Die ehrenwerte Gesellschaft des Mülls

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(Aufgefasst und abgebissen, worüber Italien in der 38. KW schreibt und Deutschland beredet schweigt)

Als Patrick Süskind („Das Parfum“) seinen Grenouille 1738 am „allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs“ zwischen Fischresten und Fäkalien auf der Straße zur Welt kommen ließ, nahm er sich keine künstlerische Freiheit. Es roch atemraubend, sinnabstumpfend in dem Paris, das noch mehr als hundert Jahre auf seine große Kanalisation warten musste und überhaupt auf ein Konzept von Hygiene im öffentlichen Raum. Was für ein Paradoxon erscheint da die jüngste Beschreibung Neapels durch Roberto Saviano („Gomorrha“): „Die Märkte in den Stadtvierteln bauen ihre Stände auf dem Müll auf, der am Vortag nicht eingesammelt worden ist, und die Menschen laufen bei ihren Einkäufen durch Unrat.“

Vom Sichtbaren und Unsichtbaren

Neun Monate, nachdem Ministerpräsident Silvio Berlusconi am 31. Dezember 2009 die Beendigung des Müllnotstandes in Kampanien und deren Hauptstadt triumphal verkündet hat, mehr als zwei Jahre nachdem sein Vorgänger Romano Prodi die Müllwaggons Richtung Deutschland als „Züge der Schande“ bezeichnet hatte. Die Region erlebt dieser Tage alles wieder und noch einmal. Saviano sagt: „Neapel versucht erneut, mit Taschentüchern auf der Nase den Dreck zu ertragen, wenn der Gestank zu arg ist, weil die Hitze die Müllsäcke zum gären bringt. Inzwischen tun die Leute meist so, als ob nichts wäre. Im Stillen hoffen sie nur, dass die Berge nicht wie beim letzten Mal bis zur ersten Etage reichen werden.“ Die Gründe, die zu dem führen, sind hier nicht zu wiederholen. Sie sind bekannt und lassen sich zusammenfassen als das Wirken der ehrenwerten Gesellschaften in Politik und Camorra, die sich geschwisterlich die jährlichen 780 Millionen Euro für die Müllbeseitigung alleine am Fuß des Vesuvs teilen.

Es lohnte sich hingegen, den Worten Savianos eigenes Gewicht zu verleihen. „Inzwischen tun die Leute meist so, als ob nichts wäre“ ist der gleiche Befund, den Carmen Butta in „Dreckige Geschäfte“ feststellt. Ganze Ortsteile, die auf geheimnisvolle Weise unheilbar erkranken, Familien, deren Angehörige nacheinander wegsterben, bis wenigstens einer sich die Frage stellt: Warum? Und entdeckt, dass die sichtbaren Berge aus Unrat ihrerseits nur Kulisse sind für Giftmüll, der darunter gemischt ist, von dem ablenkt, was das eigentliche Geschäft ausmacht. Er kommt nicht nur aus Mestre bei Venedig oder aus Turin, sondern aus all den Teilen Europas, wo zeitgemäße Verarbeitung teuer ist. Die nun seit einer Generation dauernde Bewirtschaftung der Region als größte Müllhalde Europas hat Neapel zu einer Stadt gemacht, deren Luft und Ausdünstungen atemraubend sind, sinnabstumpfend, die Menschen schicksalsergeben macht statt zornig. Wollte man dort wirklich Kinder groß ziehen, die etwas anderes würden, als ein Grenouille?

