Bereits unmittelbar nach Schließung der Wahllokale am Sonntag um 15.00 Uhr gab es eine Nachwahlumfrage. Und die exit-polls zeigten eine ziemlich deutliche Marschrichtung: Komfortable Mehrheit für die linke Wahlplattform unter Federführung des Partito Democratico (Demokratische Partei, PD) mit ihrem Kandidaten Pier Luigi Bersani. Der Rest würde nur noch eine Randnotiz sein. Die ersten online-Zeitungen, auch in Deutschland, begannen sich auf das Szenario einzurichten.
Es ist alles anders gekommen. Denn der überwältigende Sieger der Parlamentswahlen ist nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis die erst 2009 als Partei eingeschriebene „MoVimento 5 Stelle“ (M5S) des Entertainers und Schauspielers Beppe Grillo. Die 5-Sterne-Bewegung hat für die Abgeordnetenkammer 8.688.545 Stimmen erhalten, erst danach positionieren sich die Sozialdemokraten des PD mit 8.642.700 und der Popolo della Libertà (Volk der Freiheit, PdL) mit 7.332.121 Stimmen. Beinahe gleiches Ergebnis für den Senat, wo der Partito Democratico 8,4 Millionen Stimmen gegen 7,28 des M5S und 6,8 des PdL erhalten hat.
Beppe Grillo wird dennoch in absehbarer Zeit nicht mit einer Regierungsbildung beauftragt werden, dafür sorgt die Arithmetik des seit 2005 geltenden Wahlgesetzes. Bevorzugt werden dabei die Parteien, die sich bereits in den Wahllisten zu Koalitionen zusammengefunden haben. Die derart privilegierten Plattformen gleichen nicht nur die individuellen Schwächen der Koalitionäre aus, sondern garantieren derjenigen mit einer relativen Stimmenmehrheit eine stabile Mehrheit in der Abgeordnetenkammer, mindestens 340 von 630 Sitzen.
Hier ist die Demokratische Partei abgestürzt. Ihr Ergebnis sind rund 4 Millionen Stimmen weniger als in der voraufgegangenen Parlamentswahl 2008, das sind 25,4% zu 33,18%. In der Hinsicht wird sie nur von PdL und Lega Nord (Liga Nord für Padanien) unterboten, die auf jeweils 21,6 (2008: 37,38%) und 4,1 (8,3) verloren haben. Zwischen den beiden verlierenden Plattformen aber hat sich im Ergebnis nur ein hauchdünner Vorsprung von rund 120.000 Stimmen ergeben (29,5 zu 29,1%), der auch die 5-Sterne-Bewegung (25,5%) aussticht.
Was eine stabile Mehrheit suggeriert, ist dagegen im Senat, der zweiten parlamentarischen Kammer, völlig offen. Denn dort wird der „Preis für die Gewinner“ jeweils auf die Sieger bei den regionalen Stimmenanteilen verteilt. Mit dem Ergebnis, dass die populistische Plattform des Silvio Berlusconi zwar insgesamt weniger Stimmen (9.405.786, 30,7%; 2008: ~ 47,2%) hat als die sozialdemokratische (9.686.398, 31,6%; 2008: ~ 38%). Nachdem sie aber in 7 der größten Regionen (u.a. Lombardei, Piemont, Venetien, Kampanien) gewonnen hat, will es die Arithmetik des Wahlgesetzes, dass sie im Senat über 116 Sitze verfügen wird gegenüber 113 der sozialdemokratischen Koalition und 54 des MoVimento. Zwar sind zu den Sitzen der Sozialdemokraten noch 6 für die Regionen Südtirol und 1 für Valle d’Aosta hinzuzurechnen, da in diesen autonomen Regionen die jeweils stärksten Parteien als Koalitionäre des PD aufgetreten sind. Die erforderliche Mehrheit von 158 Sitzen ist damit aber nicht erreicht.
Selbst das von Mario Monti eingefahrene Ergebnis, dessen Verhandlungen mit Pier Luigi Bersani vor der Wahl gewisse Übereinstimmungen erkennen ließen, reicht nicht aus. Seine bürgerliche Wahlplattform hat insgesamt nur 18 Sitze (8,1%) errungen, so dass rechnerisch selbst bei engster Zusammenarbeit noch 20 Sitze fehlen.
Ein Reservoir punktueller Zusammenarbeit für die Sozialdemokraten, die Italia die Valori (Italien der Werte, IdV) ist dagegen völlig ausgefallen. Nachdem sich deren bisher bekanntestes Gesicht, der ehemalige Staatsanwalt Antonio di Pietro zurückgezogen und das Feld seinem Kollegen Antonio Ingroia überlassen hat (Rivoluzione Civile, Zivile Revolution), ist diese Kraft verschwunden. Ingroia hat in beiden Kammern das Quorum nicht erreicht.
In einem System des beinahe perfekten Bikameralismus hat der Italienische Senat bei praktisch allen Gesetzesvorhaben volles Mitwirkungs- und Stimmrecht, so dass die Regierungsbildung in jedem Fall auch die dortigen Mehrheitsverhältnisse zu berücksichtigen hat.
Beppe Grillo hat bereits vor der Wahl jede Form der Zusammenarbeit mit den beiden Lagern von Pier Luigi Bersani und Silvio Berlusconi kategorisch ausgeschlossen. In der Nacht auf heute hat er diese Position noch einmal bekräftigt.
