und vergaßen dabei, dass ich selbst gesagt hatte, sie nicht zu teilen. Aber mein Artikel fragte danach, ob auf der Grundlage der Ablehnung der Politik einer Regierung man den Bannstrahl der internationalen intellektuellen Gemeinschaft auf alle Forscher, Wissenschaftler, Schriftsteller des Landes lenken kann, wo diese Regierung regiert.
Es scheint so, als würden die mir Widersprechenden keinen Unterschied zwischen beiden Problemen sehen. So z.B. Vattimo, der, um zu unterstreichen, dass in der Idee des Boykotts zwar Antizionismus aber kein Antisemitismus enthalten sei, mir schreibt: „Antisemiten wären die vielen antizionistischen Juden, die ihre jüdische Religiosität gerade von dieser Machtpolitik bedroht fühlen?“. Aber genau das ist doch der Punkt. Würde man zugeben, und es wäre schwer, es nicht zu tun, dass es so viele Juden gibt (und man achte darauf, auch in Israel), die die Machtpolitik ihrer Regierung ablehnen, warum also einen globalen Boykott ausrufen, der auch sie mit einschließt?
Dieser Tage gibt es zwei schlechte Nachrichten. Die eine ist die, dass in Schulen der israelischen extremistisch Religiösen die Tragödien von Sophokles, „Anna Karenina“, die Werke von Bashevis Singer und der letzte Roman von Amos Oz verboten worden sind. Das hat nichts mit der Regierung zu tun, das sind die lokalen Taliban, und wir wissen, dass es Taliban überall gibt (es gab sogar katholische Taliban, die Machiavelli auf den Index setzten). Warum aber (zweite schlechte Nachricht) haben sich die Turiner Boykotteure bei ihren Protesten wie Taliban verhalten, weil man den Preis des Salone del Libro an Oz verleihen wollte, was dann trotzdem geschah? Also, Amos Oz ist in Mea Sherim (dem Viertel der Fundamentalisten in Jerusalem) unerwünscht und gleichzeitig will man ihn nicht in Turin (dem Schweißtuch zugeheiligte Stadt). Wo sollte dieser herumirrende Jude dann hin?
Vattimo besteht darauf, dass Antizionist nicht gleichbedeutend ist mit Antisemit. Das glaube ich ihm. Denn ich weiß ganz genau, dass er mit seiner Bemerkung von vor zwei Jahren, wonach er nahe dran gewesen sei, den „Protokollen der Weisen von Sion“ zu glauben, nur einen jener provokanten Sprüche von sich gegeben hat, mit denen er sich auszeichnet – weil keine Person, die ihren Geist beisammen hat und gut ausgebildet ist, die „Protokolle“ lesen kann und dabei glauben, dass diese Gesamtheit an Selbstanzeigen, die sich auch noch untereinander widersprechen, ein authentisches Werk sei (und dass die Weisen Ältesten von Sion solche Deppen hätten sein können). Aber Vattimo wird auch gemerkt haben, dass es im Internet, neben den Seiten auf denen das Bonmot verurteilt wird, auch ganz viele Seiten gibt, die sich dabei ins Fäustchen lachen. Jeder extremistische Spruch ist geeignet, doch noch die Zustimmung der Unvernünftigen zu stimulieren.
Aber Vattimo (und wie ich ihn verstehe) kann einfach nicht auf solche Bemerkungen verzichten und schließt also mit: „Ahmadinejad droht Israel mit Vernichtung? Ja glaubt denn da wirklich jemand daran“. Nun, ich werde vielleicht sentimental sein, aber vor einem Typen, der eine Nation vom Angesicht der Welt verschwinden lassen will, fürchte ich mich schon ein wenig. Aus denselben Gründen, weswegen ich mir um die Zukunft der Palästinenser Sorgen mache.“

Antwort von Gianni Vattimo im Kommentarbereich von l’Espresso vom 29. Mai 2010 um 19:57 Uhr

„Mir ist klar, dass der Brief, den ich an Eco geschrieben und an ihn persönlich übersandt habe und von dem ich hoffte, er würde im Espresso erscheinen, aus verschiedenen „technischen“ Missverständnissen heraus nicht veröffentlicht wurde, für die ich verantwortlich bin (und nicht der Mossad!). Es tut mir also leid, dass die Leser des Espresso auf Papier (ich bin einer von ihnen) ihn nicht haben lesen können mit der Folge, dass diese letzte Antwort von Eco (das Briefchen in dieser Ausgabe) ihnen nur teilweise zugänglich sein wird. Trotz meiner schwachen Informatikfähigkeiten werde ich versuchen, den Brief bei Espresso online zu posten (wie auch auf meinem Blog, giannivattimo.blogspot.com/ , wo der gesamte Schriftwechsel hoffentlich bald erscheinen wird), so dass man ihn wenigstens post-factum et scriptum einsehen wird können. Gerne hätte ich allerdings, dass die Leser der Papierausgabe wenigstens davon Kenntnis erlangten, dass Eco ziemlich übereilt das liest, was Chomsky zum Boykott sagt: Wie man dem Interview bei Haaretz entnehmen kann (auf Englisch auf deren Seite im Netz), sagt Chomsky, dass es ihm sinnlos erscheint, Israel zu boykottieren und man dagegen die USA boykottieren sollte. Eine kleine Ergänzung zum Briefchen wäre nicht schlecht! Gianni Vattimo“

(1) Es besteht die Quellenunsicherheit darin, dass im Blog von Vattimo ein längerer Text (nämlich einschließlich dessen, was in […] steht) unter einem anderen Datum (19. Mai 2010, 21:48 Uhr) veröffentlicht ist als in den Kommentaren bei l’Espresso, wo ihm ein Datum vom 30. Mai zugewiesen wird; aus eigener Anschauung kann die Version von Vattimo bestätigt werden und wird demgemäß so veröffentlicht.
(2) Casa Pound ist ein im Zentrum Roms gelegenes Gebäude und bekannteste Basis von Neofaschisten, die bei der Namensgebung an den amerikanischen Dichter Ezra Pound dachten. Der Stern widmete 2009 der Szene eine Fotoreportage, die nicht mehr online ist. Ähnliche Bilder sind in l’Espresso einsehbar. Eine recht gut Einschätzung findet man hier.
(3) Am 21. Juli 2001, anlässlich des G8-Gipfels in Genua, überfiel die italienische Polizei junge Menschen und akkreditierte Journalisten, die friedlich in der von der Stadt dem Genova Social Forum zur Verfügung gestellten öffentlichen Schule (scuola) Diaz schliefen. Dafür und für den Versuch der Vertuschung des Übergriffs (Falschaussage, Herstellung falscher Beweismittel wie ein angeblich in der Schule gefundenes Molotov-Cocktail) wurden im Mai dieses Jahres 25 der 27 Angeklagten in der von der Staatsanwaltschaft angestrengten Berufung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, darunter praktisch der gesamte Führungsstab der Kriminalpolizei. Sie sind sämtlich nicht suspendiert, da, so Innenminister Maroni, bis zum Abschluss der Revision noch immer die Unschuldsvermutung gelte. Der Gebrauch des Konjunktivs, ob es einen Übergriff gegeben haben könnte, findet hier seinen sarkastischen Übergang.

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Geschrieben von

ed2murrow

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ed2murrow

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