Deutschland einig Müllland

Dem leistet Deutschland Vorschub. Nicht etwa nur mit den 1.500 Tonnen Abfall täglich aus Italien, der dort einfach nicht mehr versteckt werden kann und mit der Expedition ins Ausland den Anschein erweckt, es sei doch alles unter Kontrolle. Die effiziente Reduzierung von Abfall zu Asche zieht vielmehr auswärtige Reste an wie ein Haufen Dung die Fliegen: 11 Millionen Tonnen nicht zustimmungsbedürftiger und 7,6 Millionen zustimmungsbedürftiger Abfall per 2009 weist das Umweltbundesamt als Import aus, und man verlässt sich bei dieser Unterscheidung zwischen giftig und nicht ganz so giftig auf schlichte Begleitformulare. Mit der Folge, dass noch mehr Verbrennungsanlagen gebaut werden sollen, nach der Schließung der Deponien hierzulande auch zunehmend als Stromerzeuger. Die scheinbare Perfektion der vollmundig „Kreislaufwirtschaft“ genannten Resteverwertung ist auf ganz eigene Weise atemraubend und hat stumpfsinnig gemacht.

Denn niemand fragt danach, wie es denn sein könne, dass in einer jener Deponien, die sich Asse nennt, statt angenommener 1.300 nun doch 16.100 Abfallbehälter mit radioaktivem Material vorgefunden wurden; Sie sind, im Behördendeutsch, nur undeklariert. Noch einen Tick härter wird es demnächst, sollte die Ausscheidung und Verpressung von Kohlendioxid (Carbon Capture and Storage, CCS) vor allem aus Kohlekraftwerken und Verbrennungsanlagen Schule machen. Wo die Einlagerung von Atommüll nach mehr als 40 Jahren Forschungsarbeit erst einmal die Risiken realisiert hat, ohne auf eine Lösung zu kommen, soll die unterirdische Einlagerung des Giftgases Kohlendioxid nach einer Pilotphase von nicht einmal zwei Jahren bereits Realität werden. So als ob es etwa das Massaker am Nyos-See in Kamerun, wo durch eine Kohledioxideruption nach einer seismischen Bewegung 1.700 Menschen getötet wurden, nie gegeben hätte.

Eine neue Seenlandschaft

Mit CCS würde wirklich großes Geld bewegt werden. Denn die Technik und das Tempo seiner Durchsetzung korreliert mit dem Emissionsrechtehandel in der EU, der 2013 in die entscheidende letzte Phase tritt: Nur das, was an die Luft abgegeben wird, ist in diesem Sinn bilanziell nachteilig und muss in zwei Jahren per Auktion teuer als Recht erworben werden. Alleine die Tatsache , dass die Verpressung forciert wird, obwohl im günstigsten Fall die Lagerstätten für 50 Jahre ausreichen, zeigt, dass nicht die Umweltschonung, also eine menschenfreundliche Entsorgung toxischer Reste, sondern ein kurzfristiges betriebswirtschaftliches Ergebnis gewollt ist. Eine neue unterirdische Landschaft an Giftgasseen, über die ganze Republik verteilt, entsteht. Die Notion von Hygiene im öffentlichen Raum bekommt eine neue Nuance, nach Erdoberfläche und Luft und Bergwerken: Gehörte nicht auch das Erdinnere, dort wo kein Mensch, sondern nur seine Maschinen hinkommen, dazu?

Die ehrenwerten Gesellschaften des Abfalls sind sich nicht nur in Neapel einig, sie agieren kollusiv beim Giftgas. So wie sich der Neapolitaner an die sichtbaren Zeichen seiner Rückentwicklung gewöhnt hat, so dass er tut, als sei nichts, so sehr ist auch der Deutsche gefangen: Nach mehr als 30 Jahren erfolglosem Kampf gegen den Atommüll wird er bei seiner Ehre gepackt – erfolgreich sein in der Umwelttechnologie. Die beiden Nationalitäten reichen sich die Hände. In ihrer Abgestumpftheit.

Ergänzung 28.09.2010, 09:20: "San Gennaro, hilf!" von Andrea Bachstein, SZ

(Anm.: Da es mir nicht gelungen ist, den Film "Dreckige Geschäfte" einzubetten, sei auf den obigen Link verwiesen)

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Geschrieben von

ed2murrow

e2m aka Marian Schraube "zurück zu den wurzeln", sagte das trüffelschwein, bevor es den schuss hörte

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