Die italienischen Medien titeln demgemäß von „Italia ingovernabile“ (Italien unregierbar, La Repubblica und Il Fatto Quotidiano), „Senato, non c’è maggioranza“ (Senat: keine Mehrheit, Corriere della Sera), „Caos al Senato“ (Chaos im Senat, Avanti). e2m
[Quelle der Zahlen per 26.02.2013, 09:00 Uhr:
Innenministerium der Italienischen Republik
Auswertungen der Tageszeitung La Repubblica für Abgeordnetenkammer und Senat]
update 27.02.2013, 13:00 Uhr - Der Tagesspiegel berichtet, dass sich die Stimmenzahl für den Partito Democratico erhöht hat, nachdem die Auslandsstimmen ausgewertet worden sind. Das entspricht auf der Grundlage der Mitteilungen des Italienischen Innenministeriums den Tatsachen. Damit ist der Partito Democratico um rund 150.000 Stimmen auch die stärkste Einzelpartei in der Abgeordnetenkammer. Am Kräfteverhältnis ändert sich dadurch nichts. e2m
Kommentare 11
... wow - die Italiener gehen ja noch immer relativ zahlreich zur Wahl! (fast 80% - lese ich das richtig?)
ups - nein gut 75 %.... - das waren ja historische Zahlen davor... - doch immer noch relativ gut.
Den Blog kannst du, in diesem Falle positiv, durchaus dpa oder Reuters anbieten, gegen Honorar natürlich.
Kurz, knackig, informativ.
Die Onlinedienste waren mir nicht wirklich behilflich, das Chaos zu erklären oder mir verständlich zu machen...
Auslandsitaliener erhalten ihre Wahlunterlagen per Post inclusive einem ausreichend frankierten Rücksendeumschlag, der die Adresse der italienischen Botschaft trägt. Allein in Europa wählen so ca. 2 Millionen Italiener, die nicht in Italien leben, ihre Wahlunterlagen. Vorbei sind die schönen Zeiten, die einen verpflichteten zur Stimmabgabe die Heimat oder die italienische Botschaft persönlich aufzusuchen und dazu einen Ausweiss vorzulegen. Interessant wäre es genau nachzuprüfen wieviele Stimmen der Auslandsitaliener für den gelifteten Oberclown B. abgegeben worden sind (Immerhin insgesamt 7 Sitze in den Parlament und Senat nur von in Europa lebenden Auslandsitalienern). So braucht er keine I-Pods oder andere Geldgeschenke für einen Stimmenkauf zu machen. Er muss die Wahlzettel nur fotokopieren und eintüten. Saubere Sache, da sie ja anonym eingesandt werden. Bella Italia! Banana Republic.
Hallo D.om,
erinnert mich ganz stark an die hiesigen Wahlen,
mehr Infos bitte
(Nein, ich lebe nicht in Deutschland!)
Gruss
"Ausland" ist nach dem Wahlrecht von 2005 fiktiv zu einer Einheit geworden, die den Regionen (wie eine eigene Region) als Wahlberzirk praktisch gleichgestellt ist. Deren Gewichtung (nachdem entdeckt wurde, dass es auf einzelne Stimmen im Senat ankommen könnte) wurde wiederum aufgeteilt in "Europa", "Nordamerika", "Mittel- und Südamerika", "Afrika, Asien, Ozeanien Antarktis" aka Rest der Welt.
zu den für "Italiener im Ausland" reservierten Sitze: 12 in der Abgeordnetenkammer und 6 im Senat. vgl. http://www1.interno.gov.it/mininterno/export/sites/default/it/temi/elezioni/sottotema006.html
So, Ed2Murrow, jetzt nicht vom Stuhl fallen:
Immerhin hat die Conad nicht Berlusconikreuzchen gegen Magnetstreifenguthaben eingetauscht, einzulösen wenn Handy - Foto mit Wahlzettel und dazugehörigen Kreuzchen beim Fillialleiter vorgezeigt werden.
Aufgeflogen ist die Sache übrigens, weil es Spontandemos gab, da auf den Magnetstreifen nicht, wie versprochen, 30 € Guthaben waren sondern nur 3€, DIREKT nach der Wahlnacht...
Ein Radioreporter sachte da nur trocken "Wenn ihr schon euer Kreuzchen verkauft, lasst es euch VORHER in Naturalien bezahlen"...
Undenkbar in Italien und Deutschland, oder ist uns was durch die Lappen gegangen?
Uebrigens habe ich mal einen deutschen "internationalen Wahlbeobachter" kennengelernt, der war so HOHL, der hätte dir nicht mal den Unterschied zwischen den Grünen und der FDP erklären können.
Gruss
Angesichts des epidemischen Stimmenkaufs in Regionen wie Kampanien oder Kalabrien oder Sizilien, jeweils zugunsten der 'Ndrangheta oder Cupola oder Clan, was sollte mich da vom Stuhl hauen? Oder meinen Sie tatsächlich, in vollem Ernst, dass das Versprechen vom Erhalt bestimmter Arbeitsplätze in Bochum, München oder Hintertupfing vorm Wald etwas im Wesen anderes sei? Immerhin garantieren Mafia et al. Beschäftigung, wenn auch zu zuweilen skurrilen Konditionen.
:-))))