Die Wiederentdeckung der Tendenz (2)

Medienkritik "Lügenpresse" ist nicht nur ein ideologisches Schlagwort. Gleiches sollte für "Fake News" gelten. Notizen eines Lesers

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Wird das Publikum näher befragt, was mit "Lüge" gemeint ist, so sind es nicht so sehr das Auseinanderfallen von Geschehen und Nachricht, also das Faktische, sondern ganz überwiegend die Positionierung, mithin die Meinung, die als nicht passend zurückgewiesen wird. Die überwiegende Übereinstimmung der online-Inhalte von arrivierten Medien in der Verurteilung von rassistischen, sexistischen bis misogynen und völkischen Inhalten gegenüber sogenannten neurechten Bekundungen, Demonstrationen und Publikationen hat eine klare, eigentlich: trotzige Abwehrreaktion hervorgerufen. Sie sind seit 2015 aus den Beiträgen von lügenpresse.de

Eingebetteter Medieninhalt


genauso ersichtlich wie in der 1:1-Gesprächssituation, die Dunja Hayali für das MoMa hergestellt hat:


Dazu zählt, dass zahlreiche Journalisten oder Medientreibende von dieser Seite zunehmend ebenso dezidierte Meinungen zunehmend aggressiv vertreten. Das sind nicht nur die sieben Kanäle, die die Plattform correctiv.org in der Artikelserie "Futter für die AfD-Wähler" abgehandelt hat. Die nur noch als befremdlich zu bezeichnende Beschränkung auf Deutschland statt der Erweiterung mindestens auf den deutschen Sprachraum verhindert den Blick darauf, dass selbstverständlich in diese Reihe unzensuriert.at genauso gehört wie gruppe42 oder die Aula.

Genauso selbstverständlich gehört Roland "Tichys Einblick" dazu, nicht zuletzt mit dem sich selbst ebenfalls als "Systemkritiker" neu erfindenden Wolfgang Herles. Oder "Die Achse des Guten", deren Autoren ihrer Selbstbeschreibung gemäß "Kante und Biss und keine Angst [haben], falsch zu liegen". Angereichert um Namen wie Matthias Matussek, Willy Wimmer, Michael Jeannée oder Nicolaus Fest durchbrechen sie alle gratis und allgegenwärtig im Netz verfügbar die Nachrichten- und Meinungsverknappung arrivierter Medien im gleichen, dem politischen online-Segment: Dafür radikal, schmissig, emotional steigernd, stets gratis.

Hier noch mehr "Watchdogs" zu installieren (in Frankreich z.B. Les décodeurs, für den deutschsprachigen Raum etwa auch Mimikama), würde eine seltsame Umkehrung bewirken: Maßgeblich würde genau die "Korrektur", die die Agenda dieser neuen, dezidiert parteilichen Akteure bilden; es wäre eine reine Spiegelfechterei, bei denen "die zu Korrigierenden" Themen und Schlagzahl vorgeben würden. Im Gegensatz dazu ist die Pluralität von Medien das Leitbild der Pressefreiheit, wie sie das Grundgesetz in Artikel 5 Absatz 1 voraussetzt.

Dazu gehört aber auch die Selbstverständlichkeit, dass Medien stets sogenannte Tendenzbetriebe sind. Selbst wenn der Begriff aus der Mode gekommen sein mag: Ihnen ist wesensimmanent, dass sowohl die Auswahl der Nachrichten wie deren Einordnung im Rahmen von Meinungsäußerungen unzweifelhaft einen subjektiven Einschlag haben. Das drückt sich u.a. auch in der Maßgabe aus, dass Redakteure als "Tendenzträger" angesehen werden und zu ihrer Einstellung die Tendenzbedingtheit eine tatsächliche Vermutung besteht. Es gibt Gründe, warum Jasper von Altenbockum bei der FAZ ist und Katrin Gottschalk bei der taz. Auch wenn Jakob Augstein sich in seinen jüngsten Äußerungen der Plattform Planet Interview gegenüber weigert, von Blattlinien zu sprechen ("Viele Zeitungen vertreten nicht das Interesse ihrer Leser"): Die von ihm genannten "Charakter und Identität einer Zeitung" sind jedenfalls eine treffende Umschreibung für "Tendenz".

Deren Nichterkennbarkeit war schon vor der Digitalisierung im Kern angelegt. In dem von Wolfgang R. Langenbucher 1980 herausgegebenen Band "Journalismus & Journalismus" finden sich gleich zwei pointierte kritische Stimmen dazu. Auf der einen Seite Dagobert Lindlau, der "falsche Objektivität" als "kapitalistischen Realismus" bezeichnete - "Wichtigstes Kennzeichen: Die routinemäßige Entfernung von einer berichtenswerten Realität durch Selektion, Glättung und Anpassung an die erlaubten Stereotypen". Nebenbei bemerkt: Bereits im Oktober 1958 räsonierte Edward R. Murrow in Richtung des damaligen noch relativ "neuen" Massenmediums TV in den USA - "I would like television to produce some itching pills rather than this endless outpouring of tranquilizers. It can be done. Maybe it won't be, but it could."

Noch wichtiger aber erscheint mir die Intervention von Herbert Riehl-Heyse, ebenda im Gespräch mit Petra E. Dorsch ("Objektivität durch Subjektivität?", S. 100f.): "Ich glaube überhaupt nicht, dass die öffentliche Aufgabe der Tageszeitung zwangsläufig an die so genannte Objektivität gebunden ist – im Gegenteil, wenn ich diese Aufgabe der Presse recht verstehe, so besteht sie in verschiedenen Funktionen: Informations-, Artikulations-, Kontroll-Funktion. Alle drei würden von einer Zeitung, deren oberstes Prinzip die Herstellung völliger Objektivität wäre, nicht erfüllt und zwar vor allem deshalb, weil sie dem Leser vormacht, dass es die chemisch reine Objektivität gäbe, dass die Welt genauso funktioniere, wie sie in solchen Zeitungen erscheint als Nachricht."

Riehl-Heyse war sich sicher, "dass die vorsätzliche Subjektivität des Beschreibenden für den Leser hilfreicher und ehrlicher ist. Hilfreicher, weil er auf diese Weise Dinge erfahren kann, die in einer 'objektiven' Nachricht schon aus lauter Vorsicht nicht unterzubringen wären, ehrlicher, weil der Autor erst gar nicht den Eindruck zu vermitteln versucht, er schreibe die einzig wahre, gültige Geschichte über diesen oder jenen politischen, kulturellen, gesellschaftlichen Vorgang. Ideal wäre es in diesem Sinne, wenn der Leser am Schluss des Artikels genau wüsste, dass er nichts anderes gelesen hat, als die ganz persönliche Sicht eines bestimmten Schreibers, und dass er es trotzdem nützlich fand, sich gerade mit dieser Sicht auseinanderzusetzen."

(Ende Teil 2)

(Teil 1)-(Teil 2)-(Teil 3)-(Teil 4)-(Teil 5)




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Geschrieben von

ed2murrow

e2m aka Marian Schraube "zurück zu den wurzeln", sagte das trüffelschwein, bevor es den schuss hörte

ed2murrow

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